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Der große moskauer Prozeß gegen die Verschworenen der Industriepartei wird im Gegensatz zu dem Verfahren gegen die Achtundvierzig öffentlich geführt. Da aber auch dieser Prozeß recht inszeniert wirkt und es nur einen einzigen zensurierten Bericht gibt, da zudem der gradezu encyklopädischen Geständnisfreude des Angeklagten Ramsin kein hoher Materialwert beizumessen ist, so nötigt das zu der ernsten Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Aufmachung, die eine klare Meinungsbildung über Schuld oder Unschuld der Angeklagten verhindert. Wann hat es in politischen Prozessen nicht Angeklagte gegeben, die alles gestanden, was das Gericht verlangte? Deutsche Kommunisten werden sich an den herrlichen leipziger Tschekaprozeß erinnern, in dem der Angeklagte Neumann, zugleich der Kronzeuge des Reichsanwalts gleichen Namens, mehr als genug gestand, um ein ganzes Schock von Mitangeklagten ins Zuchthaus zu bringen, während sich die Verteidigerbank nach Kräften um den Nachweis bemühte, daß es sich hier um einen phantastischen Lügner handle. Außerdem scheinen Ramsins Aussagen über das Zusammenspielen der Verschworenen mit Briand und Poincaré allzu sehr den populärsten Agitationsphrasen angepaßt, um den Zweifelnden zum Glauben zu bekehren. Dieser Prozeß müßte grade für den gesinnungstreuen Anhänger der Sowjets ein fühlbares Manko aufweisen: er deckt keine wirklichen Machinationen auf sondern serviert nur eine nicht sehr dichte Kompilation, um gegen ein paar europäische Mächte Stimmung zu machen, wobei England besser wegkommt als Frankreich, was durchaus dem tagespolitischen Bedürfnis entspricht. Auch Italiener sind an diesem Weltkomplott gegen die Sowjets nicht beteiligt; das würde sich auch wohl Herr Grandi nicht gefallen lassen. Es gibt genug antirussische Machinationen in der Welt und wohl auch Verschwörung und Sabotage in Rußland selbst. Aber wenn ein Prozeß so bewußt theatralisch arrangiert wird wie ein altspanisches Autodafé, wenn ein andrer Prozeß mit vier Dutzend Angeklagten im Dunkeln abgewickelt wird, wenn Verhaftung, Verhandlung und Hinrichtung im Geheimen erfolgen, und dem entsetzten Rechtsgefühl nichts geboten wird als die plakatierte Behauptung von der Schuld der Opfer, so muß ich zu dem Schluß kommen, daß hier nicht der Wille zur Wahrheit gewaltet sondern eine fatale Staatsraison gewütet hat, der es auf ein paar Justizmorde nicht ankommt. Solche Verfahren sind nicht gerechter als die gegen Kommunisten, die von bürgerlichen Gerichten aller nur ausdenkbaren Schandtaten bezichtigt werden, nur daß in Westeuropa der letale Ausgang für die Beklagten nicht so sicher ist wie in Moskau. Was verspricht sich die Staatsraison von diesen Prozessen? Ihr politischer Schaden ist größer als ihre abschreckende Wirkung. Die ältesten und leersten Phrasen gegen Sowjetrußland erhalten wieder frisches Blut. Das moskauer Regime wird wieder als so bedroht gelten, daß es sich nur durch Terror halten kann. Hinzu kommt noch der wahrhaftig nicht gewünschte Eindruck, daß die Rigorosität gegen die Spezialisten, die Techniker, die geschulte Intelligenz, grade die schwächste Seite der proletarischen Diktatur in Rußland zeigt: nämlich die Unfähigkeit des siegreichen Proletariats, in diesem unentwickelten Lande den sozialistischen Umbau ohne klassenfremde Kräfte zu vollziehen. Befinden sich aber die so dringend gebrauchten Sachverständigen schon in Meuterstimmung, daß sie dutzendfach ekrasiert werden müssen – ist dann nicht die ganze Konstruktion erschüttert? Übrigens kann man auch von Oppositionellen hören, Stalin wünsche ausländische Spezialisten, deshalb müsse die Untauglichkeit und Unzuverlässigkeit der einheimischen besonders erhärtet werden. Wie es damit auch steht, diese Prozesse sind nicht geeignet, die kapitalistischen Mächte zu ängstigen, wenn irgend etwas, so sind sie dazu angetan, Hoffungen auf einen baldigen Thermidor zu erwecken. Diese Hoffnungen werden irrig sein, denn der Kapitalismus ist in Rußland gründlich ausgerottet. Nicht so der Zarismus, dessen Methoden noch eine gespenstische aber gefährliche Existenz führen. Mögen sie bald verschwinden, ohne durch eine letzte Krise das sozialistische Werk zu gefährden. Ich verkenne nicht die besondere und tragische Lage Rußlands, ebenso dürfte der gute Glaube der Richter außer Zweifel sein, denen das in Europa und Asien vergossene Kommunistenblut vor Augen schwimmt und die nur dem Gesetz des Talion folgen. Diese prozessualen Formen jedoch und diese Erklärungen in der Parteipresse, die so anspruchslos sind, als wäre die Welt ein einziger kommunistischer Kindergarten, das sind kapitale Dummheiten. Es kursiert eine kleine Broschüre, in der viel über die Pjatiletka, wenig Konkretes über die Schuld der Angeklagten, dagegen soviel Polemisches gegen den alten Kautsky zu finden ist, daß der arme Leser schließlich vermeinen möchte, dieser ehrwürdige Patriarch wäre der eigentliche Anstifter der Sabotageakte, was ein kleiner Irrtum ist, denn der Theoretiker Kautsky hat bisher nichts sabotiert als sich selbst. Und zu allem Unglück läuft noch mancher deutsche Parteigänger des Kommunismus in einem wahren Blutrausch herum und klaubt Zitate zusammen, um da noch wissenschaftlich zu definieren, wo die schlichte Empirik des Henkers die Schlußpointe setzt. Denn es gibt eine kommunistische Scholastik hierzulande, die durch keine neue Situation in ihrer Mundfertigkeit beeinträchtigt wird, und die auch die notwendigen Marxzitate parat hätte, wenn es Stalin plötzlich gefiele, katholisch zu werden. Ihr unkritisches Partisanentum macht diese Bemerkungen notwendig, die zugleich als Beitrag zu unsrer Diskussion über die moskauer Urteile gelten mögen, die an andrer Stelle weitergeht.
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Mit der Erregung der beleidigten Tugend wendet sich der ›Vorwärts‹; gegen die Behauptung der Wirtschaftspartei, die Regierung Brüning lehne ihre Politik zu sehr an die Sozialdemokratie an: »Diese Formulierung könnte Anlaß zu der Vermutung geben, daß die Regierung Brüning der Sozialdemokratie irgendwelche bedeutende Zugeständnisse gemacht hat. Dies ist jedoch nach unsrer Unterrichtung keineswegs der Fall.« Das walte Gott. Es ist nicht wahr, daß wir für unsre Unterstützung des Reichskabinetts irgendwelche Gegenleistungen erhalten. Wahr ist vielmehr, daß wir die Kosten dieses Bündnisses ganz allein tragen und wir mit unsern Händen kaum die Prügel zu fassen vermögen, die unser Rücken empfängt. Die Sozialdemokratie funktioniert gratis. Andre tuns nicht, wie das Beispiel der Wirtschaftspartei beweist, die Herrn Professor Bredt, den von Herrn Drewitz gebackenen und mit einigen Mohnkörnchen verzierten Justizminister, mit beachtlichem Getöse aus der Reichsregierung gezogen hat. Einstweilen wird noch verhandelt, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die wertvolle Kraft des Herrn Bredt der Regierung weiter erhalten bleibt, ungewiß ist allerdings noch, ob das auch die Rückkehr seiner Partei in die Regierungsgruppen in sich schließt. Jedenfalls ist die parlamentarische Mehrheit Brünings wackelig geworden. Das ist der Erdrutsch in zweiter Auflage. Die Schuttmassen der bürgerlichen Parteien poltern herunter, voran die Wirtschaftspartei. Herr Brüning will mit Notverordnungen weitermachen, die Kronjuristen brüten unter ihren Perücken, ob auch verfassungsändernde Gesetze auf dem Verordnungswege erlassen werden können oder ob sich nicht der verfassungsändernde Charakter in irgend einer Form cachieren läßt. Das ist nicht verwunderlich. »Professoren und Huren kann man immer haben«, hat einer der hochseligen Könige von Hannover gesagt, aber verwunderlich ist, daß selbst versierteste Republikretter dem zustimmend zusehen und gar nicht ahnen, daß dies das Ende des republikanischen Verfassungsstaates bedeutet. Nichts verhindert in Zukunft einen andern Wunderdoktor, den ersten Satz des Artikels 1 der Verfassung: »Das Deutsche Reich ist eine Republik«, einfach wegzuverordnen, nachdem sich der zweite Satz: »Die Staatsgewalt geht vom Volke aus«, schon lange unter Zustimmung aller Beteiligten still erledigt hat. Dafür aber wird dem deutschen Volke noch einmal eine schöne Illusion außenpolitischer Energie gegeben. Ein Protest gegen die Bedrückung seiner Brüder in Polen erweckt die Vorstellung, daß die gleichen Männer, die imstande sind, seine verfassungsmäßigen Rechte so elegant abzutun, auch Herrn Pilsudski imponieren können. Wäre der deutsche Republikaner nicht ein so kümmerlicher Patient, dem seine Ärzte bis zur gelungenen Abführung der Verfassung alles Denken streng untersagt haben, er würde diese neue Escapade zu verhindern trachten. Selbstverständlich geht es den Deutschen in Polen schlecht, ebenso schlecht wie allen politischen Gruppen, die Opposition wagen. Herr Zaleski wird leicht nachweisen können, daß es kein Meisterstück der deutschen Minorität war, ihr Geschick grade mit ihrem Todfeind Korfanty zu verknüpfen, der heute in einer Gefängniszelle an die Zeit zurückdenkt, wo er noch als Nationalheld umjubelt wurde. Diese Protestaktion wird einen Stoß ins Leere führen, also Ursache genug, möglichst einmütig anzutreten. Aber grade die sozialistische Partei sollte solchem Ablenkungsmanöver wehren. Deutschland braucht Brot, nicht Feuerwerk. In den nächsten Tagen werden die Trümmer der bürgerlichen Parteien ihre Forderungen zur Geltung bringen und nicht nach den Folgen fragen. In diesem Ansturm der Interessenten, die alle auf Kosten der Arbeiterschaft zufriedengestellt sein wollen, kann die Partei, die den Klassenkampf in ihrem Programm führt, nicht allein wirtschaftsfriedlich bleiben, nicht allein entsagend und nazarenisch. Der Erdrutsch in dritter Auflage wird die Sozialdemokratie nicht verschonen, und es bröckelt schon heute.
Die Weltbühne, 2. Dezember 1930