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Das Wrack der großen Koalition, selbst in seinen Glanztagen kein seetüchtiges Schiff, ist plötzlich auseinandergeborsten. Es war kein mächtiger Windstoß, der das arme Ding in Stücke fegte, ein sozialdemokratischer Minister nur, Herr Wissell, hat sich im Schlaf umgedreht, und alles war vorbei.
Die liberalen Blätter machen Herrn Wissell ob seines immerhin durch Schlaf entschuldigten Leichtsinns die bittersten Vorhaltungen. An dem Ergebnis können auch die verspäteten Ordnungsrufe aus dem Zeitungsviertel nichts mehr ändern. Die Große Koalition ist dahin, nachdem sie niemals wirklich gelebt hat. Unwiederbringlich. Der Vorhang fällt. Exeunt. Alle ab. Auf dem andern Sektor der Drehscheibe wartet schon die neue Mannschaft.
Es gehört schon die oft bewährte Instinktlosigkeit der Demopresse dazu, um den Arbeitsminister Wissell zu rüffeln, weil er, unter dem Druck der Gewerkschaften stehend, gegen jedes Kompromiß in dem Streit um die Arbeitslosenversicherung ablehnend blieb. Herr Wissell ist niemals ein großer Radikaler vor dem Herrn gewesen; es ist eine Torheit ohnegleichen, ihn jetzt als Starrköpfigen, als Unversöhnlichen hinzustellen und die staatsmännische Einsicht seiner Kollegen Hermann Müller, Severing und Robert Schmidt gegen ihn auszuspielen. Die letzten guten Geister der Sozialdemokratie selbst sind es gewesen, die Herrn Wissell zu einer im Milieu des Müllerkabinetts fast somnambul wirkenden Resistenz aufgestachelt haben, um so ein Unternehmen zu beenden, das die Partei schließlich mit Kopf und Kragen bezahlt hätte und dessen Spesen sie bisher in ungeheuerlich großen Opfern an Intellekt und Gewissen beglichen hat.
Trotzdem hätte die Sozialdemokratie nicht mit so katastrophaler Bilanz abgeschnitten, wenn Hermann Müller nur etwas mehr Autorität gezeigt hätte. Aber Müller ist der Fraktionsmandarin, wie er im Buch steht. Es gibt für ihn keine öffentliche Meinung mehr, kaum noch die Partei. Politik ist: was mit den andern Mandarinen hinter gepolsterten Türen verabredet wird. Dieser unglaubliche Respekt des Mandarinen Müller vor den Mitmandarinen Scholz, Kaas, Leicht etcetera, ist die wirkliche Ursache der meisten Verwirrungen gewesen, ist schuld daran, daß die Partei heute wie ein begossener Pudel abziehen muß.
Es ist bezeichnend, daß der designierte Kanzler, Herr Doktor Brüning, die Methode Müllers nicht übernimmt, sondern sich vom Reichspräsidenten ausdrücklich den Auftrag hat geben lassen, nur mit Personen zu verhandeln. Das ist nicht nur einfacher sondern entspricht auch diesmal ganz der Situation. Denn was Herr Brüning vorhat: die Sammlung aller bürgerlichen Kräfte, braucht nicht mühsam erhandelt zu werden, das macht sich von selbst.
Während diese Zeilen geschrieben werden, läßt sich noch nicht absehen, ob Herrn Brüning das verheißene Kabinett der sogenannten Hindenburg-Front gelingen wird. Es handelt sich nicht allein um Herrn Brüning, obgleich auch dessen Person bemerkenswert genug ist, sondern um seine Idee, die über kurz oder lang doch reussieren muß. Deshalb bedeutet der Exitus der Müllerminister grade in diesem Augenblick mehr als das zeitweilige Verschwinden einiger Solisten. Die Herren von der alten schwarzrotgoldnen Koalition waren immer von einer rührenden Parlamentsgläubigkeit erfüllt, wenn sie auch in ihrer Ungeschicklichkeit mit dem Parlament wenig anzufangen wußten, es vielmehr bei jeder Gelegenheit diskreditierten. Die neue Mannschaft, die sich heißhungrig herandrängt, hält vom Parlamentarismus gar nichts mehr, ist aber entschlossen, ihn zu benutzen, so lange nichts Besseres da ist. Wenn aber einmal eine andre Möglichkeit winkt als die demokratische Republik, dann: Fort mit Schaden! In Frankreich heißt der gleiche Vorgang: Tardieu. Bei uns bemüht sich Herr Doktor Brüning das zu machen.
Wer ist eigentlich Herr Brüning?
Der Mann, der sich in wenigen Jahren unauffällig in den Vordergrund gespielt hat, gehört zu den ältesten Vertretern der Bürgerblockparole im Zentrum. Er begann vor einer Reihe von Jahren in der Redaktion des ›Deutschen‹ als Famulus Adam Stegerwalds. Das war damals, als auf dem schwarzen Rock des Zentrums noch die roten Blutstropfen Erzbergers glänzten, als Joseph Wirth noch unter dem Beifall von Linksradikalen jakobinisch redete. Das war damals, als Adam Stegerwald plötzlich als mürrischer Antipode des jungen republikanischen Enthusiasmus im Zentrum auftauchte, an die konservativen Traditionen der Partei erinnerte und den Streit zwischen Monarchisten und Republikanern spöttisch als eine »Sonntagsangelegenheit« bezeichnete. Bald wußte man, daß es der Famulus war, der dem ungefügen, ungelehrten Adam diese Ideen eingeblasen und für die glatte Konkretheit der Formulierungen gesorgt hatte.
Aus dem Adlatus von damals ist inzwischen der Herr geworden, und der frühere Meister kann froh sein, wenn noch ein Ministerplatz für ihn abfällt. Wer ein wenig Erinnerung an die Jahre 1921/22 bewahrt hat, wird noch wissen, welche Empörung damals die Versuche der Stegerwaldclique erregten, die erste schwache republikanische Entfaltung zu sabotieren. Heute ist der Manager dieses Treibens autoritativer Führer des Zentrums, der gelassen nach der Macht greift. Herr Brüning hat sich nicht geändert, daß er sich von den andern Führern der Mittelparteien kaum mehr besonders abhebt, zeigt nur, wie reaktionär alle Dinge wieder geworden sind. Ein kalter, geschäftsmäßiger Typ, einer von denen, die eine aus Charakter und Überzeugung fließende Argumentation gewöhnlich mit der frostigen Bemerkung abtun: »Wir wollen doch zur Sache kommen!« So erklärt es sich leicht aus Herrn Brünings Vergangenheit, daß er sich vor allem um die »Ralliierten« bemüht, wie man in Frankreich Ankömmlinge aus gegnerischen Lagern nennt: um die deutschnationalen Sezessionisten und Landbündler, die Hugenberg verlassen haben, teils weil ihnen die in Permanenz erklärte Hermannsschlacht auf die Nerven ging, teils weil sie Übles für ihre Karriere befürchteten. Der Weg zum Bürgerblock ist frei. Für jene unerbittlichen Realisten unter den Republikanern, die über den Prinzipien das Leben nicht vergessen, für die Konjunkturisten rechts, die »nicht in öder Negation abseits stehen wollen«, für die groben Pferdehändlerbegabungen vom Schlage Treviranus brechen lichte Tage an.
Herr Brüning und seine Garde schielt nach rechts, auch wenn jetzt die Absicht noch nicht verwirklicht werden sollte, den Agrarierhäuptling Schiele zu gewinnen. Denn Martin Schiele, bescheiden wie er ist, hat ja zunächst die Bedingung gestellt, nicht als Parteimann in den Bund aufgenommen zu werden sondern als »Persönlichkeit«, die bekanntlich das höchste Glück der Erdenkinder ist. Um das Glück vollständig zu machen, verlangt Herr Schiele nicht nur neue Agrargesetzgebung auf diktatorischem Wege sondern so nebenbei auch noch einen neuen außenpolitischen Kurs. Es ist bisher in der Republik – natürlich immer im Rahmen der Verfassung – schon einiges gefällig gewesen, aber ein so dummdreister Anschlag auf die Rechte des Parlaments, eine so schnoddrige Außerachtlassung der unbezweifelbaren politischen Mehrheitsverhältnisse in der Nation, wie sie sich noch bei den letzten Wahlen ausgedrückt haben, ist bisher höchstens in den Esplanadekonventikeln von Dreiundzwanzig disputiert worden, wo sich die verschiedenen Diktaturaspiranten den Kapitänen von Industrie und Landwirtschaft vorstellten.
Vielleicht ist Herr Doktor Brüning noch ein paar Tage zu früh aufgestanden. Möglich. Aber die Tendenz geht dahin, und irgend ein Brüning wird es schon sein, der mit trockener Heiterkeit das letzte bißchen Freiheit eskamotiert, das selbst unter sozialdemokratischer Regie ein paar unachtsame Reichsrichter und Polizisten noch übersehen haben. Einer von denen wird es sein, die stets ihre Loyalität gegenüber der Verfassung kaltlächelnd beteuern, und von ihr doch nur wissen, wie man sie umgeht, die von den Rechten des Bürgers noch weniger wissen, desto mehr aber von dem Artikel 48. Vorsicht vor diesen neuen Achtundvierzigern!
In einer Rundfunkdiskussion über die Diktatur mit Freytagh-Loringhoven hat Herr Paul Löbe es vor ein paar Tagen als eine besondere »Elastizität« unsrer Verfassung gepriesen, daß sie auch ihre eigne Ausschaltung in schwierigen Zeiten hübsch ordentlich geregelt habe. Man sieht förmlich das triumphierende Blinken in Lobes Augengläsern bei diesem intelligenten Apercu. Wir wissen nicht, ob der große Löbe besonders entzückt sein wird über die Elastizität, mit der Müllers Nachfolger, auf offene und verkappte reaktionäre Klüngel gestützt, den Artikel 48 anwenden wird. Denn der neue Kanzler wird ihn bald in Kraft setzen müssen, weil ihm sonst nichts übrig bliebe als die von niemand gewünschten Neuwahlen auszuschreiben. Wenn die Sache aber nicht so elastisch ausfallen, sondern, im Gegenteil, tiefe Striemen hinterlassen sollte, so mögen sich Löbe und Genossen trösten: sie haben alles getan, den nächsten Machthabern das Leben erträglich zu machen. Sie haben nicht nur die außenpolitischen Schwierigkeiten beseitigt, nicht nur das Odium des Young-Plans auf sich genommen, nicht nur das Zollkompromiß geschaffen, sondern auch in köstlicher Spenderlaune das Republikschutzgesetz zur gefälligen Bedienung hinterlassen. Und zu alledem findet die nächste Regierung als Gipfel politischen Comforts einen Reichspräsidenten vor, der nach anfänglicher Unsicherheit und kleinen rhetorischen und schriftlichen Entgleisungen nunmehr felsenfest entschlossen ist, überhaupt nichts mehr zu sagen und alles, alles, aber auch alles zu unterschreiben. Auf solchem Fundament kann man getrost in die Zukunft blicken.
Die Weltbühne, 1. April 1930