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In den sozialpolitischen Debatten unsrer Tage, namentlich in denen zur Arbeitslosenversicherung, tobt sich viel Blindheit und Rückständigkeit aus. Es gibt Publikationen von Arbeitgeberverbänden, die wenig »Wirtschaftsdemokratisches« an sich haben und an die Urzeiten des finstersten Unternehmerdespotismus erinnern. Und doch würde heute jeder mit höllischem Gelächter heimgeschickt werden, der in einer Diskussion über das großstädtische Wohnungselend sich also auslassen wollte: »Jeder Mensch ist zuerst sich selbst verantwortlich für sein Tun; so elend ist keiner, daß er im engen Kämmerlein die Stimme seines Gottes nicht vernehmen könnte.« Es ist so viel Cant, so viel puritanische Tartüfferie in dieser Auslassung, daß man annehmen möchte, das habe ein Baumwoll-Lord von Lancashire gesagt, und zwar in jener Flegelzeit des Frühkapitalismus, die Friedrich Engels in seiner berühmten Studie über das Elend der englischen Industriearbeiter beschrieben hat. Weit gefehlt, dieser Satz ist vor wenig mehr als einem halben Jahrhundert in Berlin niedergeschrieben worden und soll für berliner Verhältnisse gelten. Sein Autor ist Heinrich von Treitschke, der Tambourmajor des großpreußischen Gedankens und Vater jenes Geistes, der das kaiserliche Deutschland ruiniert hat.
Dies denkwürdige Treitschkezitat und noch einige mehr sind zu finden in dem soeben erschienenen umfangreichen Werk von Werner Hegemann »Das steinerne Berlin« (Kiepenheuer). Es ist ein großes, von Hegner schöngedrucktes, reich mit Bildern versehenes Buch. Es ist kein exklusiv artistisches Buch, keine stilkritische Betrachtung, es enthält keine Fassadenschwelgerei, obgleich viel Kluges und Bedeutsames über die berliner Baumeister von Schlüter bis zu den Modernen darin gesagt wird. Es erfüllt eine viel wichtigere Aufgabe: es ist eine Geschichte der berliner Mietskaserne, die gewissenhafte Chronik jener steinernen, von Schmutz und Elend behausten Trostlosigkeit, die zu überwinden auch unsre Zeit weder Mittel noch Unternehmungsgeist gefunden hat. Zwiefach legitimiert ging Hegemann an seine Arbeit: als Verfasser des »Fridericus«, dieser unerbittlichen Zerrupfung eines Jahrhunderts preußischer Geschichtsklitterung, und als Baumeister mit deutscher und amerikanischer Praxis; in Fachkreisen geschätzt als Herausgeber der ›Zeitschrift für Städtebau‹.
Wir kennen alle die berliner Mietskaserne. Wir verwünschen sie und nehmen sie wie eine Schickung hin. Vor ein paar Jahren, in der ärgsten Hungerperiode der Inflation, bildete sich hier ein »Komitee Kinderhölle«, das gutmeinende, hilfsbereite Menschen in die Jammerquartiere des Nordens und Ostens sandte, wo unglückliche, in feuchte und verwahrloste Kammern gepferchte Familien die Stimme ihres Gottes zu vernehmen suchen. Damals ging ein Schrei des Entsetzens durch die Stadt, Vergessenes und Übersehenes wurde plötzlich fürchterlich greifbar; die Zeitungen brachten große Bilder. Aber in die journalistische Auswertung spielte bald ein unzulässiges und falsch angebrachtes politisches Moment hinein. Schließlich war an allem der Versailler Vertrag schuld oder der »Feindbund«, der nicht mit sich reden lassen wollte.
Nun hat der »Feindbund« zwar einiges auf dem Kerbholz, aber die berliner Mietskaserne gehört nicht dazu. Die ist eine Erfindung der ärgsten Feinde, die das deutsche Volk jemals gehabt hat, nämlich der preußischen Soldatenkönige, die die gesunde Entwicklung ihrer Hauptstadt gehemmt und sie gewissenlos dem schändlichsten Bodenwucher ausgeliefert haben, nur um ihren militärischen Zwecken zu dienen oder um Mittel für ihre martialischen Spielereien zu erhalten. Besonders charakterisierend ist das hier vor einiger Zeit abgedruckte Kapitel über die friderizianische Bodenpolitik. Friedrich hatte den Ehrgeiz, seiner Hauptstadt ein großstädtisches Ansehen zu geben. Er hatte auch hier, wie überall, sein Schema, und alle Fassadenentwürfe bedurften der königlichen Genehmigung. So wurden in den letzten siebzehn Jahren seiner Regierung beinahe vierhundert Häuser mit drei oder vier Geschossen gebaut. Bei alledem folgte der König nur seinen Launen und seinem Geldbedürfnis. Er hatte keine eignen produktiven Einfälle und war auch stets ohne Kenntnis nützlicher Beispiele. Er war jeder Stadterweiterung feind, er preßte die werdende große Stadt eng zusammen, um die Untertanen hübsch in der Reichweite des königlichen Krückstocks zu haben, und führte dazu eine Hypothekenordnung ein, die das Grundstück- und Bau-Wesen den Hyänen auslieferte. Von nun an wird hoch, aber eng gebaut werden, die heutige Innenstadt ohne Licht und Luft entsteht. Die Stadt Berlin hat für Jahrhunderte ihre schmalbrüstige Gestalt erhalten. In den abscheulichen, menschenunwürdigen Mietskasernen hat sich Fridericus Rex sein trauriges Denkmal errichtet.
Hundert Jahre später ist das berliner Bauwesen noch hinter den meisten großen Städten Europas zurück. Noch immer gilt die Bauordnung von 1641, ergänzt 1763. Endlich um 1860 kommt doch der große Bebauungsplan, nachdem der alte Stadtring unter dem Druck ungeheurer Menschenanhäufung zu springen droht. Es muß also etwas geschehen, und deshalb erhält das Polizeipräsidium den Auftrag, einen Bebauungsplan zu liefern. Zu diesem Zweck engagiert es einen jungen Baubeamten, der sich mit seinem Lineal und scharf gespitzten Bleistiften an den Zeichentisch setzt, eine Anzahl sehr akkurater grader Linien zieht, und seine Arbeit nachher hochbefriedigt abliefert. Dieser »Bebauungsplan« wird ebenso sorgfältig ausgeführt, und es entstehen lange, übermäßig breite boulevardartige Straßen mit hohen, stattlichen Häusern, und damit entstehen auch die dunklen, engen Hinterhöfe, die bald zum Signum Berlins werden und das Wohnungselend stabilisieren. Doch der junge Mann, der so fleißig gezeichnet hat, preist Jahre später, zum Baurat avanciert, seine Erfindung:
»In einer englischen Stadt finden wir im Westend oder irgendwo anders, aber zusammenliegend, die Villen und einzelnen Häuser der wohlhabenden Klasse, in den andern Stadtteilen die Häuser der ärmern Bevölkerung... Wer möchte nun bezweifeln, daß die reservierte Lage der je wohlhabendern Klassen und Häuser Annehmlichkeiten genug bietet, aber – wer kann auch sein Auge der Tatsache verschließen, daß die ärmere Klasse vieler Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwohnen gewährt. Nicht ›Abschließung‹ sondern ›Durchdringung‹ scheint mir aus sittlichen und darum aus staatlichen Rücksichten das Gebotene zu sein. In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Wege nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz im Hinterhause, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Lebensunterhalt besorgt, werden in dem I. Stockwerk bekannte Persönlichkeiten. Hier ist ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort eine wirksame Hilfe zur Erlangung freien Unterrichts oder dergleichen, und alles das, was sich als das Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten und wenn auch noch so verschieden situierten Bewohnern herausgestellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluß auf den Geber ausübt.«
Auch dieser gemütreiche Moralist hat also die Stimme Gottes deutlich gehört. Für Millionen hat sich aber seitdem dieser Gott als Gott der Rache offenbart, der Kind und Kindeskind mit Krankheit und Verkommenheit schlägt – ein Kannibalengott. Werner Hegemann hat mit ungeheurer Quellenkenntnis das kläglichste Kapitel der Geschichte einer Weltstadt geschrieben. Wenn Berlin den Schrecken und die Unkosten der jetzt enthüllten Busch-Kleppereien überwunden hat und endlich wieder Wohnhäuser zu bauen beginnt, dann wird die Stunde für die Wirkung seines Buches da sein. Dann wird es zum tönenden »Ecrasez l'infâme« werden gegen die Mietskaserne, die Verderberin von vielen Generationen.
Die Weltbühne, 20. Mai 1930