Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Abschied von Stresemann

Gustav Stresemann ist bis in seine letzten Lebensstunden ein tätiger Mensch gewesen und hat deshalb auch den Anspruch, so gewertet zu werden. Die Nekrologisten aber nehmen ihn schon ganz statuarisch, schon ganz als historisch abgestempelte Größe, als Pantheonfigur, das marmorne Auge in die Ewigkeit gerichtet, wo Cäsar und Napoleon wohnen. Gustav Stresemann war ein fleißiger, sich unermüdlich abrackernder Arbeiter, und ein solcher nimmt sich auf dem Denkmalsockel schlecht aus und findet es auch etwas genant, so wie ein Heldenkaiser beschäftigungslos durch die Jahrhunderte zu stehen.

Lassen wir diese matten Klischeeworte der Nachrufe. Was soll die ermüdende Versicherung der Presse aller Farben, daß ganz Deutschland »aufs tiefste erschüttert sei«? Wie einfallslos sind die Nekrologschreiber. Ein Mensch, der mit seinem Wirken so tief in die Zeit gegriffen hat, sollte vor billiger Grabsteinlyrik geschützt sein. Und dennoch hat das leicht aus der Feder fließende Wort »Erschütterung« seine eigne Bedeutung. Wer weiß es, ob die Menschen erschüttert sind? Ein berühmter Mann ist gestorben. Ei fu –! Das Leben geht weiter. Aber die Verhältnisse, die unter der fünfjährigen Ministerherrschaft Stresemanns geschaffen worden sind, die sind ohne ihn in der Tat ernsthaft erschüttert. Kann man über einen Staatsmann Ehrenderes sagen?

Stresemanns Bedeutung war, daß er eine in Deutschland einzigartige politische Begabung hatte. Deshalb überragte er so turmhoch die geschwollenen Winkelhelden der Fraktionen. Ob er ein großer Mann gewesen ist, mag ruhig der Geschichte zur Entscheidung überlassen bleiben. Wir aber haben immer wieder mit Staunen wahrgenommen, daß unter uns ein Politiker tätig war, der durchaus das Maß hatte, es mit den Kollegen im Ausland aufzunehmen, der genug Talent hatte, vor Briand und Poincaré, vor MacDonald und Tschitscherin ehrenvoll abzuschneiden. Wir waren nicht sehr verwöhnt in Deutschland, und wir bestaunten deshalb das Phänomen, dessen Ausführungen am Verhandlungstisch von den besten diplomatischen Köpfen der Gegenwart nicht einfach mit Achselzucken quittiert wurden. Dies sein Talent war es auch, was selbst seine bissigsten Gegner immer wieder entwaffnete. Es war Naturkraft in ihm, etwas köstlich Seltenes in einem Lande, wo Politik entweder von trüben Philistern oder anmaßenden Intellektuellen administriert wird.

Er hatte Erfolg. Wieder etwas Einzigartiges in Deutschland. Seit Bismarck hatte keiner unsrer Politiker wirkliche Erfolge gehabt. Die wilhelminische Ära mit ihrer zur Schau getragenen Pampigkeit und allen ihren großmäuligen Ansprüchen auf Weltherrschaft war doch eine Zeit der klatschenden außenpolitischen Maulschellen gewesen. Die feudalen Säbelklirrer der Wilhelm-Straße, die ihr Jahrhundert so gern in den Ring forderten, kniffen jedesmal schreckensbleich, wenn die Andern die Forderung annahmen und wurden von den Advokaten und Börsianern der Westmächte spielend untern Tisch verhandelt, und dabei kann ihnen noch der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie einmal zu wenig gekniffen haben, nämlich Juli Vierzehn. Und die Republik der Miserenjahre 1919 bis 1923 spezialisierte sich entweder auf larmoyante Unschuldsbeteuerungen oder auf eine nicht besser wirkende Betonung nationaler Würde. Die Erfüllungspolitik Wirth-Rathenau mußte scheitern, weil sie linkisch und mit schlechtem Gewissen eingeführt worden war. Man suchte sich zunächst vor dem Nationalismus zu salvieren, dann erst kamen die Notwendigkeiten. Ein energischerer und weniger von der Chauvinistenfronde nervös gemachter Rathenau wäre vielleicht auch ermordet worden, aber seine Politik wäre nicht mit ihm gestorben. Stresemann verfolgte uneingeschüchtert seinen Weg. Seine gelegentlichen Rückzüge waren nicht mehr als strategische Manöver. Es ist ungerecht, ihn, wie es vielfach geschieht, einfach den glücklichern Erben der Epoche Rathenaus zu nennen. Seine Art war besser und stärker, und das ist schließlich das Entscheidende.

Vieles an ihm erinnerte an gute englische Politiker. Sein Optimismus, seine die Dinge praktisch berührende Beredsamkeit und seine Bedenkenlosigkeit, unter eine Vergangenheit einen dicken Strich zu ziehen. Seine Vision von Deutschland war höchst ungenial, war die eines guten mittlern Bürgers. Er hat die sehr gefährliche Formel aufgebracht, daß es vor allem auf »Deutschland« ankäme und nicht auf die Staatsform. Er liebte in Schwarzrotgold die alte Burschenschaftsfahne und in Schwarzweißrot die alte Bismarckfahne, und dabei kam die Republik zu kurz, die er übrigens selbst in seinen erregtesten rhetorischen Augenblicken nicht unnütz im Munde führte. Die Republik war ihm möglichst treue Anknüpfung an die politischen und sozialen Verhältnisse des Kaiserreichs, nicht zu reaktionär und nicht zu links, die gutgetroffene Mitte, wo der Tüchtige schon durchkommen und sein Geschäft machen kann. Der Friede: Verzicht auf kostspielige Protestationen, vernünftige Übereinkunft mit den Mächten von Versailles; gegenüber allzu harten Forderungen Prinzipien und Methoden des besonnenen Kaufmanns. Die Zukunft: ein allseitig respektiertes Deutschland, bereit, im Rate der Völker ein schweres oder leichtes Wort mitzureden, keine Radikalitäten außen oder innen – o nein! – und im Hintergrund ein mäßiger von den andern Mächten gebilligter Imperialismus.

Alles in allem die politische Konzeption eines guten Mittelbürgers, eine hausbackene, gut nationalliberale Vision, ganz natürlich bei dem jahrelangen Vertrauensmann der mittlern sächsischen Industrie, die von dem Größenwahn der Montanherren vom Rhein nichts weiß. Alles in allem: haargenau das Land, in dem wir leben. Stresemanns Vision ist restlos realisiert. Welcher deutsche Staatsmann hätte je mit so sicherer Hand geformt?

Anatole France sagte von Cicero, er habe immer zu den maßlos Gemäßigten gehört. Das galt auch für Stresemann, und es ist die besondere deutsche Bizarrerie seines Schicksals gewesen, daß er sein gutbürgerliches Mittelprogramm oft mit einem wahrhaft bolschewikischen Temperament durchkämpfen mußte. Er mag es als bittere Tragik empfunden haben, daß seine europäische Verständigungspolitik der letzten Jahre, die er gern Politik der nationalen Befreiung nannte und die er mit der Erreichung der vorzeitigen Rheinlandräumung zu einem selten glücklichen Erfolg führte, von niemandem dümmer, giftiger und infamer befehdet wurde als grade von den Wortführern des guten Bürgertums. Sein Ziel war, die Rechte für die Politik der Vernunft zu gewinnen, und grade da erfuhr er seine heftigste Ablehnung. Die Nationalisten wollte er überzeugen, und grade die haben ihn verstoßen. Er, der sich einmal verschworen hatte, das deutsche Bürgertum von roten Ketten freizumachen, konnte sich schließlich nur halten mit Hilfe einer höchst bunten Gefolgschaft von Demokraten, Sozialisten und pazifistischen Landesverrätern aller Nuancen. Gelegentlich wurde ihm der Troß, dessen ungeniertes Kosmopolitentum seine deutschen Gefühle verletzte, zu ungemütlich, dann muckte er auf und kanzelte ein paar allzu offenherzige Frankophile sehr unfreundlich ab. Aber er war Realist genug, um zu erkennen, daß er, auf seine eigne Partei gestützt, bald sinken würde. Niemals hätte er den Vertrag von Locarno und den Eintritt in den Völkerbund mit seiner eignen unzuverlässigen Leibtruppe durchsetzen können, deren Haltung auch jetzt bei dem Streit um den Youngplan nahe an Insurrektion grenzte. Er verabscheute die Internationalen, aber er konnte sie nicht entbehren. Und die werden wohl auch die Einzigen sein, die das Beste seiner Arbeit aufnehmen und fortsetzen und vielleicht einmal seinen guten Namen gegen seine engern politischen Freunde verteidigen werden. Ist es nicht symbolisch, daß er noch an seinem letzten Lebenstage schwer leidend aufstehen mußte, um seinem Fraktionsvorstand das Arrangement einer Regierungskrise auszureden? Dann legte er sich hin und starb. Herr Zapf mag mehr Anstrengung gekostet haben als Aristides.

Wie sehr das Gleichgewicht der politischen Kräfte von ihm abhing, das kommt allzu deutlich in den Nekrologen zum Ausdruck, die vielleicht nur deshalb so hilflos in leerer Sentimentalität schwimmen, weil niemand den Ausblick in die Zukunft wagt. Die Ratlosigkeit in den Regierungsparteien ist beinahe bemitleidenswert. Als Bismarck schied, schrieb der begeisterte Wildenbruch den berühmt gewordnen Vers nieder:

Was wir durch dich geworden,
wir wissens und die Welt.
Was ohne dich wir werden,
Gott seis anheimgestellt.

Das ist etwas überschwenglich, aber so ähnlich liest mans jetzt auch, wenn auch in Prosa. Inzwischen hat man Herrn Curtius zum Sachwalter des Außenamtes bestellt, und im Hintergrund wartet als Definitiver Herr v. Hoesch, und die Wahl dieser beiden Herren besagt schon überaus deutlich, daß man es aufgegeben hat, auf gebrechlichen Menschenwitz zu bauen, und die Zukunft völlig Gott anheimgestellt hat.

Das deutsche Bürgertum war in seiner Mehrheit zu borniert, um Stresemanns Absichten zu verstehen. Für seinen diplomatischen Erfolg im Haag, für die Durchsetzung der Rheinlandräumung hätte es ihm Triumphbogen errichten müssen. Statt dessen wird ein wahrhaft idiotisches Volksbegehren aufgezäumt, an das seine Manager selbst nicht zu glauben vermögen. Über eines braucht indessen kein Zweifel zu bestehen: so gewiß wie nach Bismarcks Sturz das Mißverstehen einsetzte und zwanzig Jahre lang falscher Bismarck getrieben wurde, so gewiß wird jetzt die Periode kommen, wo in der Wilhelm-Straße falscher Stresemann gespielt werden wird. Deutschland hat, nach Jahrzehnten, eine weit über den Durchschnitt reichende politische Begabung gehabt, und jetzt wird wieder große Pause sein. Zwar hat man Gustav Stresemann verunglimpft und verdächtigt, aber nun, wo er tot ist, steht der Adoration nichts mehr im Wege. Die Ehren, die die Bourgeoisie ihrem klügsten Kopf versagte, werden bald zu Marmor gefroren Denkmalsform annehmen. Und dort wird an besondern Gedenktagen der melancholische Nachruhm des Politikers zelebriert werden. Ein würdevoller Bratenrock wird mit Brustton versichern, daß »er unser war« und einen Kranz niederlegen mit einer Schleife in den Reichsfarben, die dann getragen werden. Der Kranz welkt schnell, und mit der Schleife spielt der nationalliberale deutsche Wind.

Die Weltbühne, 8. Oktober 1929


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