Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Abdankung, Herr Polizeipräsident!

Es ist nicht sehr unterhaltsam, sich selbst zitieren zu müssen, und doch wird dies gelegentlich notwendig, schon um die Merksteinchen wieder aufzufinden, mit denen man eine Entwicklungslinie festzuhalten gesucht hat. Am 12. Juni 1928 schrieb ich hier, nach dem kläglichen Zwischenfall in der Frankfurter Allee, bei dem Herr Doktor Weiß von seinen eignen Leuten niedergeschlagen wurde: »Herr Zörgiebel deckt in einem Manifest von beschämendem Deutsch die Roheiten seiner Leute ... Herr Zörgiebel ist hauptsächlich besorgt, bei den Beamten nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, ›es würden ihnen durch einengende Bestimmungen bei diesen Zusammenstößen die Hände gebunden‹ oder sie fänden in Fällen, ›in welchen sich der Gebrauch der Waffe nicht vermeiden läßt‹, bei ihm nicht den erforderlichen Schutz. Wie bisher, so will Herr Zörgiebel auch in Zukunft für seine Beamten ›voll und ganz‹ eintreten ... Man muß den in hohen Staatsstellungen befindlichen Sozialdemokraten immer wieder bedeuten, daß die Ausrottung der Kommunisten nicht ihre einzige Aufgabe ist ... Die Oberleitung der berliner Polizei hat ihren Leuten den Rotkoller eingeimpft, und dies System hat jetzt zu einer Blamage geführt, die evident ist, auch wenn Herr Zörgiebel die Beamten ›voll und ganz‹ deckt und den Vorgang ›menschlich durchaus verständlich‹ findet. Was für eine Katastrophe muß eigentlich eintreten, um Herrn Zörgiebel endlich ad absurdum zu führen?« Und am 2. Januar 1929 schloß ich eine Betrachtung über die Verbrecherschlacht am Schlesischen Bahnhof: »Seit dem Abgang des Herrn Friedensburg hat sich die berliner Polizei erschreckend verschlechtert. Herr Zörgiebel dekretiert, versichert, beruhigt. Herrn Zörgiebel beängstigt ein rotes Kommunistenfähnchen mehr als die stolz wehenden Vereinsbanner sämtlicher berliner Spitzbuben. Es hat keinen Zweck, um Tatsachen herumzureden: wir brauchen endlich wieder einen Polizeipräsidenten.« Ich zitiere das nicht, um aufzuzeigen, daß hier eine klare Diagnose früher gestellt wurde als anderswo, sondern um mitzuhelfen, daß der unorganisierten Empörung über die Exzesse der Polizei, die heute in Berlin herumrumort, die sich in Ärger und Unglücksreportagen Luft macht, ohne zu einer Forderung zu gelangen, eine Richtung gegeben wird. Die Bewegung wäre sinnlos, wenn sie sich in ein paar Schlagzeilen erschöpfte, um dann die 24 Totgeschossenen, denen eine einzige Schußverletzung eines Polizisten gegenübersteht, ad acta zu legen, wenn sie nicht in das rücksichtslose Verlangen ausmündete, daß der Herr Polizeipräsident schleunigst von einem Posten zu verschwinden hat, für den er keine Eignung mitbringt und den er zum Schaden der ganzen Stadt Berlin zu einem skabrösen kleinen Parteikalkül mißbraucht hat. Wir wünschen in Berlin keine wiener Schoberei, und sie wäre ganz besonders schlecht aufgehoben bei einem Mann, der immerhin noch das Mitgliedsbuch der Sozialdemokratischen Partei in der Tasche trägt. Herr Zörgiebel wagte zwar in der berliner Funktionärversammlung zu behaupten, daß er an den verhängnisvollen Tagen mit Partei und Gewerkschaften ständig Fühlung unterhalten habe, aber er vergißt hinzuzufügen, welcher Art diese Fühlung war und ob sie ausschließlich von den Gummiknüppeln seiner Beamten aufrechterhalten wurde, die auf Köpfe und Rücken ruhiger alter Gewerkschaftler und Parteigenossen niedersausten, die ahnungslos aus ihren Versammlungen kamen.

Schon voriges Jahr zu Pfingsten plante Herr Zörgiebel das Verbot der Rotfrontkämpfer, um von dem katastrophalen Eindruck des Intermezzos in der Frankfurter Allee abzulenken. Damals folgte ihm sein Minister nicht. Auch ein paar Monate vorher hatte das preußische Ministerium Herrn v. Keudell einen Strich durch die Rechnung gemacht, als er sich mit der gleichen Absicht trug. Heute gelten die Überlegungen von damals nicht mehr. Denn heute muß Herr Zörgiebel gedeckt werden, heute muß die Fiktion lebendig gehalten werden, daß am 1. Mai eine Kommunistengefahr bestand und daß sie noch immer besteht, daß ihr nur vorgebeugt werden kann durch Verbot der roten Kampforganisation. Wobei die klugen Männer ganz vergessen, daß dadurch der Konflikt nur verewigt wird, daß illegale Zwischenfälle dadurch gradezu provoziert werden und daß überall da, wo das Verbot durchgeführt wird, auch der Zwist zwischen den beiden sozialistischen Parteien in ungeahnter Ausdehnung und Gehässigkeit entbrennen wird. Warum ist nicht der Stahlhelm mit seinen belfernden Haßaposteln unter gleiches Ausnahmerecht gestellt worden? Wenn die Kommunisten anzuklagen sind, daß sie vor dem 1. Mai bockig und unnachgiebig waren, daß sie trotz vielfacher Warnungen ihre Leute aufforderten, auf die Straße zu gehen, so muß ihnen mindestens zugute gehalten werden, daß sie es als ebenso lebensnotwendig empfanden, das Prestige ihrer Partei zu wahren wie jene Funktionäre der Sozialdemokratie, die in diesen Tagen auf Ministerstühlen thronend und in Polizeipräsidien gebietend, in der glücklichen Lage waren, ihre parteiegoistischen Zwecke mit dem stolzen wappengeschmückten Paravent des Staates zu maskieren. Und wenn jetzt sozialistische Zungendrescher mit einer ans Schwachköpfige reichenden Beharrlichkeit erzählen, daß die Kommunisten für den 1. Mai Propagandaleichen wünschten, so muß ihnen doch entgegengehalten werden, daß keine Partei sich sonst ihre Handlungsweise gern vom Gegner vorschreiben läßt. Lag es wirklich in der Absicht der kommunistischen Zentrale, zu Agitationszwecken ein paar Tote vorweisen zu können, so ist ihr dieser schändliche Wunsch in wahrhaft triumphaler Weise und über die verwegenste Vorstellung hinaus in Erfüllung gegangen. Sie hat erst gar keine Reibereien zu inszenieren brauchen, denn die Andern, die von der Ordnungspartei, haben ihr die Arbeit abgenommen. Gute liberale Bürger, die sonst automatisch auf die Seite der Staatsmacht kippen, sprechen mit Entsetzen und Abscheu von dem brutalen Vorgehen der Polizei, mit schallendem Hohn von dem aberwitzigen Kriegsspiel, das über ein paar dichtbevölkerte Stadtteile verhängt wurde, um einen nicht vorhandenen Feind auszuräuchern. Man muß es gradezu als ein Schulbeispiel für die Besonnenheit der berliner Bevölkerung aufführen, daß nicht schließlich doch ein primitiver Volksaufstand ausbrach, um diese Invasion von angeblichen Ordnungsrettern zu vertreiben. In den Tagen zwischen dem 2. und 4. Mai hatten die Kommunistenführer ganz andre Sorgen als die, eine Insurrektion anzuheizen, weit eher fürchteten sie eine spontane Bewegung, die sie nicht zu dirigieren imstande gewesen wären. Und warum sollten sie denn auch hetzen? Der Genosse Zörgiebel war ihren wirklichen oder angeblichen Intentionen bereitwilligst entgegengekommen. Ja, dieser geniale Statthalter seiner Partei hat den Kommunisten nicht nur ein Zehntel der von Herrn Künstler geweissagten Todesopfer geliefert, er hat sogar erreicht, daß heute niemand mehr von den Kommunisten spricht, aber jeglicher von den Tollheiten der Polizei. Hätte ein ruhiger Verlauf des 1. Mai die moralische Niederlage der Kommunisten bedeutet, so hat Herr Zörgiebel, indem er die polizeilichen Sicherheitsaktionen mit der schrillen Begleitmusik des Bürgerkriegs in Szene gehen ließ, der Gegenpartei die Verantwortung abgenommen, und wenn in diesem Staat das Recht des Bürgers nicht nur ein Fetzen Papier ist, der am 11. August in bengalischer Beleuchtung gezeigt wird, so hat er auch die Generalverantwortung für jene Maßnahmen zu tragen, die ein paar Arbeiterviertel tagelang zum Schauplatz eines Totentanzes gemacht haben, den ein Beingeripp, mit einem Polizeitschako auf dem Schädel, angeführt hat.

Es ist kein großes Geheimnis, daß die führenden Herren des preußischen Innenministeriums bezüglich des Verbotes der Maidemonstrationen sehr geteilter Meinung gewesen sind. Otto Braun und Severing sind nicht einsichtslos und als innenpolitische Taktiker ihren Kollegen im Reich weit überlegen. Herr Staatssekretär Abegg, der über eine lange Erfahrung verfügt, war sogar ein ausgesprochener Gegner des Verbots. Am klügsten hat jedenfalls Herr Doktor Weiß gehandelt, der sich schon vor Wochen in den Urlaub eines kalten, regnerischen Aprils flüchtete, um der mit Pulverdampf vermischten Mailuft an der Seite des Präsiden zu entgehen. Zörgiebel kann jetzt vor den Funktionären dicke tun, wie er auslag und seine Klinge führte. Die Polizei, sagte er, kann, wenn sie angegriffen wird, nicht mit faulen Eiern antworten. Recht so. »Räumt's die Toten weg, i kann die Schlamperei net leid'n!« Herr Weiß ist jedenfalls unterrichtet, was für schreckliche Folgen es haben kann, wenn die Polizei Ruhe stiftet und überließ neidlos seinem Chef das Blachfeld. Auch im Innenministerium schaukelte man, bis schließlich die Herren Polizeitechniker den Ausschlag gaben und die Zögernden überzeugten. Das ist alles schön und gut. Aber damit hatten die Herrschaften auch die harte Garantie übernommen, daß das Verbot der Maiumzüge wirklich das kleinere Übel sei, und das glaubt heute kein Verständiger mehr. Denn ohne Zweifel hat man im Ministerium als sicher angenommen, daß die Polizei fähig sein würde, durch vernünftige Maßnahmen etwaige Krawalle schnell zu lokalisieren. Daß die Polizei durch ihr Auftreten die Tumulte erst herausfordern könnte, daran hat man bei Herrn Grzesinski wohl nicht einmal im Traume gedacht. Und daß man diese trübe Möglichkeit außer Acht ließ, ist allerdings ein grober Fehler. Denn im Innenministerium hätte man sich über den Geisteszustand der berliner Polizei im Reinen sein müssen.

Wiederholt hat sie versagt, wenn es gegen Übergriffe von rechts ging. Erinnert man sich nicht jener Wochen, wo es Sonntag für Sonntag hakenkreuzlerische Tumulte am Kurfürstendamm gab und nichts von Polizei zu sehen war? In einer stillen Nebenstraße sonnte sich grade der kommandoführende Offizier, das Auge harmonisch zum blauen Äther erhoben, um es sofort höchst ungnädig zu senken, wenn sich jemand unterstand, ihn aufmerksam zu machen auf das, was fünfzig Schritt weiter vor sich ging. Was hat man mit dem Mann gemacht, der Vorfälle in seinem Amtsbereich parteiisch übersah? Man hat ihn an die Polizeischule versetzt, um dort die jungen Talente zu bilden. Die berliner Polizei ist einseitig gegen Links gedrillt. Sie ist eine verhetzte, wildgemachte Bürgerkriegstruppe, von der man nicht jeden einzelnen Wachtmeister oder Leutnant zur Rechenschaft ziehen darf. Sie exekutiert nur, was sie gelernt hat und was sie für ihre Pflicht hält. Weil sie nur gegen Rot eingesetzt wird, kennt sie nur diese eine feindliche Farbe. Mit Staunen sahen die Berliner an jenem Maimorgen ihre Stadt überflutet von nervös erregten Uniformierten, die herumschnauzten und Stehenbleibende schroff weiterschoben. Schon in den Vormittagsstunden sahen die Mannschaften überanstrengt aus. Wie mögen sie an den Tagen vorher gebimst worden sein? Wie oft mögen sie über den Kasernenhof Laufschritt gemacht haben, die imaginäre Menge vor sich? Wie oft mögen sie jene Bretterbude gestürmt haben, die das Haus vorstellt, aus dem geschossen wird? Wie oft mag man sie unter schallenden Kommandorufen über die Eskaladierwand getrieben haben, um sie für den Barrikadenkampf firm zu machen? An diesem Morgen sah man in den Augen dieser Mitglieder einer ... nun, sagen wir ... einer Volkspolizei jene finstere, harte Entschlossenheit des Soldaten, der auf das Signal zum Sturm wartet. Diese schreckliche Bereitschaft jedes einzelnen Wachtmeisters mußte die Katastrophe beschleunigen. Nach schroffen Worten ging man schnell zu Püffen und Schlägen über, von den Schlägen zum Schießen. Als die Versammlungen zu Ende waren, als sich große Menschenmengen in den Straßen stauten, da sah der Polizist endlich den Feind vor sich, und das weitere wickelte sich mit aller andressierten Präzision ab. Harmlose Passanten sind niedergeschlagen, niedergeschossen worden, hinter Flüchtenden wurden Salven abgefeuert, es ist in die Hausflure und die Fenster geknallt worden, Bretter und Steine, von Flüchtenden über die Straße geworfen, um Zörgiebels wilde, verwegene Jagd für Minuten aufzuhalten, sind als Barrikaden mit Einsetzung feuerspuckender Panzerwagen überrannt worden. Und schließlich um den Heldentaten buchstäblich den Gipfel aufzusetzen – wurden arme Teufel, die in Todesangst in ein fremdes Haus gelaufen waren und sich auf dem Boden verkrochen hatten, tagelang als Dachschützen zerniert und ganze Straßenzüge in eine unbarmherzige Feuerzone verwandelt. Dachschützen –? Nein, Dachhasen! Arme menschliche Dachhasen, menschliches Wild, dem Kugeln um die Ohren pfeifen und das sich nur irgendwo hinducken will, wo es nicht gesehen wird. Herr Zörgiebel hat nachdrücklich erklärt, daß erst abends nach acht Uhr geschossen wurde, aber Wahrheit ist, daß mindestens im Scheunenviertel schon mittags zwischen zwölf und ein Uhr Leute mit Schußverletzungen eingeliefert wurden. Wenigstens an drei Stellen, am Bülowplatz, am Hackeschen Markt und am Senefelder Platz wurde schon am Mittag von den Feuerwaffen Gebrauch gemacht, und zwar wurden nicht Attacken abgewehrt, es wurde fast immer nur Weglaufenden in den Rücken gepfeffert. Ich kann durch einen einwandfreien Zeugen erhärten, daß am Bülowplatz am Mittag schon die Polizeiautos vom Fenster einer Privatwohnung aus von Offizieren dirigiert wurden. War diese Wohnung beschlagnahmt oder gemietet worden? Jedenfalls war in diesem Bereich der Kampf gut vorbereitet. Und ich frage Sie weiter, Herr Polizeipräsident, ist Ihnen die Eingabe der Bewohner eines Hauses in der Hermannstraße bekannt, die sich darüber beschweren, daß ein übelbeleumdetes Subjekt als Agent provocateur ein paar Schüsse abgefeuert hat, um so den Anlaß zu einer Erstürmung zu schaffen? Ist diese Eingabe bis zu Ihnen gelangt oder liegt sie irgendwo zerfetzt in einem Papierkorb?

Faßt man alles zusammen, was man aus den sogenannten Unruhegebieten hörte, so bleibt nur durch Zeugen belegt, daß sich um Mittag in der Kösliner Straße etliche rüde Burschen herumtrieben, die Passanten terrorisierten. Alles Andre handelt von den Übergriffen der andern Seite, von Willkür und Delirium als höchster Beamtenpflicht, – ungezählte Fälle, die die lange Skala von der ungerechtfertigten Belästigung bis zum eiskalten Mord durchlaufen und von denen hier einige in knapper Skizze aufgeführt werden sollen:

Der Angestellte Z., keiner politischen Partei angehörig, begibt sich von der Wohnung seiner Eltern in der neuköllner Schillerkolonade nach Hause. Er wird unterwegs von Schupobeamten ohne jeden Anlaß mit dem Gummiknüppel geschlagen, daß ihm das Blut aus Mund und Nase läuft. Auf seinen Protest wird er festgenommen und nach dem Alexanderplatz gebracht. Als er nachts unter heftigen Schmerzen nach Wasser verlangt, wird er von den Polizeibeamten an den Füßen gepackt und mit dem Kopf in einen Kübel kaltes Wasser getaucht. Am nächsten Morgen wird er entlassen.

Ein Arbeiter, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, wird am Nettelbeckplatz verhaftet und in einem Polizeiauto fortgefahren. In der Kösliner Straße fällt ein Schuß. Sofort wird wahllos in die Fenster geschossen. Der Verhaftete sieht, wie aus der dritten Etage des Hauses Nummer 19 ein Mann vorsichtig aus dem Fenster blickt und plötzlich getroffen zurücksinkt.

In der Gerichtstraße ertönt plötzlich der Ruf: »Straße frei!« und sogleich wird das Feuer eröffnet. Ein junges Mädchen, die mit zwei Kameraden spazieren ging, wird getroffen. Sie sinkt in einer Haustür zusammen. Niemand kümmert sich um sie. Später wird sie ins Krankenhaus geschafft, wo sie am 6. Mai stirbt.

Durch die Prinzenallee schleppt sich ein 57jähriger Kriegsbeschädigter. Plötzlich steht ein Schupomann vor ihm, der ihm mit wutverzerrten Zügen den Revolver unter die Nase hält. Der Mann weiß nicht, ob stehenbleiben oder weitergehen. Der Polizist rast einem neuen Opfer zu. Der Mann faßt seinen Eindruck in die Worte zusammen: »Ich hatte das deutliche Gefühl, dieser Schupo will und muß einen Toten haben!«

Ein besonderes Leidenskapitel sind überhaupt die Alten, die Gebrechlichen, die Kriegsbeschädigten, die Menschen mit künstlichen Gliedern, die nicht so flott laufen können wie die Polizei. Sie sind die gottgegebene Beute jener Jäger, denen ein größeres Wild versagt blieb. Es ist sogar ein Blindenhund niedergeschlagen worden, weil er bellte, als er seinen Herrn bedroht sah. Dem Hund ist kein Vorwurf zu machen, er hat das pflichtgemäß getan, als er seinen Herrn gefährdet sah, er hat sein Metier ebensogut gelernt wie die Leute, die ihn niederknüttelten.

Es laufen ungezählte Klagen ein, daß immer unmittelbar auf den Warnungsruf »Straße frei!« Schüsse folgten. Doch begnügte man sich nicht mit der Säuberung der Straße. Man feuerte zwischen die Unglücklichen, die sich in die Haustore flüchteten, man riß die Haustüren auf und funkte ins Dunkle hinein. So sind Schwergetroffene stundenlang liegen geblieben. Niemand nahm sich ihrer an. Ärzte getrauten sich endlich nicht mehr in die Gefahrenzone, weil die Polizei konsequent in ihrer Tobsucht auf alles Feuer eröffnete, was laufen konnte.

Ein Kaufmann aus der Hochstraße, am 1. Mai mittags auf einem Geschäftsgang nach dem Nettelbeckplatz begriffen, beobachtet einen Offizier aus dem Polizeiauto 26 408. Er ist besonders scharf und verjagt sogar das Publikum von den Haltestellen der Straßenbahn. Ein Zimmermann in Zunfttracht wird von ihm aus der Menge geholt und verprügelt, dann aufs Auto verladen. Mehrere Verhaftungen. Später wird der selbe Offizier auf dem Polizeiauto 57 710 beobachtet. Er läßt Ecke Weddingstraße und Kösliner Straße ohne Warnung feuern. Es wird auf zwei alte Leute geschossen, die aus dem Fenster sehen.

Zwei junge Arbeiter aus Neukölln, Brüder, verlassen am 1. Mai abends das Lokal Ecke Jägerstraße und Hermannstraße. Es ist draußen ganz leer. Plötzlich saust ein Panzerwagen heran: »Straße frei!« und im selben Augenblick Schüsse. Der eine von den beiden jungen Leuten sinkt, von einem Herzschuß getroffen, nieder. Es war kein Abstand zwischen Warnung und Schuß. Beinahe zwei Stunden liegt der Tote auf dem Pflaster, dann endlich Abtransport ins Krankenhaus Buckow.

Am 1. Mai wird die Lothringer Straße wiederholt »gesäubert«. Bei einer dieser Streifen kann ein Mann, der am Stock hinkt, nicht das gewünschte Tempo annehmen. Er wird niedergeschlagen und verprügelt. Dann wird nach den Leuten, die rundum davonlaufen, geschossen. Ein Schulmädchen wird ins Bein getroffen.

Am Alexanderplatz wird um Mittag eine Menschenansammlung zunächst humanerweise nur mit dem kalten Wasserstrahl behandelt. Das Publikum fährt schreiend auseinander. Ein Polizeiauto, aus der Prenzlauer Straße kommend, gerät mit dem Vorderrad aufs Trottoir. Ein Mann wird von dem Wagen erfaßt und erhält eine tödliche Verletzung der Schädeldecke. Niemand kümmert sich um ihn. Er bleibt liegen. Endlich will ihn jemand aufheben. Aber die Schupobeamten kommen dazwischen. Einer von den Polizisten sagt: »Läßt sich nicht ändern, da wird wohl nichts nach kommen«. Und sie packen den Sterbenden grob an, schütteln ihn wie einen Sack und werfen ihn auf den Wagen.

Ein ehemaliger Polizeibeamter, der seine zwölf Jahre abgedient und manche stürmischen Zeiten miterlebt hat, dem also das fachmännische Urteil nicht abgesprochen werden kann, sieht spät abends die bravourösen Exerzitien in der Hermannstraße. Er sieht die kommandierenden Leutnants, die sich wie im Kriege fühlen und die Mannschaften, die mit Todesverachtung Feuer eröffnen auf mehrere junge Burschen, die davonjagen, nachdem sie ein paar Bretter über den Weg geworfen haben, und er äußert zu dem ansehnlichen militärischen Schauspiel: »Herr, vergib ihnen ... Denn die Beamten haben ja nicht die Schuld. Die Art ihres Vorgehens wird ihnen von höherer Stelle befohlen.«

Die meisten bis jetzt niedergelegten Klagen von Geschädigten, Verprügelten und Verletzten stammen vom 1. Mai, einem Tag, der immer noch halbwegs kontrollierbar ist. Doch was mag sich in den drei Tagen nachher abgespielt haben, in jenen blockierten Zonen, wo man Dachschützen ausräuchern wollte und einstweilen drauflos sistierte und Wohnungen durchsuchte? Wie mag man mit den Unseligen verfahren sein, die ihr schwarzes Schicksal irgendwo an einer dunklen Straßenecke zu Gefangenen werden ließ? Eine kleine Probe nur gibt der Berichterstatter des ›Berliner Tageblatts‹ von der Durchsuchung des Hauses Ockerstraße 10: »Die Kriminaler dringen ein. Kommen nach einer kurzen Zeitspanne wieder heraus. Schleppen junge Burschen auf die Straße. Hände hoch! ... Einer hat in der Wohnung sogar eine ›Waffe‹ gefunden: ein verrostetes französisches Seitengewehr mit vernickeltem Griff ... Von der Wand herunter beschlagnahmt. Man kann nie wissen ... Jetzt drängt mich ein Offizier rechts ab in die Nebenstraße. Ich soll nichts sehen, scheint's.« Und weiter: »Waffen? Ich sah keine, wenn nicht Federmesser Dolche sind. – So geht es Block um Block. Durchsuchung und blindwütige Schießerei. Verprügelung der Hausbewohner, die von der Arbeit kommen.« Das war am hellen Nachmittag. Mit Dunkelwerden wird man sich einig, daß auch die Zeitungsschreiber als Feinde zu behandeln sind. Abends erlegt man zwei davon. Den Einen, trotzdem er einen Presseausweis vorzeigte. Weil! sagen die erbitterten Kollegen. Der Herr Polizeipräsident ist uns über diese Vorfälle wie über alles Andre einen detaillierten Bericht schuldig geblieben. Er verrät auch nicht, was nun eigentlich an feindlichen Waffen erbeutet worden ist. Er erklärt nur breitspurig: »Meine Maßnahmen waren notwendig, die Brandherde mußten niedergedrückt werden.« Auf diesen Brandherden ist nichts gesotten worden als die lügentriefenden Fisimatenten der Polizeiberichte, und die allerdings sind richtig hart gesotten worden. Ein Polizeipräsident, der seinem Posten gewachsen ist, hätte den gefährlichen Tag von vornherein etwas weniger kriegsmäßig aufgezogen und die grausigen Geschichten seiner Untergebenen mit der Skepsis des natürlichen Menschenverstandes betrachtet. Er hätte vor allem einmal für ein paar Stunden »seine Fühlung mit Partei und Gewerkschaften« vergessen müssen. Unter den ahnungslosen Augen eines verquollenen Parteimufti aber wird aus ein paar Straßentumulten, aus den Huhurufen dummer Jungen ein roter Aufruhr, den zu bändigen alle Staatsmacht eingesetzt werden muß. Weil das Verbot der Umzüge einmal erfolgt ist und von vielen Seiten die Klugheit dieser Entscheidung bezweifelt wird, deshalb muß jetzt die Rechtfertigung erfolgen. Je mehr Streitkräfte eingesetzt werden, desto stärker wird auch der Glaube an die gewaltigen Anstrengungen des Gegners.

Die Funktionärversammlung mochte Herrn Zörgiebel feiern und Kurt Rosenfeld, der ihm widersprach, beinahe von der Tribüne holen. Außerhalb der Cliquen und Claquen selbstgefälliger Würdenträger wird man anders denken. Wenn aus dem präsidialen Debakel des Herrn Zörgiebel nicht ein Debakel der Sozialdemokratie werden soll, wird sie dieses jeder Prämie werte Exemplar aus Sollmanns kölner Pflanzschule schnell opfern müssen. Zur Verfassungsfeier der Panzerkreuzer, zur Maifeier blaue Bohnen und dazwischen ein Wehrprogramm, das ist selbst für die geduldigste der Parteien etwas zu viel und zu schwere Kost für einen nach fast einjähriger Regierungsbeteiligung noch immer nüchternen Magen. Am 1. Mai sah man überall in Arbeitervierteln schwarzrotgoldne Fahnen wehen. Ein Beweis dafür, wie sehr man trotzalledem auch in der Arbeiterschaft noch immer auf die demokratische Republik hofft. Doch am gleichen Abend schon, als Zörgiebels Reisige bereits munter am Werk waren, da wirkten diese Fahnen wie ein klägliches Symbol geschändeten Vertrauens. Unzählige treue Menschen, die noch immer an die Sozialdemokratie geglaubt haben, werden in alle vier Winde laufen. Die Einen zu den Kommunisten, die Andern nach Rechts. Den Propheten roter und weißer Diktaturen werden diffuse Scharen enttäuschter Sozialdemokraten zuwandern, die sich an Programme heften werden, die ihnen nichts sagen und nichts geben können. So hat Herr Zörgiebel nicht nur seine Partei blessiert, er hat die ganze Linke, die ganze deutsche Republik getroffen. Daß ihn sein Parteivorstand in grundsätzlicher Verkennung der Sachlage zu halten sucht, überrascht nicht. Aber er wird sich nicht halten können. Er hat namenloses Unheil angerichtet. Er möge sich baldigst zum Teufel scheren.

Die Weltbühne, 14. Mai 1929


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