Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Minoritäten

Ein desperater Elsässer hat dem Generalstaatsanwalt Fachot, den die Anhänger der Autonomie für eine Art juristischen Holofernes halten, ein paar Kugeln in den Leib geschossen. Solche Gewaltakte pflegen das Schicksal einer bedrängten Minderheit nicht freundlicher zu machen. Wir wünschen aufrichtig, die französische Regierung möge bessere Nerven zeigen als die erregten Provinzler, die aus einem tief innewohnenden, ziemlich irrationalen Obstruktionsdrange so lange demonstriert haben, bis endlich ein Revolver losging. Die französische Administration hat in dem wiedergewonnenen Lande grobe Fehler begangen und die Einwohner enttäuscht. Doch diese selbst sind daran nicht ganz unschuldig, denn ihr zäher Widerstand gegen das kaiserliche Deutschland und ihr Überschwang vor zehn Jahren mußten allerdings in Paris die Illusion erwecken, es wären dem Lande ein paar Hunderttausend exemplarischer Franzosen hinzugewonnen worden. Was wäre, wenn das Elsaß etwa wieder an Deutschland zurückfiele? Wäre dann wirklich alles in Ordnung? Wir halten jede Wette, daß dann die Bewegung mit andern Vorzeichen – und wahrscheinlich auch den gleichen Führern – weiterginge.

Der Mann, der den strengen Prokurator Fachot niedergeschossen hat, heißt Benoit. Ein guter französischer Name. Käme sein Träger heute als politischer Flüchtling nach Deutschland, die Behörden würden diesen Namen beschnuppern und nicht wohlriechend finden, und der Mann würde hin und her gestoßen werden, seine Gesinnung würde die Hochmögenden nicht hindern, ihn als Französling zu behandeln.

Herr Stresemann hat neulich in Genf recht großartig angekündigt, daß er demnächst die ganze Minoritätenfrage aufs Tapet bringen wolle. Auch diese Suppe wird wohl schließlich lauwarm gegessen werden. Man kann nicht, wie Herr Stresemann, eine sittliche Forderung einfach aus dem Grunde aufnehmen, weil man sich gegiftet hat. Das Ethos der Verärgerung hat überall seinen Kredit verloren. Deutschland und das ihm in dieser Frage verbündete Ungarn sind nicht die geeigneten Apostel, schon darum nicht, weil sie selbst die Muster aufgestellt haben, nach denen die Mächte arbeiten, die ihre Erben geworden sind.

Es heißt indessen der staatsmännischen Phantasie der Siegermächte kein schönes Zeugnis ausstellen, daß ihnen für die Behandlung ihrer neuerworbenen Bürger nichts besseres eingefallen ist als die Kopie jener Methoden, die Deutschland und das Habsburgerreich in der ganzen Welt verrufen gemacht haben. So empfinden die Befreiten fast überall neue Ketten, und wenn man ihre Klagen hört, glaubt man, daß diese viel drückender sind als die alten. Das ist wahrscheinlich nicht der Fall, aber schon die Imitation vergangener Unzulänglichkeiten ist betrübend genug. Die Sukzession hätte sich nicht auf Polizeidummheiten erstrecken dürfen.

Bei uns und in Ungarn wird jetzt am lebhaftesten über die Bedrückung der verlorenen Landeskinder gejammert. Ungarns Legitimation muß kurz und grob zurückgewiesen werden. Glücklich jeder Magyar, den der Zufall eines Friedensvertrages einem andern Staat zugesprochen hat. Er ist wenigstens vor Horthys Galgen sicher. Die budapester Clique ist denn auch klug genug, für den internationalen Komplimenteaustausch den steinalten Apponyi herumzuschicken, der viel vertrauenerweckender aussieht als Heijas oder Pronay, die für den vaterländischen Innendienst reserviert bleiben, aber Ungarns Regierende viel naturalistischer repräsentieren würden als der moralinströmende Ehrengreis, der Kahl des Völkerbundes. Doch auch in Deutschland wird über die Leiden der verlorenen Volksgenossen am meisten von denen geweint, die Horthys und Mussolinis innenpolitische Methoden bewundern und nachahmen möchten. Aber was tut unsre Außenpolitik, um den großen moralpolitischen Vorstoß ihres Herrn und Meisters würdig vorzubereiten? Sie behält gegen Polen die schärfste Tonart bei, obgleich sie damit nicht das Los der Deutschen in Ost-Oberschlesien mildert. Sie begeht die gleiche Sünde an den Elsässern; denn nur die äußerste Indifferenz Deutschlands an den Ereignissen um die Vogesen ist geeignet, die französische Nervosität zu beschwichtigen. Sie brüskiert als Advokatin baltischer Großgrundbesitzer das kleine Estland, das für seine Nationalitätenfragen die ideale Lösung gefunden hat. Sie hat einen spitzen Ton gegen die Tschecho-Slowakei, die ganz gewiß den endgültigen Akkord mit ihren nationalen Minderheiten noch nicht gefunden hat, die aber schließlich schon deutsche Kabinettsminister hat, was wahrhaftig kein Zeichen eines Kampfes bis aufs Messer ist, ein Eindruck, den die Berichte vieler unsrer Blätter aus Prag erwecken. Wie will also Herr Stresemann die Minoritätenfrage aufrollen? Wer wird sein Verbündeter sein, wenn die Staaten beleidigt beiseite stehen, die sich ein moralisches Recht zum Mitreden erworben haben?

Die Leiden vieler nationaler Minoritäten sind unverkennbar, aber die Diplomaten werden nicht viel bessern. Denn für die Diplomatie bedeuten sie immer nur Kompensationsobjekte für irgend etwas. Wenn es zum Beispiel Mussolini heute oder morgen gefiele, sich energisch für eine deutsche Aufrüstung einzusetzen, wäre in der deutschen Presse zum letzten Mal von Südtirol die Rede gewesen. Menschliches Unglück ist immer wieder grade zum Protestieren gut genug gewesen. Die Berufspolitiker sind von jeher Händler gewesen: in ihren Parteiversammlungen berichten sie triumphierend, wie gut sich die Entrüstung bezahlt gemacht hat – wo nichts zu holen ist, bleibt die Empörung privat. Nicht von der Außenpolitik kann hier das rettende Wort kommen, sondern nur von der innenpolitischen Vernunft. Solange die Staaten ihren Bürgern ein Gesinnungsklischee aufzwingen, so lange werden sie auch schlaflos liegen, wenn nicht alle dieselbe Sprache reden. Darum geht der Kampf; er geht gegen die wahnwitzige Überschätzung der Staatsideologien, die in Moskau ebenso nistet wie in Washington, Rom oder Berlin, nicht für die kleine Borniertheit nationaler Minoritäten, die sich heftig überschätzen, wenn sie ihre bescheidenen Telltragödien aufführen. In Genf hielt der polnische Außenminister Herrn Stresemann vor, daß die deutsch-polnischen Industriellen mit Zwangsmaßnahmen gegen ihre Arbeiter vorgingen, wenn sie ihre Kinder nicht in deutsche Schulen schickten. Es gibt eben auch innerhalb der nationalen Minoritäten sozial Schwache, die doppelt schlimm dran sind, und die von ihren besitzenden Mitunterdrückten noch besonders unterdrückt werden, wenn sie dem gemeinsamen Feind nicht heroisch genug begegnen. Den großen Unternehmern wird kein Staat den Schnabel verbieten. Ihre wirtschaftliche Macht aber wird erlauben, selbst den ärmern Volksgenossen die Muttersprache zu verwehren, falls sie die benutzen sollten, um auf eine bessere Verteilung der irdischen Güter zu dringen. Die nationale Frage ist noch immer viel. Sie ist nicht alles.

Die Weltbühne, 1. Januar 1929


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