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Als vor ein paar Wochen das berliner Demonstrationsverbot aufgehoben wurde, nahmen einige republikanische Blätter die Gelegenheit wahr, um der Einsicht des Herrn Polizeipräsidenten zu huldigen. Die Entzückten hatten dabei nicht in Betracht gezogen, daß Herrn Zörgiebel wohl nichts andres übrigblieb: denn es gibt nicht nur einen 1. Mai, sondern auch einen 11. August. Es gibt Tage, an denen auch die behutsamsten Staatslenker das Volk gern auf der Straße sehen und die dadurch entstehenden Verkehrsstörungen gern in den Kauf nehmen. Und würde sich selbst Künstlers Biervision: die Baugrube am Alexanderplatz von zweihundert Toten gefüllt, nochmals wiederholen, keine apokalyptische Schrecknis könnte den Herrn Polizeipräsidenten zwingen, dem republikanischen Volk, das sich freuen will, die Straße zu verwehren. Nun, allzu gigantische Formen dürfte der Jubel nicht annehmen. Das Reichsbanner wird seine wohlorganisierte Begeisterung vorführen, die offiziellen Festreden werden überschwanglos vorübersäuseln, der schlichten Tatsache bewußt, daß der gegenwärtige Präsident der demokratischen Republik weder Demokrat ist noch Republikaner. Die zahlreichen kritischen Köpfe aber, die es in allen Parteien der Linken gibt und die, allen verzweifelten Bemühungen der Parteivorstände zum Trotz, noch immer nicht völlig ausgemerzt sind, werden sich erinnern, daß voriges Jahr, grade am Verfassungsgeburtstag, die Bewilligung des Panzerkreuzers durch das Kabinett der linksradikalen Maiwahlen bekanntgegeben wurde. Ein sehr geschmackvoller Einfall, in der Tat, ein überwältigendes Zeugnis dafür, wie hoch die Herren Minister der Linken die republikanischen Massen einschätzen, die sie an jedem 11. August zum Freuen auffordern. Die köstliche Festgabe des Vorjahrs ist noch unvergessen, und mit Zagen nur fragt man sich, was für eine schöne, mit Steuergeldern rundgemästete Kröte es wohl in diesem Jahre zu schlucken geben wird. Eigentlich sind solche Anstrengungen gar nicht mehr nötig, denn das in diesen Monaten servierte Menü war überladen mit Gerichten, die auch dem Geduldigsten die Republik verekeln können. Es gehört schon eine faustdicke Ahnungslosigkeit dazu, nach einem Jahre der Niederlagen zur Feier der Verfassung aufzufordern. Erwartet man am Wedding und in Neukölln, wo die Erinnerung an die Toten der ersten vier Maitage noch frisch ist, schwarzrotgoldene Fahnen? Wenn die Feiern einen Sinn haben sollen, so kann er nur der sein, in Erinnerung zu rufen, daß die Konstitution von Weimar besser ist als ihre Hüter, die sie dilettantisch handhaben und, wenn es ihnen so paßt, in kühner Schwenkung umgehen.
Doch selbst diese Verfassungsfeiern, deren lederner Amtsstil heute abstößt und einschläfert, haben einen radikalen Ursprung. Sie sind spontan entstanden in den Zeiten von 1920 bis 23, als Republikaner abgeschossen wurden, ohne daß man sich viel Mühe gegeben hätte, die Mordtaten zu sühnen, und als es überhaupt noch nicht zum guten Ton gehörte, sich öffentlich zur Republik zu bekennen. Die schnell improvisierten Meetings von damals hatten einen großen Impuls; sie dienten auch gar nicht dem Zweck, zum tausendsten Male zu wiederholen, wie gut man es in Weimar gemacht habe und was für ein freiheitliches und demokratisches Land wir infolgedessen geworden seien, nein, sie wollten mobilisieren, zur Verteidigung der bedrohten Republik auffordern. Seitdem hat Vater Staat die Sache selbst in die Hand genommen, und aus der leidenschaftlich emporschießenden Flamme ist in seiner Regie eine nach schrecklich viel Eigenlob duftende kleine Tranfunzel geworden. So erfahren wir an jedem 11. August, daß die erwählten Lenker des Staates mit ihrer Arbeit zufrieden sind. Sie ermahnen uns, hübsch ruhig zu sein, dann werde es noch viel besser werden. Was ein Bundesfest aller freiheitgewillten Bürger hätte werden können, das ist in Wahrheit ein Paradetag für republikanischen Byzantinismus aller Art geworden, in seinem vorsichtig dosierten Temperament und seinem Mangel an eigenwüchsigen Formen ein in den Hochsommer versetzter 27. Januar. Die selbstgestellte Apotheose zufriedener Bratenröcke bedeutet keine politische Erhebung und noch viel weniger den staatsbürgerlichen Augenblick, der zum Verweilen einladet, weil er so schön ist.
Grade in diesem Jahre bietet der Verfassungstag bitterernsten Stoff zum Nachdenken, das in viel dunklere Bereiche führt als in die sanfte Rosabeleuchtung der offiziellen Festesstimmung. Denn stand in frühern Jahren das republikanische System durch Stöße von außen manchmal in Frage, so ist es jetzt durch seine eigne Schwäche, durch seine eigne Planlosigkeit zweifelhaft geworden. Es ist ein trauriger Gedanke, dem dennoch kein Wahrheitliebender feige ausweichen darf: in diesen zehn Jahren, die seit der Annahme der Verfassung von Weimar vergangen sind, hat die Republik die Gesetze ihrer Funktion noch nicht halbwegs begriffen. Die Instrumentation wird falsch und stümperhaft gehandhabt, ohne ersichtliche Ursachen fällt der Staat aus einer Krankheit in die andre, und jede einzelne wird mit Mitteln kuriert, die mit dem Geist der Republik nichts zu tun haben. Wenn es gar nicht mehr weitergeht, wird die Krankheit jedesmal mit einer Verfassungsverletzung kuriert. Die Geschichte der neuen Verfassung ist nicht eine Geschichte ihrer Erfüllung, sondern ihrer Verletzungen. Man hält das für staatsmännisch, für realpolitisch oder sonstwas. Deutschland fehlt noch immer jener Respekt vor dem Verfassungsbuchstaben, der alle gut funktionierenden Demokratien auszeichnet. Kein englisches oder französisches Kabinett könnte sich einen Tag halten, das so weitherzig mit den konstitutionellen Garantien umgeht, wie es unsre verschiedenen Regierungen getan haben. »Irgendwie muß doch regiert werden!« rief Reichskanzler Luther einmal, in die Enge getrieben, aus, und verkündete damit den eigentlichen Staatsgrundsatz, mit dem sich jede, aber auch jede Regierung seit 1919 bisher aus ihren Klemmen gezogen hat. Unser ganzes parlamentarisches Leben steht noch ganz und gar in der Erinnerung an den wilhelminischen Absolutismus, wo der Reichstag zwar viel zu reden aber nichts zu beschließen hatte und jede noch so arge Kalamität endlich durch ein allerhöchstes Machtwort beschlossen wurde. Dadurch ist ein Zustand von Unsicherheit geschaffen worden, der den Glauben an die Möglichkeiten der Republik lähmt, um die Bezirke der Politik die Zone einer kühlen, etwas verächtlichen Skepsis legt und vor allen Dingen den heute Zwanzigjährigen das triste Bild eines Systems zeigt, das nicht klappen will. Das ist viel schlimmer als akute Bedrohung, die es gar nicht mehr gibt. Dafür ist die Zukunft eine einzige Drohung geworden, und so wenig sich eine ins Einzelne gehende Prognose stellen läßt, so gewiß fühlt man überall hinter dem selbstgefälligen Kulissenkult dieses Parlamentarismus eine kommende Wirklichkeit voll dunkler und erschütternder Abenteuer. Der Deutsche ist noch immer so bar aller Staatsgefühle wie in der kaiserlichen Zeit. Nur ist der Staat noch viel unbeliebter als damals, denn er ist dem Einzelnen als Polizist oder als Steuereintreiber viel näher gerückt. »Wir müssen den Staat wieder so lieben lernen, wie wir im Kriege unsre Kompagnie geliebt haben«, verkündete neulich der ewig irrende Ritter Arthur Mahraun durch den berliner Rundfunk. Lieber guter Ritter, so ist es schon lange.