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Auch die englische Diplomatie hat nicht immer aus Genies bestanden. Das britische Nationaltemperament eignet sich nicht sonderlich zu Talleyrands geschmeidiger Kunst. Aber mochte der Gesandte Seiner Majestät auch der größte Hornkopf zweier Kontinente sein, er hatte den kleinern Kollegen voraus, daß hinter ihm die ganze Macht Alt-Englands stand und sein Achselzucken mehr wert war als etwa die sokratischen Erkenntnisse des – sagen wir – portugiesischen Repräsentanten.
Also auch in der englischen Diplomatie ist eine Begabung vom Range des Viscount d'Abernon selten, von dessen Erinnerungen an seine berliner Amtszeit jetzt der erste Band, von Spa bis Rapallo, in deutscher Sprache erschienen ist (Paul List Verlag, Leipzig). Das ist ein Werk, mit dem sich der Deutsche nutzbringend auseinandersetzen könnte. Er überschlage getrost die Erinnerungen seiner geschlagenen Militär- und Zivilgenerale, denn hier gibt es einen einmaligen Einblick in Englands diplomatisches Laboratorium, obgleich Mylord – weiß Gott – nicht redselig ist.
Es sind Tagebuchblätter aus der berliner Zeit, die der diplomatische Berichterstatter des ›Daily Telegraph‹ mit historischen Erläuterungen verbunden hat. Am 2. Juli 1920 überreichte Lord d'Abernon dem Reichspräsidenten Ebert sein Beglaubigungsschreiben, unmittelbar darauf begann die Konferenz von Spa, und er wurde Zeuge der blamabelsten Niederlage der deutschen Außenpolitik, und als er Berlin endgültig verließ, da war Deutschland Mitglied des Völkerbunds geworden, und Stresemanns Silberstreifen hatte sich über den ganzen deutschen Kuppelhorizont verbreitet. An den verschiedenen wunderbaren Fügungen dieser dramatischen Epoche ist Lord d'Abernon hervorragend beteiligt gewesen. Er genoß schon einen Ruf als Wirtschaftspolitiker, und deshalb hatten ihn Lloyd George und Curzon vornehmlich ausgewählt. Vor seiner Abreise fragt er Lord Curzon, ob es im Sinne der Regierungspolitik liege, in bezug auf militärische Vorsichtsmaßnahmen unnachgiebig zu bleiben und dafür eine gewisse Großzügigkeit in Wirtschaftsfragen zu zeigen. Und Curzon antwortet, daß ihm diese Formulierung durchaus richtig zu sein scheine. So kommt er denn nach Deutschland, wo man damals das letzte »Gott strafe England!« noch nicht richtig ausgegurgelt hatte, und als er sieben Jahre später sein Amt verließ, da trauerten die deutschen Parteiführer ohne Ausnahme und sahen einen guten Geist scheiden. Rückblickend läßt sich der Gesamtinhalt von d'Abernons berliner Mission leicht feststellen: er hatte dem fast zusammengesunkenen Reich zu bedeuten, daß Englands politische Religion für den Besiegten nicht nur die Vernichtung kenne, sondern unter gewissen Bedingungen auch Gnadenmittel bereit halte, und er hatte weiter das Amt, das wieder aufstrebende Reich nicht vergessen zu lassen, wer ihm in seiner härtesten Stunde den ersten Trost ins Ohr geflüstert. Er hat beides durchgeführt, gewandt und verschwiegen, immer in der Haltung des Freundes, an dessen Busen man sich ausweinen kann. Und im Laufe der Zeit hat sich dort auch alles, von Westarp bis Breitscheid, ausgeweint. Selbst in einer Zeit, wo es für schärfste Form des Landesverrates galt, mit einem Franzosen zu sprechen, durfte man ruhig seine Schmerzen bei dem weißbärtigen Beichtvater in der Wilhelm-Straße hinterlegen.
Desto größer ist heute die Enttäuschung, daß selbst in diesen sehr sorgfältig ausgewählten und abgewogenen Journalblättern nicht allzu viel mehr von der damals gezeigten Haltung zu finden ist. Es ist nicht mehr zu verkennen, daß der Tröster, wenn er sein erleichtertes Beichtkind abgeschoben, in seinen schönen Bart hineingegrinst und die Bekenntnisse ausschließlich auf ihre Bedeutung für Englands Wohlsein untersucht hat. Das ist eigentlich selbstverständlich, doch nicht bei uns. Sein Urteil über die deutschen Koryphäen der Reparationskämpfe ist sehr unfreundlich. Er durchschaut ihre lauten Proteste als Hilflosigkeit, er staunt über ihre innenpolitische Gebundenheit, ihre fatale Neigung, die Reparationskonferenzen mit Krach zu beschließen, um sich wenigstens zu Haus das Händeklatschen der Patrioten zu sichern. Das Urteil dieses angeblich beispielhaften Deutschenfreundes unterscheidet sich kaum von dem der französischen Politiker dieser Jahre. Und anstatt heute enttäuscht zu tun, sollte man lieber zugestehen, daß damals die Meinung aller Vernünftigen so und nicht anders war. Immer wieder wundert sich d'Abernon über diese parlamentarischen Respektspersonen und Industriekapitäne, die nicht begreifen können, daß nach einem verlorenen Krieg gezahlt werden muß. Mit welcher Geduld muß dieser meisterhaft geschulte Realist den Unsinn angehört haben!
Unsre kleine politische Welt beurteilt er durchweg richtig, aber sein Versuch einer Skizze des deutschen Nationalcharakters wirkt merkwürdig unbelebt. Hier rennt er überall gegen die Grenzen des Berufsdiplomaten, er kennt Deutschland nur aus der Literatur von Tacitus bis Madame de Staël, er bewertet es nach der dünnen Schicht von Politikern, Militärs und Geschäftsleuten, mit denen er zu tun hatte. Die Massen hat er niemals gesucht. Das Volksleben sieht er nur durchs Hotelfenster oder vom Golfplatz aus. Das ist sehr schade, denn manchmal gelingt dem scharfen Beobachter trotzdem ein glänzender Zug. Er fühlt die klotzige Gründlichkeit der Deutschen, ihre Neigung zu gedunsener Wichtigkeit der Rede. Er bemerkt, daß es bei uns eine Herrschaft der Sachverständigen gibt und die öffentliche Meinung daneben gering geschätzt wird. Und er zitiert einen Satz aus einer studentischen Unterhaltung, der sich anhört, wie von Peter Panter erhascht: »Ich für meinen Teil mache meine Wertung eines menschlichen Wesens davon abhängig, ob es zu den Problemen des Kosmos eine entsprechende Einstellung besitzt.« Oder er entdeckt in der oft gehörten Äußerung von frühern Frontkämpfern: »Während des Krieges habe ich nur gegen Engländer gekämpft«, nicht etwa eine Feindseligkeit, sondern nur guten deutschen Spezialistenstolz. Man kann ihm kritische Bemerkungen solcher Art nicht verargen, denn er selbst ist ganz frei von Geschwollenheit und Snobtum. Er nennt zum Beispiel die Bücher der Fürstin Lichnowsky ohne alles Getue »unverständlich«: »Ich habe einiges zu lesen versucht, aber es ist mir vollkommen mißlungen, ihren Sinn zu erfassen. Andre jedoch schienen mehr Glück zu haben.« Banausentum? Nein, Sicherheit, Tradition. Keine falsche Pose, kein Kulturschwafel, wo das Verständnis vor Geistigem aufhört. Manchmal lehnt sich der Engländer in ihm leicht gegen neue gesellschaftliche Formen auf. Die Gattin des Vertreters eines neuen europäischen Staates, zum Beispiel, hatte die offiziellen Kreise durch folgende Äußerung verblüfft: »Verheiratet san mer zwei Jahr', aber z'sammen gelebt ha'm mer schon vier Jahr' vorher.« Er notiert dazu schlicht: »Ein echtes Naturkind«, aber man spürt, wie die Bügelfalte ein wenig schwach wird.
Aber es ist wohl nicht die Aufgabe eines Botschafters, nationale Charakterologie zu treiben. Deshalb müssen wir seine Versuche auf diesem Gebiet zwar als interessant, aber nicht immer als treffend empfinden. Viel wichtiger ist, was er über seine politische Wirksamkeit mitteilt, obgleich, wie oben gesagt, er aus begreiflichen Gründen auf Vollständigkeit keinen Wert legt. Bei Beginn seines Amtes fand er die deutsche Politik ratlos und verwildert. In Spa erlebte er den rüden Ausbruch des größenwahnsinnigen Hugo Stinnes, der dem belgischen Außenminister Hymans den sehr verständlichen Ausruf entlockte: »Was wäre mit uns geschehen, wenn ein solcher Mann die Möglichkeit gehabt hätte, als Sieger aufzutreten?« Ein paar Jahre später führte Mylord die deutschen Struwwelpeter anständig gekämmt und mit einnehmenden Umgangsformen nach Locarno und damit ins europäische Konzert zurück. Es läßt sich nicht annähernd erraten, was für eine eindringliche Erziehungsarbeit das gekostet haben mag. Wenn in die deutsche Außenpolitik endlich wieder Manieren und Vernunft eingekehrt sind, so ist das nicht zum geringsten Teil Lord d'Abernons Verdienst.
Die von ihm ausgesuchten Tagebuchblätter verraten genug von seinen Anstrengungen, wenig von seinen Mitteln. Es hieße seine Stellung allzu gering auffassen, wollte man sie auf die berliner diplomatische Vertretung Englands beschränkt sehen. Er ist in Wahrheit viel mehr gewesen. Er war Englands wachsames Auge mitten auf dem Kontinent, bald nach dem Westen, bald nach dem Osten gerichtet. Er war der Generalvormund des Foreign Office für die politischen Sitten mehrerer europäischer Staaten. Ein verzweifelndes Deutschland, fürchtete man in London, könnte sich sehr leicht mit Moskau verbünden; ein zur Vernunft gekommenes den Versuch wagen, mit Frankreich, als dem am ärgsten drückenden Gläubiger, direkt zu verhandeln und damit den Grund einer spätern Einigung bereiten. Der Pakt mit Frankreich, das hätte für England das Ende seines Einflusses auf dem Kontinent bedeutet, der Pakt mit Sowjet-Rußland noch viel schlimmeres. Deutschland sollte weder dem Westen noch dem Osten zufallen. Nach dem londoner Rezept durfte der Patient nur so weit gestärkt werden, um schon die Aufnahme in die Reihe der englischen Satelliten als Auszeichnung zu empfinden. Die stärkste Nervenprobe dieser unentschiedenen Zeit ist für den englischen Botschafter der Vertrag von Rapallo. D'Abernon wartet ihn ab wie das Ende eines hysterischen Ausbruches; durch seine Schilderung wird er fast zu einer komischen Episode. Er hat recht behalten: der Rapallo-Vertrag ist nur ein aufregendes Intermezzo geblieben ohne tiefe Nachwirkung. Und was Frankreich betrifft, so hat sich d'Abernon zwar alle Mühe gegeben, Deutschland den starrköpfigen Widerstand als unsinnig auszureden und es zur Leistung seiner Verpflichtungen anzuhalten, aber man fühlt recht deutlich, wie wenig ihm daran lag, angebahnte Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Verständigung oder gar Versöhnung ausarten zu lassen. Seine Aufzeichnungen sind voll scharfer Kritik an der französischen Politik, schweigen aber darüber, wie weit er seinen deutschen Besuchern und den amtlichen Stellen solche Meinungen eröffnet hat. Bemerkenswert ist, daß er zu einer Zeit, wo Frankreich auf Deutschlands Abrüstung drängt, immer wieder versichert, sie sei lange vollzogen. Daß er in einer Zeit, wo die deutsche Geheimrüstung blühte und die bewaffneten Verbände wie Kohlköpfe gediehen, immerzu beteuert, das sei alles ganz harmlos und Frankreichs Nervosität übertrieben und lästig. Hier ist nichts mehr übrig geblieben von dem bei seiner Berufung entwickelten Programm, zwar wirtschaftliche Erleichterungen zu gewähren, aber unbedingt auf die Erfüllung der militärischen Forderungen und der Sicherheitsgarantien zu dringen. Aber hier ahnt man auch seine Methoden, in Deutschland Freunde zu gewinnen und den Grund, weshalb sich alles ohne Ausnahme so gern in der englischen Botschaft ausweinte. Ein Mal beklagt er, daß die deutschen Friedensfreunde ihre Sympathien vornehmlich nach Paris richteten. Er drückt seine schmerzliche Verwunderung darüber aus, daß grade die konservativen Elemente Englands Freundschaft suchten, während diejenigen Kreise, denen Englands liberale Denkweise natürlich sei, sich von Paris fascinieren ließen. Doch im allgemeinen kümmert er sich wenig um Pazifisten und Sozialisten. Er legt dagegen viel Wert auf freundschaftliche Beziehungen zu Nationalisten und Monarchristen; über gleichgültige Unterhaltungen mit alten Generalen schreibt er seitenweise. Doch am 26. August 1921 notiert er nur den einen Satz: »Erzberger wurde ermordet«. Kein Wort der Würdigung; nichts.
Darf man ihn tadeln? Er hat Englands Interessen mit seltenem Talent gedient. Dennoch läßt sich sein Wirken nicht nachhaltig nennen. Er hat Deutschland an das englische Spiel fesseln wollen und bei seinem Scheiden auch sicherlich an die Erfüllung seiner Sendung geglaubt. Er hat die Dankbarkeit seiner unzähligen deutschen Freunde überschätzt, die heute in hellen Haufen dem amerikanischen Portemonnaie nachlaufen, das ja noch viel, viel dicker ist als das englische. Vielleicht wird Viscount d'Abernon seine endgültigen Gefühle darüber noch einmal in einem bittern Nachtrag niederlegen. »Deutsche Treue«, schrieb der selige Doktor Franz Sigl, »es wird einem schlecht, wenn man davon hört«.
Die Weltbühne, 5. Februar 1929