Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Hausdorf – Professor Waentigs Symbolik – Jornsprozeß – Der Fall Slang

Schwarze Fahnen hängen in den Karneval der Tagespolitik hinein. Das Bergbaurevier Waldenburg-Neurode, das klassische Hungerrevier Deutschlands, ist von einem schrecklichen Unglück betroffen worden. Mehr als anderthalbhundert brave Bergleute sind mitten in ihrer schweren, jämmerlich bezahlten Arbeit von bösen Gasen angeweht und erstickt worden. Bald werden die armen Opfer beigesetzt sein, immer sechs zu sechs, die staatliche Ordnung, die sich um die Lebenden so wenig gekümmert hat, bringt wenigstens in die Reihen der Toten Linie und Richtung. Wenn der karge Leichenpomp vorüber ist, wenn die Kirche die Gräber gesegnet, der Staat sein heiliges Versprechen erneuert hat, für die Hinterbliebenen zu sorgen, dann werden neue Sensationen schnell eine dichte Decke über das gräßliche Geschehen breiten. Dann werden tüchtige Industriesyndici wieder herumreisen und als höchste Weisheit verkünden, daß unsre Wirtschaft unter zu viel Sozialpolitik, zu viel Caritas leidet, daß sie durch die Begehrlichkeit des deutschen Arbeiters, der in seiner verfetteten Seele das Ideal des lebenslänglichen Staatsrentnertums trägt, zur dauernden Unrentabilität verurteilt ist. Wirtschaft, Horatio! Die Phrasen von den Grabhügeln der sechs zu sechs zusammengelegten Anderthalbhundert geben gewendet noch immer einen schönen Trinkspruch für das nächste Industriebankett. Was an der Katastrophe von Hausdorf höhere Gewalt war, was Verschulden, wird durch eine hoffentlich recht rücksichtslos geführte Untersuchung bald geklärt sein. Aber auch ohne diese Katastrophe stand fest, daß in diesem Bergbaurevier unter Verhältnissen gearbeitet wird, die aus den Bergknappen elende, widerstandsunfähige Hungersklaven machen. Man hat vor Jahr und Tag für Waldenburg mit Wort und Bild geworben, ohne daß es viel genützt hätte. Die Gewissen blieben faul. Jetzt unterstreicht der Erstickungstod der Hundertfünfzig alle damals vergeblich mitgeteilten Tatsachen. Diese Katastrophe ist eine grelle Illustration zu dem neuen Sturm gegen die Sozialpolitik, der hinter all dem Gerede von Einschränkung und Sparsamkeit steckt.

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In der Geistesgeschichte ist die »Symbolik« Georg Friedrich Creuzers als ein bestimmter Versuch bekannt, die griechische Mythologie zu deuten. Neben Creuzers Symbolik tritt jetzt eine andre, die sich allerdings an aktuellere Objekte hält, deren Schöpfer aber auch ein beachtlicher Gelehrter ist, nämlich der derzeitige preußische Innenminister, Herr Professor Waentig, früher an der Universität Halle seßhaft. Der Anspruch des Herrn Waentig auf den Ruhm der Nachfolge Creuzers gründet sich auf zwei jüngst herausgegebene Erlasse. Der eine soll die Behandlung erkrankter Polizeigefangener regeln, geht also nur den innern Polizeidienst an, erfreut aber trotzdem durch hohes gedankliches und sprachliches Niveau: »Zur Vermeidung von Kosten bestimme ich, daß der Erkrankte nicht körperlich, sondern symbolisch, das heißt durch Übergabe des Sachberichts, der zuständigen Stelle vorgeführt wird. Gleichzeitig ist darauf aufmerksam zu machen, daß der symbolisch Vorgeführte sich als Pol.-Gefangener im Krankenhaus befindet.« Der zweite Erlaß dagegen führt in die bessere Politik und zeigt, daß der Herr Professor nicht nur dozieren kann sondern auch in einem weniger gelehrten Jargon zu Haus ist: »Nach der Entwicklung, die die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und die Kommunistische Partei Deutschlands genommen haben, sind beide Parteien als Organisationen anzusehen, deren Ziel der gewaltsame Umsturz der bestehenden Staatsordnung ist. Ein Beamter, der an einer solchen Organisation teilnimmt, sich für sie betätigt oder sie sonst unterstützt, verletzt dadurch die aus seinem Beamtenverhältnis sich ergebende besondere Treueverpflichtung gegenüber dem Staate und macht sich eines Dienstvergehens schuldig. Allen Beamten ist demnach die Teilnahme an diesen Organisationen, die Betätigung für sie oder ihre sonstige Unterstützung verboten.« Dieser Erlaß führt tief ins Gewölk der neuen republikanischen Mythologie und erklärt zugleich die Verfassung, die das runde Gegenteil festlegt, zu einem feierlichen aber leeren Symbol. Zugegeben, daß die gegenwärtige Tatenlust der Nationalsozialisten auch manchem Gegner von Ausnahmegesetzen ein solches schmackhafter macht – beklagenswert ist der Staat, der seine eignen Grundsätze außer Kraft erklärt, denn er gesteht damit zu, daß er seinem Apparat nicht zu trauen vermag. Das ordentliche Recht verleiht genügend Mittel, um »einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staatsordnung« zu verhindern und die zu bestrafen, die den Versuch wagen. Die Nationalsozialisten sind eine Landplage, aber eine Gefahr sind erst jene staatlichen Exekutivstellen, die ein Auge zudrücken, ohne daß sie jemand belangen kann, und Richter, wie die in Schweidnitz, die die Hakenkreuzler so billig davonkommen lassen. Die Begünstigung der Rechtsradikalen durch die Justiz ist durch keinen Ministerialerlaß zu unterbinden, denn die Justiz erfreut sich des hohen liberalen Erbgutes der Unabhängigkeit. Wird ein besonderes Gesetz gebraucht, um den Ausländer Hitler endlich auf Schub zu bringen? Daran denkt kein Waentig und kein Wirth. Nein, Ausnahmegesetze sind immer vom Übel, aber die ärgsten sind die, hinter denen keine wirkliche Kraft steht. Herr Professor Waentig mag sich sicher sehr stark vorgekommen sein, als er in Bismarcks Stiefel stieg, aber der Vorsicht halber hat sich der Herr Minister doch eine Senkfußeinlage einarbeiten lassen. Er richtet seine drakonischen Bestimmungen nämlich auch gleich gegen die Kommunisten. Wäre der Herr Minister mit den Tatsachen der Politik vertrauter als mit der hohlen Symbolik der republikanischen Ordnungsretterei, so würde er sich hüten, Nationalsozialisten und Kommunisten gleichzusetzen. Der Herr Minister würde dann wissen, daß der Sozialismus der Hitlerbewegung ein aufgeblasenes Nichts ist, das seine eignen Propheten nicht erklären können, daß dagegen Sozialdemokraten und Kommunisten von den gleichen Eltern stammen, daß sie ein trauriges Schisma zu getrennten Wegen verurteilt hat, daß sie sich aber wieder einmal treffen müssen, wenn der Fascismus nicht auch in Deutschland schließlich der letzte Sieger bleiben soll. Wäre der Herr Minister ein praktischer Politiker, so würde er fühlen, daß doch noch einmal der Augenblick wiederkommen kann, wo die demokratische Republik zu ihrer Rettung die Hilfe der ganz links haltenden Arbeiterschaft nicht verschmähen kann, wie sie sie bisher nicht verschmäht hat, wenngleich sie jedesmal den Dank schuldig geblieben ist. Die Gleichsetzung von Nationalsozialisten und Kommunisten ist der denkbar ärgste Fehler, der von republikanischen Politikern begangen wird, und heute um so deplazierter, weil den Kommunisten gar nicht nach gewaltsamem Umsturz zumute ist. Mit der Unternehmungslust der Rechtsradikalen verglichen, wirken die Stalinisten wie sanfte Lämmer. Warum eine radikale Partei unnütz herausfordern, die ihre Intransigenz eben noch theoretisch betätigt? Wenn Herr Professor Waentig das nicht begreift, dann wäre es schon am besten, wenn er seine Symbole möglichst bald in den Koffer packte, um auf seine hallenser Lehrkanzel zurückzukehren. Ein Professor, der sich auf einer deutschen Universität als Sozialdemokrat bekennt, ist ein Kuriosum und darf als höchst achtenswerte Erscheinung gelten. Als Minister hingegen muß dieser Professor mehr mitbringen als eine eingewurzelte Neigung zum Dozieren, auch muß sein politischer Gesichtskreis weiter sein als der seiner ungelehrten Parteibonzen. Sonst wird der Herr Professor in ruhigen Zeiten leicht zu einer komischen Figur, in entscheidenden wie diesen jedoch zu einer Gefahr.

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Wie wenig damit getan ist, Beamten die Zugehörigkeit zu einer rechtsradikalen Organisation zu verbieten, beweist der nun schon chronische Fall Reichsgericht. Diese unsre höchste Instanz ist die festeste Zitadelle der Reaktion. Die Herren achten die Symbole der Republik, das ist gewiß. Aber sie tun alles, um ihr das Dasein zu erschweren, und sie lassen keine Gelegenheit vorübergehen, um ihre Ideologie zu brandmarken, um ihre natürlichen geistigen Grundlagen zu diffamieren. In dem großartigen Eingangskapitel seines englischen Justizromans »Bleakhouse« verfolgt Charles Dickens den londoner Nebel, diesen graugelben unerbittlichen Nebel, wie er seinen Weg nimmt durch die häßlichen, schmutzigen Straßen und schließlich auch Lincolns Inn einhüllt, wo der hohe Kanzleigerichtshof tagt: »Nie kann der Nebel zu dick ... sein, um dem versumpften und verschlammten Zustand zu entsprechen, in dem sich dieser hohe Kanzleigerichtshof, dieser schlimmste aller ergrauten Sünder, an einem solchen Tage dem Himmel und der Erde präsentiert ... Sie legen einander Schlingen mit schlüpfrigen Präzedenzien; knietief in technischen Ausdrücken watend rennen sie ... gegen Wälle von Worten und führen ein Schauspiel von Gerechtigkeit auf; Komödianten mit ernsthaften Gesichtern.« Schreckliche Worte gegen eine höchste Instanz, nicht wahr? Leipzig ist nicht so neblig wie London, aber was der Zweite Strafsenat in der Revision des Jornsprozesses an dicken Schwaden entwickelt hat, genügt für kontinentale Verhältnisse. Bei der Verhandlung vor dem Landgericht I hatte der Staatsanwalt Herrn Jorns entgegengehalten, daß er seine Rechtfertigung schlecht angelegt habe. Denn er habe immer nur sein einwandfreies Handeln beweisen wollen, niemals aber versucht, sein Tun und Unterlassen aus dem krisenhaften Zustand der ersten Revolutionsmonate zu erklären. Das klang sehr plausibel und war ein Notausgang für Herrn Jorns. Das Reichsgericht jedoch verachtet schwache Lösungen. Es erklärt Herrn Jorns nicht nur für gereinigt sondern kanzelt auch das Berufungsgericht ab und versagt dem Angeklagten den Schutz des § 193, weil der Leiter einer politischen Wochenschrift keine Ausnahmestellung einnehme. Nun gut. Wir Publizisten von der Linken kennen das Reichsgericht und wissen auch, daß unser aller Weg einmal nach Leipzig führt. Wir sollten es uns ernsthaft überlegen, ob es überhaupt Sinn hat, sich den Aufwand eines Verteidigers, einer Diskussion zu leisten, ob es nicht vernünftiger ist, während das Gericht – um mit Dickens zu reden – »knietief in technischen Ausdrücken watet«, die Hände in die Hosentaschen zu stecken und in die Luft zu gucken. Die simpelste Lebensweisheit verbietet, durch bittere Zwischenreden in eine Farce einen falschen Ton zu bringen. Der Kollege Bornstein hatte zum Beispiel das Vergnügen, als Ankläger einen Herrn gegen sich zu haben, der der Zimmergenosse von Jorns ist, und als Vorsitzenden den Herrn Senatspräsidenten Witt, der es seiner Zeit abgelehnt hat, »Richter des Staatsgerichtshofs zum Schutze dieser Republik« zu werden. Wir sind keine Funktionäre dieser Republik wie der Herr Senatspräsident, aber wir verteidigen sie, und so lange wir Richter, die sich gegen den Staat, der sie bezahlt, distanzieren, nicht ablehnen können, sollten wir die Herren wenigstens ignorieren. Bald wird der von seinen Kollegen blank geschmirgelte Herr Jorns wieder als Prokurator amten, und das allein gebietet Zurückhaltung gegenüber der Institution, die ihn bei sich leidet. Das Reichsgericht ist nicht sehr feinfühlig, sonst hätte es geahnt, daß noch einer im Saale war, den die Sache anging, wenn er auch nicht geladen war: der tragische Schatten Paul Levis. Mag der Engelchor des Zweiten Strafsenats Herrn Jorns mit einem hallenden »Gerettet« umjubeln, dieser Schatten sagt: »Gerichtet«.

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Die Justizpressestelle Berlin schreibt uns:

»In Nr. 25 der Weltbühne vom 17.6. d.J. ist ein Schreiben des ehemaligen Redakteurs der Roten Fahne, Hampel, unter der Rubrik ›Antworten‹ und der Überschrift ›Schriftsteller‹ veröffentlicht. Herr Hampel behauptet u.a. darin, daß die Vollziehung der Untersuchungshaft im Untersuchungsgefängnis Moabit seine wirtschaftliche Existenz vernichte, da er unter Briefkontrolle nicht seine schriftstellerische Tätigkeit fortsetzen könne.

Im Gegensatz zu dieser Behauptung hat Herr Hampel während seines Aufenthalts im Untersuchungsgefängnis etwa 20 Artikel an verschiedene Zeitungen versandt, die sämtlich der Briefkontrolle unterlegen haben, und bis auf einen Artikel unbeanstandet abgesandt worden sind.

Während der Untersuchungshaft genießt Herr Hampel folgende Vergünstigungen: Er hat eine neu erbaute, bisher von keinem Gefangenen benutzte Zelle, die vorläufig nur als Muster für die Reform der Untersuchungshaft eingerichtet war, inne. Sie enthält ein Feldbett, einen Kleiderschrank, einen Tisch mit Schublade, einen Stuhl mit Rücken- und Seitenlehne, ein Bücherregal, einen kleinen Waschtisch und ein durch Vorhang abgeschlossenes Spülklosett.

Ihm ist die Selbstbeschäftigung gestattet. Er darf beliebige Zeitschriften, Bücher und Zeitungen halten und seine eigne Schreibmaschine benutzen. Auch darf er Licht brennen so lange er will und braucht die Zelle nicht selbst zu reinigen.

Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Becher, Landgerichtsrat«

Diese Berichtigung haut zwar vom Anfang bis zum Ende daneben, aber sie feiert die Vorzüge unsres Strafvollzugs mit einem so lyrischen Schwung, daß es sich schon aus literarischen Gründen verbietet, ihr den Abdruck zu verweigern. Bekanntlich verlangt Slang (Fritz Hampel) die Verbüßung seiner Strafe in einem Festungsgefängnis. Statt dessen wird er wegen eines neuen Strafverfahrens im Untersuchungsgefängnis gehalten. Daß die Vollstreckungsbehörde sich bemüht, die Untersuchungshaft dem Aufenthalt in einem Festungsgefängnis anzugleichen, ist recht anerkennenswert, schafft aber die Differenz zwischen den beiden grundverschiedenen Institutionen nicht völlig aus der Welt. Festungshaft bedeutet nämlich erhöhte Bewegungsfreiheit. Hier im Untersuchungsgefängnis werden Slang nur die üblichen täglichen Promenaden im Hof gestattet. Ironie des Zufalls will es, daß Slangs tägliche Gesellschaft dabei die beiden jungen Reichswehrleutnants sind, die man wegen nationalsozialistischer Umtriebe in Verhaft genommen hat. Vielleicht will man aber auch Professor Waentigs These erhärten, daß Nazis und Kommunisten nun einmal zum Fraternisieren neigen. Jedenfalls bietet die größere Bewegungsfreiheit der Festungshaft für einen Tagesschriftsteller wie Slang ganz andre Arbeitsmöglichkeit. Er ist also durchaus im Recht, wenn er sich beklagt, daß durch diese Form der Strafvollstreckung seine publizistische Produktion leidet. Außerdem stimmt es nicht ganz, daß er alle Zeitungen lesen darf, die er wünscht: die ›Rote Fahne‹ ist ihm in diesen letzten Tagen nicht mehr zugestellt worden, also grade das Blatt, für das er vornehmlich arbeitet. Und das soll keine Existenzminderung für einen Schriftsteller sein? Das Gefühl, die einzige Musterzelle einzuweihen, mag wohl für den Häftling ein Anlaß sein, sich als Bürger kommender Zeiten zu fühlen, aber es ist kein Ersatz für die entgehende Gegenwart und kein genügend starkes Betäubungsmittel, um das vorenthaltene Recht zu vergessen. Das Reichsgericht – vierter Strafsenat – hat die Beschwerde der Verteidiger Slangs abgelehnt. Die Begründung soll hier nicht behandelt werden. Sie ist ganz unverständlich, leipziger Juristenslang.

Die Weltbühne, 15. Juli 1930


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