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In der Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens befaßt sich deren Leitartikler, Herr Ludwig Holländer, mit der Staatspartei und mit den verwickelten Erklärungen Herrn Mahrauns, ob er und seine Freunde nun Antisemiten sind oder nicht. Wir würden uns mit dieser Auseinandersetzung nicht beschäftigen, wenn nicht das Blatt für gut hunderttausend unsrer jüdischen Mitbürger ein Orakel bedeutete und schon oft eine lebhafte meinungbildende Kraft bewiesen hätte. Die Gerechtigkeit gebietet vorauszuschicken, daß der C.V. niemals zu den jüdischen Offensivtruppen gehört hat, sondern immer weit mehr jenem israelitischen Heereshaufen gleicht, der dem Zweikampf Davids mit Goliath interessiert zusah, als dem kühnen Hirtenknaben selbst. Vom C.V. war demnach nicht mehr zu erwarten als ein höfliches Verharren in einer traditionellen Position, mehr Wehleidigkeit als Militanz. Es ist aber viel ärger gekommen: Herr Holländer trompetet mit vollen Backen zum Verlassen der alten Stellung. Natürlich kann er Bedenken nicht ganz verschweigen, nicht ganz untern Tisch fallen lassen, daß der Jungdeutsche Orden noch immer an seinem Arierparagraphen festhält und Herr Mahraun noch jetzt auf der Zinne der neuen Volksgemeinschaft etwas viel von »christlicher und deutscher Kultur« schwafelt. Was das bedeutet, weiß nach der langen leidvollen jüdischen Vergangenheit wohl selbst der irrste Gemeindeirre, und nur der Leitartikler des C.V. dreht und deutelt daran. Herr Holländer meint: »Wenn völkische Grundlagen bedeuteten: Erhaltung von Vaterland und Kultur, so würden die Massen der Juden mit Mahraun einig sein. Wenn sie aber heißen: Ausschluß einer angeblich fremden, im Gegensatz zur übrigen deutschen Bevölkerung befindlichen ›Rasse‹, so muß eine solche Auffassung als unwissenschaftlich und kulturzerstörend zurückgewiesen werden.« Aber Gottseidank hat sich Herr Mahraun seitdem wieder beruhigend geäußert, und deshalb darf Herr Holländer in Sperrdruck der neuen Partei das Plazet des Rabbinats geben: »Vom Standpunkt des Central-Vereins kann deshalb die Deutsche Staatspartei als ›bedenkenfrei‹ bezeichnet werden.« Und dann noch ein gutes Wort für die Unzufriedenen: »Gewiß widerspricht vieles, was hier gesagt wird, der Gemütseinstellung einer großen Reihe unsrer Freunde. Das wissen wir und das verstehen wir. Immer, wenn Altes überwunden wird und Neues geschaffen werden soll, gehen Gemütswerte verloren.« Ich weiß nicht, ob Herr Holländer auch das Schamgefühl zu den Gemütswerten rechnet, denn das vor allem scheint uns bei dieser feinen Konstruktion in die Binsen zu gehen. Das hätte einer noch vor einem Jahre zu sagen wagen sollen, daß das C.-V.-Blatt, das Fachorgan des deutschen Judentums sozusagen, eine versöhnliche Exegese des bösen Wortes »völkisch« seinen Lesern als verbindlich aufzureden versuchen würde! Und warum diese plötzliche Umstellung? Herr Holländer verweist auf die »heutige Zeit, in der sich alles wandelt«. Nun, die heutige Zeit hat nicht mit der Gründung der Staatspartei begonnen. Das ist eine gelinde Übertreibung. Doch auch der alten Zeit wirft Herr Holländer einen respektvollen, wenn auch kühlen Abschiedsblick zu: »Der liberale und demokratische Gedanke hat die gesetzliche Gleichberechtigung der Judenheit in hohem Maße gefördert. Auf seiner Grundlage wurden wir von Geknechteten und Unterdrückten zu Vollbürgern. Es ist deshalb verständlich und begreiflich, daß eine große Anzahl von Juden sich zur bürgerlichen oder zur sozialistischen Demokratie bekannte und bekenne. Das Gewicht der geschichtlichen Tatsachen zog sie zu dieser Auffassung. Dem widerspricht auch nicht der Umstand, daß die Entwicklung und die neue Zeit unsre Freunde vielfach zu andern Parteien treiben, weil auch bei uns Liberalismus und Demokratie vielfach nicht mehr ihr früheres Vollgewicht besitzen.« Da erhebt sich nun die Frage, welche Bewegung denn den C.V., ja das ganze Bürgertum so furchtbar durcheinander gequirlt hat, daß alle diese nicht mehr ganz frischen Tribunen von den Deutschnationalen bis zu Hansafischer von »neuer Zeit« und »neuer Jugend« reden, von den großen »neuen Ideen«, die einstweilen noch in der Luft segeln, aber morgen schon alles umgestaltet haben können. Weshalb flüchten denn die einen hinter den alten Marschall, die andern hinter den Hoch- und Tiefmeister Mahraun? Gibt es denn einen Verständigen unter uns, der glaubt, daß die Nazisozis Deutschland morgen in der Tasche haben und à la Horthy regieren werden? Oder gibt es jemanden, der sich einbildet, daß die Kommunisten schon im Herbst ihr Sowjet-Deutschland aufmachen könnten? Weshalb diese Panik, diese allgemeine Auf- und Anbruchstimmung? Die bescheidene Ursache dieser plötzlichen Unruhe, die eruptive Energie, die die unpolitische, zähe deutsche Bürgerseele unvermutet flüssig macht und sie ungeheure Ströme von ideologischem Pfannkuchenteig übers Land strömen läßt, ist eine nicht grade erschütternde Portemonnaiefrage. Seitdem sich vor etwa zwei Jahren herausstellte, daß unser Steuersystem ins Wackeln gekommen war und die, die es haben, etwas mehr an direkten Abgaben leisten und einen größern Anteil an den Soziallasten tragen müßten, seitdem werden die Krisengemälde immer schreckensvoller, und seitdem raucht der Pfannkuchenkrater der deutschen Metaphysik wie seit 1914 nicht. Es ist allzu billig, auf die wirtschaftliche Depression der ganzen Welt, auf die Schwierigkeiten des kapitalistischen Systems auf dem ganzen Erdenball zu verweisen. Die aktuelle Aufgabe für Deutschland ist, daß der Kapitalismus einen geringen Prozentsatz nur beizusteuern hätte, um ärgste soziale Kalamitäten zu beseitigen. Um diese paar Prozent pflegten Monarchen oder Träger gesellschaftlicher Systeme von jeher zu feilschen. Um diese paar Prozent wurden von jeher die Kanonen aufs Volk gerichtet, und diese paar Prozent haben schließlich alle Revolutionen herbeigeführt. Das deutsche Bürgertum galoppiert Hals über Kopf aus seinen überlieferten Programmen und Ideengebäuden und läßt den alten Parteihabit hinter sich. Und die jüdische Bourgeoisie findet, daß Liberalismus und Demokratie, die Mächte ihrer Emanzipation, das frühere Vollgewicht verloren haben, und wirft sich lieber in ein verzweifelt ungewisses Abenteuer. Aus Furcht vor materieller Einbuße gesellt sie sich zu Leuten, die »an den Grundsätzen der christlichen und deutschen Kultur« nicht rütteln lassen wollen, die aber um diese Konzession bereit sind, jüdisches Geld zu verteidigen. Dabei macht es sich Herr Holländer noch einfach, indem er sich an die sanftesten Äußerungen Mahrauns hält. Es wird Stellungnahme zu ärgern Zitaten, wie dem jüngst in der ›Germania‹ mitgeteilten, vermieden: »Die Judenfrage laßt sich nicht so lösen, wie es viele Fanatiker wollen. Wenn man eine Wunde am Körper hat, so nützt es nichts, das Geschmeiß der Fliegen fortjagen zu wollen. Man muß dafür sorgen, daß die eiternde Wunde heilt, daß der Körper gesundet, dann fliegen die Fliegen allein fort.« Der Herold des C.V. zuckt die Achseln: »In dieser Frage muß jeder seine eignen Wege gehen«, und für das Stück Zweifel, das Herr Mahraun auch bei ihm übrig gelassen hat, findet er die elegante Schlußformel: »Wir müssen es ablehnen, eine Analyse der seelischen Zusammenhänge vorzunehmen, durch die hindurch der einzelne zu seinem politischen Ergebnis gekommen ist.« Das heißt etwas weniger elegant: Antisemitismus ist Privatsache! Für den einzelnen Juden ist in der politischen Entscheidung sein Judentum demnach nicht mehr ausschlaggebend. Der C.V. betont nicht mehr den jüdischen sondern den bürgerlichen Glauben. Diese deutschen Staatsjuden bürgerlichen Glaubens haben sich entschieden und damit auch das Recht verwirkt, künftig über Antisemitismus zu zetern. Ich glaube hier nicht nur für mich, sondern auch für viele freiheitlich gesinnte Nichtjuden zu sprechen, die durch lange Jahre den Antisemitismus als die säkulare Schande bekämpft haben, wenn ich sage, daß wir die berühmten Appelle des C.V. an das gemeinsame humanitäre Gefühl in Zukunft gelassener ertragen werden. Namentlich wenn bei dieser Gelegenheit die offiziell als leer erkannten demokratischen und liberalen Grundsätze plötzlich wieder ihr früheres Vollgewicht erlangen sollten. Da eine repräsentative jüdische Organisation, wie es der C.V. ist, selbst in der Existenzfrage des Judentums mit sich handeln läßt, kann man schwerlich von Nichtjuden verlangen, daß sie auf die Schanzen steigen, wenn Holofernes wieder einmal vor Bethulien steht. Antisemiten kann man bekämpfen, das ist eine grade, offene Rechnung. Aber was in aller Welt soll man mit Juden machen, die sich selbst den gelben Fleck aufs Kleid tun, nur um für ihre Tresors und Aufsichtsratposten die gütige Protektion einer Antisemitensippe zu gewinnen –? Da bleibt nichts als Resignation. Es wird uns nicht leicht fallen, aber wir wollen uns Herrn Holländers unerbittliche Erkenntnis zu Herzen nehmen: »Immer wenn Altes überwunden wird und Neues geschaffen werden soll, gehen Gemütswerte verloren.« Schalom.
Die Weltbühne, 26. August 1930