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Merkwürdige Dinge entscheiden über Sein oder Nichtsein einer Kreatur: weil der württembergische Staatspräsident süddeutscher Föderalist ist und sich nicht gern von Berlin was sagen läßt, deshalb mußte das Haupt eines Mörders fallen. Herr Doktor Bolz hat, wie das ›B.T.‹ mitteilt, noch vor zwei Jahren in einer Enquete bekannt, daß er durchaus kein begeisterter Anhänger der Todesstrafe sei. Aber jetzt, wo er von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch machen kann, gebraucht er es nicht. Vergebens telegraphieren Parlamentarier und Fraktionen. Ihre Bitte um Gnade wirkt eher beschleunigend. Der Henker muß sich beeilen, ehe noch die öffentliche Meinung alarmiert wird. Die Herrn Bolz befreundete Presse versichert, daß der Delinquent, ein Vatermörder, keines Mitleids würdig sei. So rollt denn in einem häßlichen Frühlicht ein Kopf vom Block. Der brave schwäbische Geistliche, der bis zuletzt Gebete gemurmelt hat, starrt entsetzt auf die Stelle, wo es rot quillt und stöhnt: »O du mei liebs Herrgöttle!«, ein paar schwarz gekleideten Herren dreht sich der Magen um. Die Menschen haben der Gerechtigkeit wieder einmal ein Fest bereitet.
Die Gerechtigkeit hat mit diesem höchst barbarischen Mummenschanz nichts zu schaffen. Die Gerechtigkeit ist nach Zeit und Zone verschieden, die Gerechtigkeit ist auch nicht unvernünftig. Die Zuständigkeit ist ein viel dickköpfigeres Prinzip. Der württembergische Staatspräsident sieht die Rechte seines Landes in den Staub getreten, weil »berliner Stellen« ihm zumuten, statt Hinrichtung Zuchthaus zu verordnen. Die Todesstrafe steht in Deutschland auf dem Aussterbeetat. Der frühere Justizminister Koch-Weser hat empfohlen, sie nicht mehr zu vollziehen, da an ihrer endgültigen Abschaffung im neuen Strafgesetz kaum noch zu zweifeln sei. Das haben die Länder bisher beachtet. Nur Herr Bolz entdeckt darin plötzlich einen Eingriff in Württembergs Eigenstaatlichkeit – derselbe Herr Bolz, der sonst für die Todesstrafe nicht viel übrig hat.
Wir kennen diesen Partikularismus, diesen Schlagbaum-Patriotismus. Er besteht auf seinem Schein, er pocht auf das Gesetz. Das Gesetz wird heute überhaupt immer imponierender. Ein kurzangebundener Schupomann, zum Beispiel, ahndet Baden an verbotenem Platz an Ort und Stelle mit Todesstrafe. Nun, auch Herr Bolz hat seinen Schein, und vergißt darüber die kleine moralische Erwägung, daß ein Menschenleben, und sei es das elendeste, kein geeignetes Objekt für Kompetenzkonflikte ist. Ich habe die vage Erinnerung, einmal in einer Gemäldegalerie ein Bild gesehen zu haben: Das erste Todesurteil. Ein junger König, ein schmales, bleichsüchtiges Kerlchen sitzt händeringend vor einem bösen gelben Stück Pergament. Ein paar harte Graubärte sehen mahnend auf ihn, er krümmt sich unter ihren Blicken und wagt doch nicht, den Gänsekiel zu ergreifen. Das waren die Zeiten des finstern Absolutismus, die Menschen waren abergläubisch genug zu meinen, daß für vergossenes Blut von ihnen einmal Rechenschaft verlangt werden würde. Der demokratische Herrscher von heute, ein der Wahlurne entstiegener Mitbürger, kein Tyrann, o nein, bleibt auch vor den ewigen Fragen Politiker und Verwaltungsmann. Seine Entscheidung über Leben und Tod hängt von staatsrechtlichen Erwägungen ab. Herr Bolz ist sicher ein gläubiger Katholik, aber es ist doch zu bezweifeln, ob er vor seinem Entschluß, keine Gnade walten zu lassen, beim Heiligen Augustinus oder bei Thomas von Aquino Rat gesucht hat oder vielmehr bei einigen zuverlässigen Juristen, die ihm versichern mußten, daß man ihm wegen dieser Hinrichtung nicht an den Wagen fahren könne. Damit war der Fall erledigt. Herr Bolz fühlte sich gedeckt und fragte nicht mehr, daß es nach seinem Glauben auch noch eine höhere Zuständigkeit gibt, der ein ehrenwerter Staatspräsident nicht mehr gilt als der arme Sünder, dem er den Kopf abschneiden läßt.