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Schwer lasten auf dem Weihnachtsbüchertisch die großen Kaliber der Propyläen-Weltgeschichte. Das gewaltige Unternehmen ist auf zehn Bände berechnet. Bis jetzt sind zwei heraus, die den Zeitraum von 1789 bis 1890 umfassen. In allem, was Bebilderung, Ausstattung, Herstellungstechnik betrifft, zeigt sich eine große organisatorische Hand. O könnte ich auch die Texte so loben! Die Illustrationen-Porträts, Sittenbilder, Karikaturen, Faksimiles, Nachbildungen von historischen Dokumenten – sind eine wirkliche Augenweide, und diese Abundanz ist auch durchaus am Platz, denn in allem, was instruktiv sein soll, geben wir dem Bild heute den richtigen Rang neben den Lettern. Wir wollen sehen, nicht immer nur Behauptungen hören. Nun sollte ein riesenhafter Verlagsplan hier in einer Zeit verwirklicht werden, wo sich die Geschichtsschreibung in einer beträchtlichen Krise befindet. Die alte Ereignisgeschichte, die von Heros zu Heros hüpft, von Friedensvertrag zu Friedensvertrag, uns kleines Volk aber unglossiert in Schlachten fallen läßt und selbst die Männer des Geistes nur wie eine nun mal zur Zeit gehörende Statisterie betrachtet, hat ausgelitten. »Kaum in Schönbrunn angekommen, machte sich Napoleon ernste Gedanken über Spanien.« Oder »Trotz seiner unfreundlichen Jugend zeigte sich Deodat der Linkshändige als ein hochherziger Fürst.« Diese Art von Geschichtsschreibung ist ungenießbar geworden. Kulturelle und wirtschaftliche Kriterien durchsetzen heute die Wiedergabe lückenloser Ereignisreihen, und im Hintergrunde rüsten sich schon psychoanalytische Methoden zum Einbruch in eine Wissenschaft, die mehr Schablonekundige als Seelenkenner produziert hat. Außerdem haben uns die großen geistigen Epidemien seit 1914 gegen die hergebrachten Einteilungen mißtrauisch gemacht. Es ist nicht wahr, daß das Altertum um 375, das Mittelalter um 1500 zu Ende gegangen ist. Mindestens im Unterbewußtsein der Menschheit haben sich die Reste vergangener Epochen verlagert und treten manchmal unheimlich genug über die Schwelle. Wir suchen also in der Geschichte nicht nur das Andersgeartete sondern auch das Gleiche, wir suchen in einer so dramatischen Zeit wie der unsern rückblickend nach Analogien. Große synthetische Begabungen aber gibt es nirgends. Zeichendeuter ebensowenig. H.G. Wells bleibt eine Ausnahme. Mindestens in Deutschland regiert ein nüchtern einherkrebsendes Spezialistentum. Die Mitarbeiter der Propyläen-Weltgeschichte sind alles facherprobte Herren, die meisten in allen Ehren ihres Spezialgebiets ergraut. Keiner reizt zu lärmendem Widerspruch, aber keiner verlockt auch dazu, eine Stunde länger aufzubleiben. Wobei ich gern bemerke, daß die Darstellung des Bismarckschen Zeitalters durch Luckwaldt besondere Qualitäten aufweist. Im gleichen Verlag ist jetzt grade der erste Band einer Geschichte der deutschen Revolution von 1848 von Veit Valentin erschienen, über die später gesprochen werden soll. Ein paar Stichproben ergeben einen sympathischen Eindruck. Die Zeit für eine neue Universalgeschichte ist noch nicht da, kann noch nicht da sein. Das gibt der Monographie um so größere Möglichkeiten. Als ein ausgezeichnet gelungener Versuch der bewußten Abgrenzung einer Aufgabe erweist sich der erste Band von Otto Rühles »Illustrierter Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats« (Neuer Deutscher Verlag). Eine sehr, sehr notwendige Arbeit, einmal zu demonstrieren, wie jedes System seine armen Teufel geschaffen hat und wie diese Sklaven der Fron gelebt haben. Es ist erstaunlich, wie grau und eintönig die in ihren Gipfeln so bunte Weltgeschichte wird, wenn der Historiker in den Tälern bleibt, in die Hütten blickt, in die Schächte steigt. Was für ein unendlicher schmutziger Elendsstrom brodelte immer um die schwachen Pfähle, die die Kultur tragen. Rühle darf das Verdienst in Anspruch nehmen, ein Werk begonnen zu haben, das noch eine reiche Nachfolge finden wird. Ungemein schön ist die graphische Ausstattung des starken Bandes, die Reproduktion der vielen Zeichnungen, Karikaturen, Photos glänzend gelungen. Was mich stört, ist die Beschriftung der Bilder, die ganz und gar jene Überdeutlichkeit pflegt, die Parteimenschen für propagandistisch halten, die aber nur die Mutter der Langenweile ist. »Gerhart Hauptmann, der Dichter des revolutionären Stückes ›Die Weber‹, wurde seiner Sache untreu«, und: »Jack London, einer der ersten proletarischen Schriftsteller, der das ganze Leben hindurch seiner Sache treu geblieben ist.« Falsch vom Anfang bis zum Ende. Gerhart Hauptmann ist niemals einer Sache untreu geworden, denn er hat keiner gehört. Sein sozialer Protest war ein individualistischer Ausdruck eines tiefen persönlichen Pessimismus, nicht an politische Programmatik gebunden. Der frühe Verfall seines Talents führte ihn von Stoff zu Stoff, von Form zu Form; wäre er der soziale Dichter seiner Frühzeit geblieben, seine Werke wären nicht besser geworden. Jack London war niemals proletarischer Schriftsteller und »der Sache treu« sondern ein Schriftsteller ärmlicher Herkunft, der für Stargagen an kapitalistischen Blättern arbeitete. Schließlich: »Der große Filmkünstler Chaplin, der in seinen sozialkritischen Filmen das Hundeleben der noch nicht völlig zum Klassenbewußtsein erwachten Arbeiter darzustellen pflegt.« Jetzt möchte ich mir mal einen zum Klassenbewußtsein erwachten Chaplin vorstellen. Wahrscheinlich würde er ähnlich so aussehen wie der Verfasser dieser Bildtexte. Aber das ist wie ich mit Schrecken bemerke, ein so kluger und geschmackvoller Mensch wie Fritz Schiff. Es liegt in der Luft.
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Parteigänger sein und doch nicht Böotier werden, aus der Berührung mit der Partei nur neue Kräfte entwickeln, das war die Sache eines so starken Kopfes wie Franz Mehring. Man hat in diesen Jahren oft nach den gesammelten Schriften dieses wahrhaft großen Essayisten gerufen, jetzt beginnen sie seit Jahresfrist in der Soziologischen Verlagsanstalt zu erscheinen, von Eduard Fuchs ediert, vier Bände bisher. »Zur Preußischen Geschichte« heißen die beiden eben herausgekommenen; längere, kürzere Zeitungsartikel, Studien, Polemiken. Der Historiker Franz Mehring, Altersgenosse von Hans Delbrück, stammt aus jener altmodischen Zeit, wo wohlfundiertes Wissen Ehrensache des Schreibenden war. Wenn ein Schriftsteller dieses Wissen treu und redlich angewendet hat, so war es Franz Mehring. Niemals hat es ihn zu intellektualistischen Spiegelfechtereien verleitet, niemals dazu, aus Grade Krumm zu machen. Ein Mann mit einem prachtvollen Lessingschen Zorn, ein Bastillenstürmer der Publizistik.
In diesen Bänden bleibt Mehring ganz bei seinem Lieblingsthema: Preußen, Preußen, Preußen! Er hat den Leib dieses Staates durchröntgt wie kein Zweiter und fährt furchtbar mit der traditionellen Hofhistoriographik ab. Er sieht deutlich den roten Faden der preußischen Geschichte, das Bündnis von Dynastie und Junkertum, er weiß, daß hier alles Überlieferung ist und die Wurzeln bloßzulegen sind, deshalb diese Aktualität, wenn er in vermoderten Urkunden wühlt, denn hier ist nur das alte Stück Pergament verfallen, sein Inhalt lebt ja fort in sehr modernen Verfügungen und Gesetzesvorlagen. Dabei hatte Mehring unter erheblichen Schwierigkeiten zu arbeiten, denn ihm, dem Sozialdemokraten, waren die Staatsarchive verschlossen. Begreiflich seine Schadenfreude, wenn Andre dasselbe erlebten: »... so mußte der Historiker Martin Philippson auf Verfügung des Generaldirektors von Sybel die Archive räumen, weil sein Werk über die Regierungszeit des Königs Friedrich Wilhelm II. in leitenden Kreisen irgendwelchen Anstoß erregt hatte, aber dem Historiker von Sybel – heute mir, morgen dir – wurden dann nach dem Sturze Bismarcks die Archive des Auswärtigen Amtes gesperrt, weil den nunmehr leitenden Kreisen die Ergebnisse nicht zusagten, die Sybel zur Zeit Bismarcks aus denselben Archiven geschöpft hatte.« So entwickeln sich diese preußischen Studien durchweg aus Besprechungen der Bücher Andrer, aus Polemiken gegen Ranke, Droysen, Sybel, Treitschke, Koser, Hintze – aber wie fruchtbar wird hier die Rezension! Hinter diesem Wissen flammt die echte Intuition, aus Kritiken wächst eigne Theorie, aus der Vernichtung gegnerischer Theorien neue Wirklichkeit. Franz Mehring konnte manchmal grausam sein, gewiß, aber er war niemals eng. Die Kenner seiner klassischen »Lessing-Legende« werden sich der reizenden kleinen Fußnote erinnern, die eine Ehrenrettung der Marquise de Pompadour enthält. Sein Stil ist oft gallig, aber es ist die Galligkeit eines gesunden Mannes, der dreinschlagen muß, um sich Luft zu machen. Einmal beklagt Mehring die Schwierigkeit, zu den Quellen der preußischen Staatsgeschichte zu gelangen, denn »dieser Staat hat niemals einen Thukydides besessen, der die Geschichte dessen, was er miterlebt hat, auch nur mit der geringsten Treue und Wahrhaftigkeit zu erzählen wußte.« Der Mann, der diese Klage niederschrieb, ist der preußische Tacitus geworden.
Franz Mehring hat niemals Schule gemacht, aber als ein nicht unrühmlicher Schüler seines Geistes zeigt sich Kurt Kersten in einer vor Jahresfrist erschienenen Bismarck-Biographie (Neuer Deutscher Verlag). Das ist ein gutes, klares Buch, mit dem Streben nach gerechten Würdigungen und mit einem unverfälschten Blick für Persönlichkeitswerte. Es ist heute sehr notwendig, von der Prosa dieser gefeierten eisernen Zeit zu reden und die Epoche der Reichsgründung von Legendenkram zu befreien. Es ist eine Schande für die deutsche demokratische Publizistik, daß ein solches Buch jetzt von ganz Links kommen muß, so etwas hätte schon vor zehn Jahren unter dem frischen Eindruck des Niederbruchs von einem liberalen Autor geschrieben werden müssen. Hätte man sich damals etwas flotter um die triste Wahrheit des Zweiten Reichs bemüht, wir würden heute nicht an der Lüge des Dritten ersticken.
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Auf dem ganzen Erdball sausen deutsche Auslandskorrespondenten und professionelle Bücherschreiber herum und teilen uns mit, was sie hören und sehen. Wir wissen also herzlich wenig von der Welt. Es ist zu begrüßen, wenn die Deutsche Verlags-Anstalt jetzt geschlossene Einzeldarstellungen von den Ländern der Andern herausgibt, Bücher, die Geschichte, Kultur, Wirtschaft und Politik eines Landes erfassen. Da ist früher schon das Englandbuch von Dibelius erschienen, und jetzt folgen »Frankreich« von Ernst Robert Curtius und Arnold Bergsträßer, und »Spanien« von Salvador de Madariaga. Solche Bücher haben ein weitgestecktes Thema, das ist richtig, aber dafür sind sie auch überall mit den Tatsachen verklammert. Es ist kein Raum für Schwafel und Schnörkel, wem die politische Überzeugung des Verfassers nicht gefällt, der klappt doch nicht einfach ärgerlich zu sondern wird reich entschädigt durch Lernstoff und Dinge, die er nicht wußte. Dazu empfiehlt sich auch das Buch des Spaniers Madariaga noch durch eine seltene Brillanz der Form. Spanien ist ein sehr unbekanntes Land, und es ist angenehm, in das Unbekannte von einem encyklopädisch gebildeten Manne eingeführt zu werden, der sein Wissen so unprätentiös vorzutragen vermag. Namentlich das Kapitel über Aufgang und Zusammenbruch der Diktatur Primos sollte in Deutschland jetzt mit Verstand gelesen werden. Es zeigt überaus deutlich, was ein Diktator anzurichten vermag, wie wenig er in Wahrheit ausrichten kann.
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Viscount D'Abernons Memoiren gehören zu den wichtigsten Dokumenten des ersten Nachkriegsjahrzehnts, obgleich der Herausgeber seine Tagebuchausbeute sehr sorgfältig gesiebt hat. Denn D'Abernon ist heute noch, obgleich nicht mehr im amtlichen Dienst, noch ein recht aktiver Herr, dessen Geschicklichkeit auch von der Regierung MacDonald geschätzt und verwendet wird. Dieser dritte Band (Paul List Verlag) bildet das Schlußstück. Die Aufzeichnungen beginnen im Januar 1924 und schließen am 10. Oktober 1926; an dem Tage endete D'Abernons berliner Mission. Dieser Band enthält Locarno und die darauf folgende Zeit, wichtigstes Material also zur Beurteilung der Ära Stresemann und der kurzen Epoche hochoffiziellen pazifistischen Lackglanzes über der alten, in vielen Kriegen geräucherten Kruste Europas. Wieder viele kluge, scharfe Bemerkungen, etwa der Art: »Im Unterhaus ist es schwer, sich zu entscheiden, gegen wen man stimmen soll. In Deutschland ist es häufig schwer, sich darüber klar zu werden, für wen man stimmen soll.« Einverstanden.
Im ersten Band seiner Erinnerungen erzählt Lord D'Abernon von seiner Begegnung mit dem Grafen Carlo Sforza, dem damaligen italienischen Außenminister, auf der Konferenz von Spaa. Er schildert den italienischen Diplomaten als einen hochgewachsenen hagern Mann mit dunklem Spitzbart, in seinem Aussehen des feudalen Namens nicht unwürdig. Wahrscheinlich deswegen hat man den Grafen auch in einer etwas merkwürdigen Villa einquartiert: einem Kasten im Burgenstil, mit Türmchen und Zinnen und einer Zugbrücke als Zugang. Dort hält der Abkömmling der mailänder Condottieri höchst moderne Pressekonferenzen ab. Jetzt hat Graf Sforza selbst seine Erinnerungen in einem starken Band in Form von etwa vierzig Essays erscheinen lassen: »Gestalten und Gestalter des heutigen Europa« (S. Fischer Verlag). Eine Porträtreihe, die mit dem Fürsten Bülow und Franz Joseph beginnt, dann die Männer von Versailles und der darauf folgenden Jahre eingehend behandelt, um in eine lebhafte und instruktive Polemik gegen den italienischen Fascismus abzulaufen, dessen Gegner der Graf ist. Dem Verfasser steht nicht nur eine gründliche Erfahrung und reiche Bildung zu Gebote, er schreibt auch einen geschliffenen, sehr präzisen Stil. Seine Urteile überzeugen oft durch ihre klare, vernünftige Prägnanz. Er ist liberaler Demokrat und hat das bewiesen, sehr achtenswert für einen Diplomaten aristokratischer Herkunft, der sich »Vetter des Königs« nennen darf, aber seine Gefahr ist auch eine gewisse schnellfertige Formelseligkeit. Er glaubt unbedingt an das, was er vertritt, was nur charaktervoll ist, aber er sieht nicht die Gründe der Krise, in der sich der demokratische Geistestypus heute befindet. So bleibt auch seine Darstellung außenpolitischer Geschehnisse, mögen sie auch immer interessant sein, oft genug in der Oberfläche haften. Personen agieren, sie agieren wie Schauspieler, die sich nachher umziehen und nach Haus gehen; die gesellschaftlichen Triebkräfte werden nicht sichtbar. Viel tiefer greift Sforza in seiner prinzipiellen Auseinandersetzung mit dem Fascismus, hier ist nicht nur sein kühler Diplomatenkopf sondern auch sein Blut beteiligt. Erschütternd wirkt sein Bild von den letzten Tagen der italienischen Verfassung. Erschüttern sollte vor allem deutsche Politiker diese minutiöse Darstellung des sterbenden Kabinetts Facta. Sie werden daraus erkennen, daß der Fascismus nicht wie ein dunkles, unabwendbares Schicksal kommt, sondern daß die Feigheit seiner Gegner das wahre Fundament seiner Siege ist und daß er durch männliche Kraft abgewehrt werden kann. Wie Sforza auf Grund guter Zeugnisse behauptet, wagte Facta dem Marsch auf Rom nicht mit den Mitteln des Standrechts entgegenzutreten, weil man ihm vorgespiegelt hatte, er würde – einen Ministerposten im fascistischen Kabinett erhalten. Sforza war damals Botschafter in Paris, er rebellierte gegen Mussolini und wurde seines Amtes enthoben. Im Sommer 1924 war er in einer historischen Senatssitzung Wortführer der Opposition gegen Mussolini. Damals schleuderte er dem Diktator die Worte entgegen: »Zwischen uns und diesem Regime liegt der Leichnam Matteottis!« Er lebt schon lange als Emigrant im Auslande.
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Die anonymen Mächte der Wirtschaft, mit denen der Mann der formalen Demokratie nichts anfangen kann und die er deshalb am liebsten ganz übersieht, nimmt Morus zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung: »Das Geld in der Politik« (S. Fischer).
Unsre Leser wissen, daß wir es vermeiden, uns gegenseitig zum Ritter zu schlagen, also, Morus ist Morus, und damit ist alles gesagt. Dieses Buch ist angenehm systemlos, seine Methode keiner Schule unterworfen. Der Marxist wird es zu tolerant finden, weil es der orthodoxen Schlußfolgerungen entbehrt, im Grunde gar keine hat sondern das dem Leser überläßt. Der Verteidiger der kapitalistischen Weltordnung dagegen wird es am liebsten verbrennen wollen, falls er nicht vorzieht, mit etwas Gänsehaut still fortzuschleichen. In einer kleinen programmatischen Einleitung stellt Morus seine These auf: »Geld ist nicht nur die Heizkraft, mit der die Staatsmaschine in Gang gehalten wird, sondern Staat und Politik sind wiederum Mittel, zu Geld zu kommen und sich einen größern Anteil am Volkseinkommen und Volksvermögen zu sichern. Wie der Kapitalismus im Stadium des schlechten Gewissens, in dem er sich gegenwärtig befindet, seine Rechtfertigung in der Leistung für das Volksganze sieht, so rechtfertigen sich die Interessenten in der Politik mit dem Allgemeinwohl.« Und dann kommt die Frage, »in welcher Form das Geld bei der politischen Willensbildung mitwirkt, welche Wege es durchläuft, um sich in politische Macht umzusetzen, welche sichtbaren und unsichtbaren Verbindungen zwischen den wirtschaftlichen und politischen Kräften im Staat bestehen.« So verfolgt Morus also die Rolle des Geldes in der Politik der letzten Jahrzehnte, er verfolgt seine legale Betätigung – was übrigens ein recht schwankender Begriff ist – ebenso wie seine heimlichen Einflüsse und die dadurch bewirkten Kontusionen und Eruptionen. Das Buch zerfällt in mehr als hundert kleine einprägsame Einzelkapitel. Wir erleben die Finanzierung von Wahlen in parlamentarischen Ländern ebenso wie die Geldwirtschaft der Diktaturstaaten. Wir erleben, neben den großen Korruptionsaffären von Panama bis Teapot-Dome, die kleinen alltäglichen Selbstverständlichkeiten, die den armen Teufel so sehr empören, dem Besitzenden aber nur wie Begleiterscheinungen des gesunden und zu bejahenden Kampfes um das Gut des Nächsten vorkommen. Wir finden geschlossene Darstellungen des Hugenbergkonzerns und seiner Einflußsphäre, und zum ersten Mal auch eine des Münzenbergkonzerns, schließlich auch die wechselreiche Geschichte der ›D.A.Z.‹.
Diese Vielfältigkeit ist bewundernswert. Morus ist ein Cicerone durch die Geldschränke der Gegenwart. Wo sie auch stehen mögen, in Paris, in Warschau, in Buenos Aires, dieser Führer kennt sie. Sein Vortrag ist einfach, eindringlich und von vorbildlicher Friedfertigkeit. Kein Pathos hämmert von Außen an die dicken Tresorwände, aber wer sich dieser Führung anvertraut hat, der wird auch in Zukunft vor den stählernen Ungetümen keinen Respekt mehr haben. Denn dieses Buch, das nicht haut und nicht schießt, nicht beißt und nicht spuckt, verschmäht es, eine Moral mit auf den Weg zu geben, nachdem es ganz kommentarlos eine erschreckende Fülle von Unmoral aufgedeckt hat. Es nennt sich »Das Geld in der Politik«, und dieses Versprechen hält es. Und doch, wenn der Titel nicht schon dem dicken Chesterton gehörte, es hätte Anspruch darauf zu heißen: »Was unrecht ist an der Welt«.
Die Weltbühne, 16. Dezember 1930