Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Wilhelm und Jeremias

Auf unsern Universitäten, wo der Geist einer jungen Generation geprägt wird, hat sich in diesen Jahren unter den Augen einer langmütigen Obrigkeit ein Feiertag herausgebildet, von dem das Gesetz nichts weiß: der Tag der Reichsgründung. So säumig oder offen resistent sich die meisten Universitätsbehörden auch am 11. August verhalten mögen – am 18. Januar, da stehn die ältesten akademischen Petrefakte in tropischer Blüte. Es ist kennzeichnend für den Geist unsrer Universitäten, daß diese Feier kein Stückchen Zukunft in sich trägt, denn was auch kommen möge, dieses Reich wird niemals wiederkehren. Der 18. Januar ist der Geburtstag einer schnell verflogenen historischen Illusion. Grade deshalb fühlen sich die Herren Professoren dabei so wohl. Sie trinken der Vergangenheit ein Schmollis zu, und unter krachenden Plastrons dehnt sich die Brust in der Verzückung vaterländischer Sechserromantik. Die Dynastie der Hohenzollern ist vergangen, ihre wissenschaftliche Leibgarde ist geblieben und steht Posten vor dem leeren Schloß, wofür die Republik treulich Sold bezahlt.

Doch nicht alle Professoren werden für den heiligen Eifer, den sie der Monarchie bis heute bewahrt haben, so wahrhaft kaiserlich begnadet wie der Herr D. Doktor Alfred Jeremias, Professor der Theologie in Leipzig, dem der emeritierte Summus episcopus der preußischen Landeskirche zu einem soeben erschienenen theologischen Traktat das Vorwort geschrieben hat. Der Herr D. Doktor hatte nämlich einen Aufsatz verfaßt: »Die Bedeutung des Mythos für die Dogmatik«, und dann geschah das Wort des Herrn aus Doorn also zu Jeremias: »Der Aufsatz war S. Majestät Kaiser Wilhelm II. in Doorn zu Gesicht gekommen. S. Majestät forderte mich durch ein Handschreiben vom 8. November 1929 auf, den wissenschaftlichen Aufsatz gemeinverständlich auszugestalten und als Ruf zum Zusammenschluß um den ›gewaltigen Welterlöser, den Heliand‹, hinauszusenden. Für die Ausgabe der Schrift übersandte S. Majestät persönlich das nachfolgende Geleitwort.« Das sanftlebende Fleisch des leipziger Gottesgelehrten erschauerte in Ehrfurcht ob dieser mystischen Berufung; er setzte sich hin, gestaltete die Schrift gemeinverständlich aus und versah sie mit dem gemeinverständlichen Titel: »Die Bedeutung des Mythos für das apostolische Glaubensbekenntnis« (Adolf Klein Verlag, Leipzig). Wer sie nicht liest oder darüber einschläft, wird deswegen wohl nicht gleich in die Hölle kommen. Der größern Sicherheit halber fleht der fromme Jeremias auch noch Gottes Segen auf das Büchlein herab, aber der profane Leser begreift nicht recht, was bei so vornehmer Gevatterschaft der liebe Gott noch soll.

Der Vorwortschreiber Wilhelm zeigt sich in unverblichenem Hochglanz. Es ist alles noch da: die konfuse Belesenheit, die schreckliche Interessiertheit für alles und jedes, der unnachahmliche Mangel an Geschmack und Takt. Die Suada des Siebzigjährigen hat nichts von ihrer Vehemenz eingebüßt; er schwabbelt in gewohnter Geläufigkeit drauf los. Wilhelm ergeht sich in der Betrachtung eines Erlebnisses im Hauptquartier Mezières-Charleville. Er hatte bei einem Spaziergang einen ganz im Efeu versunkenen Kruzifixus entdeckt, den er von Pionieren freilegen ließ. Rührend diese Sorge für einen hölzernen Heiland, wo sich ein paar Meilen weiter in Fleisch und Blut das Leiden Christi bis zum letzten bittern Ende hunderttausendfach wiederholte. Selbstverständlich wird für Wilhelm die Entdeckung des Kruzifixus zu einem beinahe supranaturalistischen Vorgang, woraus sich dann später gewichtige Folgen für Religion und Theologie ergeben. Doch hier muß das gesalbte Original selbst sprechen:

»Wir hatten uns alle vor dem Kreuz zusammengefunden, es in Stille und Ehrfurcht betrachtend. Da mit einem Male fing die Gestalt des Herrn an zu glühen. Die aus der dicken Wolkendecke in ein freies Himmelstück herabtauchende Abendsonne übergoß den Heiland mit rotgoldigem Licht. Sein Antlitz wurde sprechend lebendig. Unwillkürlich nahmen wir unsre Kopfbedeckungen ab, auf das Tiefste von dem Anblick ergriffen. Unsre braven Pioniere standen festgewurzelt wie Säulen und ›machten Front‹ vor ihrem Herrn! Erhaben, überwältigend! –

Ich ließ dem Pfarrer das Geschehene melden. Er dankte mir durch meinen Adjutanten in rührender Weise: er hoffe, daß Einheimische wie Reisende, die Stelle besuchend, einige Minuten der Andacht dort verbringen würden, ›nachdem der Kaiser ihnen ihren Heiland wieder zurückgegeben habe‹.

Die hier folgende Schrift des Professor Jeremias vollbringt auf geistigem Gebiet die oben angeführte Arbeit. Von Überwucherung des Rankenwerkes der Religions-Philosophie und Theologie befreit er den Herrn und zeigt ihn uns in der schlichten, ehrfurchtgebietenden, menschlich-göttlichen Gestalt des kosmischen, alle Welt umfassenden, Christen, Juden und Heiden retten wollenden Christus, des Gottes-Sohnes.

›Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja, freilich auch der Heiden Gott.›

In Zeiten schwerster Seelennot geben Deutsche ihrem Volk, ja der ganzen Welt, die befreite Gestalt des großen Weltenerlösers wieder zurück. ›Ich und der Vater sind Eins; wer Mich siehet, der siehet den Vater!‹«

Das ist der liebe alte Tatü-Tata-Stil, mit dem der Großkhan der Teutonen einmal seinen Schauspielern vormachte, wie sie gehen, den Malern, wie sie malen, den Engländern, wie sie die Buren schlagen sollten. Wilhelm dekretiert Welterlösung, wie er früher Kunstgeschmack oder Krieg oder einen neuen Gefreitenknopf dekretierte. Als vorsichtiger Mann läßt er auch die Juden in seinen Heilsplan einbeziehen, weshalb ihn sicher ein paar völkische Reventlöwen anknurren werden. Der leipziger Theologe hat seinen Auftrag wie ein loyaler Untertan ausgeführt, wenngleich er vielleicht etwas verwundert sein wird, daß S. Majestät einer bescheidenen Gelegenheitsarbeit solche Bedeutung beimißt. Das Gros der evangelischen Christen wird, wie unsre braven Pioniere, Front machen vor einer imperialen Genialität, die selbst in dem heutigen pensionierten Zustand noch imstande ist, dem lieben Gott in einer gottlosen Welt wieder auf die Beine zu helfen, und nur ein paar wirklich fromme Menschen werden ob der überwältigenden Geschmacklosigkeit dieses Schauspiels festgewurzelt wie Säulen stehen.

Im übrigen aber gilt das Wort der Schrift: »Sage dem Könige und der Königin: Setzet euch herunter, denn die Krone der Herrlichkeit ist von eurem Haupt gefallen.« (Jer. 13, 18.)

Die Weltbühne, 28. Januar 1930


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