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Die nationalsozialistische Bewegung hat eine geräuschvolle Gegenwart, aber gar keine Zukunft. Sie lebt von der Erregung plötzlich proletarisierter Schichten, die nicht wissen, welchen politischen und ökonomischen Kräften sie ihren Sturz aus bürgerlicher Geborgenheit in ein soziales Pariatum verdanken. Der Nationalsozialismus hat bisher nicht bewiesen, daß er die altorganisierte Arbeiterschaft und ihren jungen Nachwuchs zu erfassen vermag. Wer weiß eigentlich heute noch, daß es vor einem halben Dutzend Jahren eine völkische Bewegung von ähnlichen Tendenzen gab, die sich damals um Wulle und Graefe scharte?
Adolf Hitler mag in seinen Anfängen in ehrlicher Verbohrtheit gehandelt haben. Heute ist er nur noch eine Kreatur der Industrie. Oder bildet sich jemand ein, die Gebieter von Kohle und Eisen würden ihr schönes Geld hergeben für einen Verein, dessen Ziel ist, sie zu enteignen und zu Ehren der teutonischen Götter an den nächsten Laternenpfahl zu hängen? Das Rezept der Hitlerei stammt vom italienischen Faschismus, und man muß zugeben, daß es ein wahrhaft grandioser Volksbetrug ist: Man gibt den unzufriedenen und unruhigen jungen Leuten die Symbole und das Tempo der Revolution und führt sie in die Reaktion. Der Einzelne in der dicht gedrängten Marschkolonne, von stürmischen Zurufen und einer begeisternden Musik beflügelt, weiß nicht, nach welcher Richtung es geht.
Dabei besteht für mich kein Zweifel, daß Hitler nichts sehnlicher wünscht, als die endliche Legalisierung seiner Bewegung. Er möchte den Ludergeruch der Revolution los werden, um das Erbe der zerfallenden Hugenbergpartei anzutreten. Hitler will ministrabel, will regierungsfähig werden. Das ist der Sinn des thüringischen Experiments. Der Krakeel um die Haßgebete, der Konflikt mit Berlin, das alles sind doch nur Täuschungsmanöver für das Gros der Anhänger, das den Anbruch des »Dritten Reiches« nahe glaubt. Da wo es sich um Desperadostreiche handelt, die aus wirklicher sozialer Not geboren sind, wie bei den Holsteinischen Bombenattentaten, hat Hitler schleunigst einen dicken Trennungsstrich gezogen. Denn Hitler, der nicht das Mindeste gegen die täglichen zahllosen Roheiten seiner Legionäre unternimmt, wird sofort korrekt und gut bürgerlich, wo er die Zeichen richtiger sozialer Rebellion sieht.
Diese Bewegung hat keine Idee und kein Prinzip, und deshalb wird sie nicht leben können. Kein Nationalsozialist ist imstande, den »Sozialismus« seiner Partei zu erklären, und sogar die zahlreichen Versuche, den Nationalismus der Partei zu analysieren, mißlingen kläglich. So bleibt nichts übrig als das etwas komische Dogma von der Berufung Adolf Hitlers, die deutsche Nation zu retten. Der Glaube an das Führertum einzelner berufener Persönlichkeiten ist überhaupt das einzige, was sich bei dem Nationalsozialismus zu einer Art Theorie verdichtet hat. Aber das ist Mystik, und mit Mystik kann man die Menschen zwar auf eine Weile benebeln, aber satt machen kann man sie damit nicht. Die Nationalsozialisten behaupten zwar, daß der von ihnen hochgehaltene Führergedanke gute germanische Überlieferung sein soll. Auch das läßt sich schwer beweisen. Ich muß Adolf Hitler den Schmerz bereiten: diese Überlieferung stammt nicht aus dem alten Germanien, sondern aus dem alten Testament. Auf diese mysteriöse Weise kamen Moses, Josua und Gideon zu ihren hohen Funktionärposten in Israel. Manchmal meldeten sich auch Unberufene, aber denen ging es schlecht, wie der traurige Fall Korahs und seiner Rotte beweist, die das Feuer des Herrn fraß. Ça ira, ça ira.
Der Rote Aufbau Nr. 9, September 1930