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Durch ein kleines überraschendes Pronunciamiento hat das Zentrum die Vertagung der Ehescheidungsreform durchgedrückt. Da nicht anzunehmen ist, daß Herr Prälat Kaas in dem knappen Quartal bis zur Abwicklung des Volksentscheids sich zu libertinistischen Prinzipien durchringen wird, so dürfte diese Vertagung identisch sein mit dem sozialdemokratischen Verzicht, dem Zentrum noch weiterhin schamverletztende Zumutungen zu stellen. Übrigens scheint die Laune des Zentrums nicht unbedingt dahin zu gehen, die Kameradschaftsehe mit dem roten Belial noch lange fortzusetzen. Dabei war es doch vornehmlich die Sozialdemokratie, die das Konkubinat durch häusliche Tugenden zierte. Das Zentrum hat über seine Beteiligung am Lasterpfuhl kaum zu klagen, und überhaupt haben die Partner sich nicht zur Praktizierung einer fessellosen Sinnlichkeit gefunden.
Jedenfalls hängen die Wolken schwer herab, und ohne Hugenbergs geniale Aktion wäre das Gewitter schon da. Der Ausgang des Volksbegehrens ist für die Linke eine schwere Enttäuschung. Es ist ein fauler Trost, sich und andern vorzureden, Hugenberg habe die erforderliche Ziffer ja nur eben und eben erreicht. Ausschlaggebend aber ist, daß er sie erreicht und die Linke diese Möglichkeit immer bestritten hat, auf das Wie kommt es jetzt nicht mehr an. Man soll seinen Gegner nicht unterschätzen, auch wenn man ihn für mondsüchtig hält; diese lyrische Krankheit tritt in Deutschland ohnehin zu Zeiten epidemisch auf. Es ist der alte Fehler der Linken vor einer unsympathischen Situation: Man tut vornehm und bagatellisiert die Gefahr. Das hat sich schon 1925 bei der Hindenburgwahl bitter gerächt. Man hat nichts gelernt daraus.
Und schon werden neue Enttäuschungen vorbereitet. Anstatt daß die Linkspresse sich jetzt endlich zum offnen und klaren Kampf für den Youngplan rüstet, verschanzt sie sich lieber hinter dem breiten Rücken des früher gar nicht so sehr adorierten Reichspräsidenten; über jede Schulter des alten Recken guckt eine kleine freche Demokröte und quietscht »Ätsch – ER sagt es auch!« Das mag gewiß ganz spaßhaft sein, aber die Demoblätter sollten bei der Wahl ihrer Autoritäten etwas bedenklicher sein.
Noch gefährlicher sind die Hoffnungen auf den Zerfall der Rechten. Wahrscheinlich geht es in Hugenbergs Hauptquartier jetzt etwas turbulent zu, aber Spekulation auf die Uneinigkeit der Gegner ersetzt nicht die eignen strategischen Anstrengungen. Es darf auch nicht übersehen werden, daß bei einer neuen Gruppierung rechts die republikanischen Parteien nichts gewinnen. Im Gegenteil. Führt die akute Auseinandersetzung bei den Deutschnationalen zu einer Abstoßung der Extremen und zur Vereinigung mit den Kerntruppen der verwaisten Stresemannpartei, wie es Herr von Kardorff möchte, so können für lange Jahre alle Hoffnungen auf eine Linksregierung begraben werden. Denn es ist kein Zweifel, daß das Zentrum aus kulturpolitischen Rücksichten mitmachen wird, wenn nur die Diehards verschwinden. Die Beteiligung der Bayern und der kleinen wirtschaftlichen Interessengruppen dürfte selbstverständlich sein, während die Demokraten, zwischen Sozialdemokratie und Bürgerblock eingeklemmt, schneller noch als die englischen Liberalen verfallen würden. Das Ergebnis der Klärungen auf der Rechten wäre nur ein deutsches Tardieukabinett für unabsehbare Zeit. Die schlechteste aller denkbaren Lösungen.
Das Zentrum bringt denn auch deutlich zum Ausdruck, daß die Fortdauer der Verbindung mit der S.P.D. nur durch deren Verzicht auf fleischliche Freuden zu erkaufen ist. Stärkere Persönlichkeiten, geschicktere Taktiker als die sozialistischen Minister würden vielleicht ein erträglicheres Kompromiß finden als das Fallenlassen grade der Ehescheidungsreform, die eine gut liberale Rechtsforderung ist. Das Zentrum wird sich auch damit nicht zufrieden geben und kaum ruhen, bis es nicht ein paar Jahre Mittelalter über uns verhängt hat.
Die Weltbühne, 12. November 1929