Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Arthur Henderson

Im Parlament von Westminster sitzt am Regierungstisch ein rundlicher behäbiger Sechziger von blühenden Farben. Wenn eines der hochehrenwerten Mitglieder des Hauses an die Regierung die Frage richtet, wie sie sich die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Rußland denkt, dann erhebt sich eben dieser gemütliche Herr und gibt mit einer Stimme und einem Temperamentsaufwand, die seinem geruhigen Äußern entspricht, die erforderlichen Erklärungen ab. Denn das Auswärtige ist sein Ressort, er ist der Außenminister der Labourregierung. Das Kabinett MacDonald hat im allgemeinen bei der Presse der alten Parteien Englands eine recht günstige Aufnahme gefunden, aber nur gegen einen der neuen Herren Minister wurden ernsthafte Einwendungen erhoben: gegen Mr. Arthur Henderson, den Herren des Auswärtigen. Nicht etwa weil er zu radikal sei, weil er im Geruch gefährlicher Konzeptionen stehe, nein, nicht das. Aber man fand, daß Mr. Henderson grade für dieses Amt eine zu unelegante Taille mitbringe, zu joviale, zu volkstümliche Formen. Der Mann, der im Parlament seit langem als »Onkel Arthur« der Liebling der jungen Abgeordneten ist, denen er Witze erzählt und spaßhafte Instruktionen für ihre Jungfernrede gibt, schien ihnen nicht die geeignete Figur für das repräsentative und oft tragische Geschäft des Außenministers. Wenn wir erfassen wollen, was die Regierung Ramsay MacDonalds, die für Nichtengländer eigentlich genau so aussieht wie alle liberalen Kabinette seit Gladstone, in der Tat für England an revolutionierend Neuem bedeutet, so darf dieser Außenminister nicht außer Acht gelassen werden, der sich in einer seltsamen Weise von den Typen abhebt, die Konservative und Liberale in zweihundert Jahren für dieses Amt präsentiert haben. Plebejische Eindringlinge oder hochgeborene Herren, die mit plebejischen Formen posierten, sind in den englischen Kabinetten allerdings keine Neuheit mehr. Ein Plebejer ist Mr. Lloyd George und verhehlt es nicht, und selbst der hocharistokratische Mr. Arthur Balfour liebte es, bei langweiligen Debatten seine langen Beine auf dem Tisch des Hauses zu deponieren, ein Anblick, der Fremden, die aus der Loge zusahen, gelinde gesagt, die Fassung raubte. Aber das Foreign Office war durch geheiligte Tradition immer jener Gesellschaftsklasse reserviert, die für die Welt das vornehme England darstellt. Die Parteien wechselten, doch die Typen im Außenamt blieben gleich. Inkarnationen einer leidenschaftslosen Vornehmheit, die auch in der äußersten Hitze nicht aus den Lackstiefeln rutscht. Wenn etwa Sir Oswald Mosley der Nachfolger Sir Austens geworden wäre, so hätte das trotz der sozialistischen Gösch dieses ausgezeichneten Kavaliers nicht viel bedeutet, denn Sir Oswald gehört der gleichen Schicht an wie die Herren, die von altersher diesen Platz innehatten. In England bedeutet das viel, wenn nicht alles. Als Ende der siebziger Jahre Disraeli gefragt wurde, was er von Joe Chamberlain halte, dem neuen Abgeordneten der Industrie von Birmingham, betrachtete der Alte den aufgehenden Stern eingehend und meinte dann wegwerfend: »Er trägt sein Monokel wie ein Gentleman!«

Im Geiste dieser eisenfesten Überlieferungen wirkt Mr. Henderson allerdings wie ein Sakrileg. Er ist Gewerkschaftsorganisator, der noch als Arbeiter in der Stahlindustrie begonnen hat und später als Agitator bekannt wurde. Auch er hat seine Zeiten gehabt, wo er vor Radikalismus überschäumte, es ist lange her, und heute scheint alle seine Röte sich in dem runden Gesicht konzentriert zu haben; ein kurzgestutzter weißer Schnurrbart ist nicht dazu geeignet, die Farbe der Internationale zu dämpfen. Mag man aber in den bessern Klubs die Nase rümpfen, dieser gemütliche nervenlose Mann ist für den europäischen Frieden gradezu ein Gottesgeschenk. Denn er bringt keine Sehnsucht nach Applaus mit, keine Projekte, die praktisch nichts bedeuten, aber durch pikant gewürzte Aufmachung nach der Sensationssucht der Weltpresse schielen; er prätendiert nichts, er ist Mr. Henderson, den das Vertrauen seiner Parteileitung auf einen Platz gehoben hat, den er niemals erträumte und den er lieber gegen einen stilleren vertauscht hätte. Und doch hat Arthur Henderson bisher gezeigt, daß er seiner Verpflichtung durchaus gewachsen ist, seine in der Form anspruchslosen und schmucklosen Reden haben Europa mehr genützt als die ehrgeizigen Attitüden seines Vorgängers, dessen Fähigkeit seit Locarno vornehmlich darin bestand, sich überschätzen zu lassen.

Arthur Henderson steht vor drei Fragen ersten Ranges. Die Beziehungen des britischen Imperiums zu den Vereinigten Staaten und Rußland verlangen dringend eine Revision; ebenso notwendig ist es, daß die wirren Verhältnisse in Europa, jetzt, wo sie durch den Youngplan offen zur Diskussion stehen, saniert werden. Wir wollen die ersten beiden Fragen, die den hier zur Verfügung stehenden Raum überschreiten, nicht zur Erörterung ziehen. Die dritte Frage genügt, um ein britisches Kabinett, das guten Willens ist, aufs Äußerste anzuspannen. Sir Austen Chamberlain hat sich die Sache einfach gemacht, indem er alle reaktionären Diktaturstaaten Europas an England fesselte, damit glaubte er eine Schutzmauer geschaffen zu haben, in der die außenpolitische Ideenlosigkeit der Regierung Baldwin ruhig schlafen konnte. Die dem Kabinett attachierten Harmsworthblätter waren frivol genug, in Ungarn sogar eine Revision des Friedensvertrags in Aussicht zu stellen, ein Versprechen, das im Ernstfall natürlich mit üblem Geruch zerplatzt wäre. Insofern hat die Arbeiterpartei die unangenehme Aufgabe, eine unerwünschte Erbschaft bald liquidieren zu müssen. Und so gewiß die Regierung MacDonalds innenpolitisch vieles schuldig bleiben wird, weil die Gesetze der Wirtschaft durch ein paar Federstriche der Bestmeinenden nicht außer Kraft gesetzt werden können, so anerkennenswert ist es, daß sie ihre volle Energie und ihre beträchtliche moralische Kraft zunächst für die Sanierung Europas eingesetzt hat. Diese Wünsche hat der neue Außenminister in seiner ruhigen und soliden Art ausgedrückt.

Daß Mr. Henderson sich dabei die deutsche Räumungsthese zu eigen gemacht hat, sollte in Deutschland nicht dazu verführen, wieder auf einen englisch-französischen Konflikt zu spekulieren. Die Arbeiterpartei ist zu großen Teilen kriegsfeindlich gewesen, sie hat für den versailler Vertrag wenig übrig gehabt, aber es wäre komplette Narrheit anzunehmen, daß sie sich eine Gesundung Europas anders denkt als innerhalb der Grenzen der Friedensverträge. Wenn der Außenminister der Labourregierung an die Adresse des gegenwärtigen französischen Kabinetts einige Unfreundlichkeiten richtete, so weiß er den größten Teil der Öffentlichkeit seines Landes hinter sich, so weiß er auch, daß die Regierung Poincaré im eignen Lande selbst als überfällig betrachtet wird. Aber niemals wird er einen Schritt unternehmen, der ganz Frankreich in Harnisch bringen könnte. Wieder mehren sich in Deutschland die Stimmen, die auffordern, die Ratifizierung des Youngplans hinauszuschieben, bis über die Räumungsfrage Klarheit geschaffen ist. Einen schlimmern Gefallen kann man der englischen Regierung nicht tun, als daß man ihr in dieser grobschlächtigen Weise sekundiert. Es ist nicht nur im Interesse Deutschlands nützlich, wenn die englische Regierung Frankreich überzeugen will, daß die Okkupation ihren Wert verloren hat, und dem Frieden dient, aber Deutschland sollte auch begreifen, daß England gar nicht daran denkt, einen diplomatischen Sieg zu erfechten, der ausschließlich Deutschland nützt und seine eignen Beziehungen zu Paris verschlechtert.

Mr. Hendersons augenblickliche Popularität bei den deutschen Nationalisten beruht also auf einem Mißverständnis. Er ist nicht in dem Sinne »deutschfreundlich«, wie man sich das hierzulande denkt. Aber keine Sorge, wenn man das erst heraus hat, wird es mit seiner Beliebtheit hier zu Ende sein, und die Rechtsblätter, die ihn eben noch feierten, werden plötzlich entdecken, daß er gar kein richtiger Engländer ist, sondern aus Kolomea stammt und eigentlich Hendelsohn heißt.

Die Weltbühne, 16. Juli 1929


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