Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Jeanne d'Arc

Es sind jetzt grade fünfhundert Jahre her, daß die belagerte Stadt Orléans von französischen Truppen befreit wurde, die ein sechzehnjähriges Mädchen anführte. Mit diesem Tag beginnt der schnelle Verfall der englischen Macht in Frankreich, die sich vierzehn Jahre vorher bei Azincourt neu gefestigt hatte. Zugleich aber erhält das Staatensystem des Mittelalters den vernichtenden Schlag. Schon sind die italienischen Ansprüche der deutschen Könige Papier geworden, die Kreuzzüge in ihr Gegenteil umgeschlagen: die Türken bedrängen Südosteuropa. Mit der Vertreibung der Engländer aus Frankreich siegt in Europa das Prinzip der Nationalstaaten. Wie später die Kanoniere von Valmy haben die Bogenschützen von Orléans eine neue Epoche der Weltgeschichte eingeleitet. Die Fahnenträgerin der neuen Idee war ein halbflügges Bauernmädchen aus dem lothringischen Domremy, Johanna, ein zartes Gefäß großen Inhalts nur, das von den Menschen bald erbarmungslos zerschlagen wurde.

Noch das achtzehnte Jahrhundert hat in Johanna nicht mehr gesehen als die gerissene Soldatenhure, ein Blendwerk der Pfaffen, die durch eine Frau die Könige und Ritter beherrschen wollten. In Voltaires »La Pucelle« klappert, von rüden Sexualspäßen untermischt, ein hartes Gelächter über eine Menschheit, die sich willig von einer Dirne am Narrenseil führen läßt. Erst als die Marseillaise über den Rhein schmettert, erkennt Schiller in Jeanne d'Arc das neue heroische Prinzip der Nation und wirft über die schmalen Schultern seiner Heldin den schweren Mantel einer opernhaft schwellenden Sprache. In einem Buch voll zarter Ironie erzählt Anatole France das Leben Johannas auf quellenmäßiger Grundlage. Hier bleibt, ohne große historische Aspekte, nur ein sehr kindliches Mädchen, das sich mutig zwischen schrecklichen eisengepanzerten Männern bewegt und Zwiesprache hält mit den Geistern, die es abwechselnd aufmuntern und schelten. Und mitten in einen moralpolitischen Disput stellt der gefeiertste Dramatiker unsrer Zeit das Mädchen Johanna als erste Vertreterin der neuen Weltidee des Nationalismus. Es wird sein ewiger Ruhm bleiben, daß er sich nicht allein auf die geniale Spitzfindigkeit seiner Dialektik verließ, sondern eine Schlußszene von unsäglicher Elegik hinzufügte, zarte dichterische Trauer eines Kenners der Welt, die ihre Heiligen verbrennt, um ihnen nach Jahrhunderten großartig die Glorie zuzusprechen. Bernard Shaws Drama, angeregt durch die Canonisation Johannas, fiel fast kalendermäßig zusammen mit der neuen Mode der Frauen, die Haare kurz zu tragen und einen schlanken, durch sportliche Übungen trainierten Körper zu zeigen. So wurde Johanna zur Verkörperung der Amazone von Heute, und so ist für ihren Nachruhm geistlich und weltlich bestens gesorgt.

Johannas Zeitalter war gläubig und von Priesterlegenden so erfüllt wie das unsrige von denen der Zeitung. Vielleicht war Sainte-Jeanne nur ein armes von Pubertätskrämpfen gepeinigtes Ding, männlich in ihren Instinkten und in ihrem unbestimmten, unwissenden Verlangen. In diesem rauhen und naiven Jahrhundert mußte ihr Anderssein sie entweder zur Heiligen oder zur Hexe machen. Damals kontrollierte die Kirche die Psychosen, förderte sie, wenn sie supranaturale Hilfe brauchte, brannte sie aus, wenn die Geister zu frech wurden. Als vor ein paar Monaten in London eine Frau als Colonel Barker die Oriflamme des Fascismus gegen die demokratische Verschlampung ihres geliebten Vaterlandes erhob, da waren die Leute sehr böse und sagten sehr wenig von Heroismus und Jeanne d'Arc, aber sehr viel von Perversität oder strafwürdiger Dreistigkeit. Psychiater und Richter stritten sich um das Opfer. Der Richter blieb Sieger. Schicksal der heldischen Amazone in der bürgerlichen Zeit.

Im Grunde ist es gar nicht so wichtig zu erforschen, ob Johanna eine andressierte Rolle spielte oder ob sie als urwüchsiges Genie sich selbst durchsetzte. Denn eines ist nicht zu bestreiten: etwas ist mit ihr in die Welt gekommen, das vorher nicht da war. Der Glaubenssatz, daß kein Volk dem andern untertan sein soll, daß jedes Volk das angeborene Recht hat, über sich selbst zu bestimmen, wehte zuerst von dem Helme eines tapfern Mädchens, das drei Jahre hindurch Tausende von Männern begeistert oder behext, jedenfalls elektrisiert hat. Der Zug verzweifelter Franzosen nach Orleans, dem letzten Pont ihrer Hoffnung, angeführt von einem kindhaften Geschöpf, das niemand kannte, dessen Glaube an die Sendung aber auf das kleine Heer übersprang, bleibt ein unvergängliches Symbol der unerrechenbaren Kraft der Idee gegenüber der kalten, phantasielosen Sekurität, die so lange selbstzufrieden auf den Tatsachen thront, bis sie heiß werden und ihr das Sitzfleisch verbrennen. Die ganz weittragenden Gedanken werden immer im Stall geboren.

Heute ist Jeanne d'Arc natürlich sehr arriviert. Prälaten und Generale feiern sie, nichts erinnert mehr an ihre kleine Herkunft. Sie ist die Schutzheilige von Charles Maurras und der ›Action Française‹ geworden. Säbel und Krummstab kreuzen sich an ihrem Sockel. Aber es wäre töricht zu leugnen, daß ihr Kultus dem französischen Nationalismus eine Glut und einen Schwung gegeben hat, die der deutsche Rivale nicht kennt, der in seiner klotzigen Materialität einfach die Macht will, ohne die Idee zu achten. Zwei Mal zwischen Vierzehn und Achtzehn wollte an der Marne sich Frankreichs Schicksal vollenden, und beide Male wendete es der Geist des letzten furiosesten Widerstandes ab. Zwei Mal sind die deutschen Heere an der Marne dem gepanzerten Mädchen aus Lothringen begegnet, und beide Male sind sie geschlagen worden.

Die Weltbühne, 21. Mai 1929


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