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Vielleicht werden Historiker kommender Zeiten einmal gewissenhafte Untersuchungen anstellen, wer nach den Septemberwahlen 1930 mit vollem Hosen herumlief, die Besiegten oder die Sieger. Denn die Letztern sind doch nur kleine Laboranten des Chaos, das sie schließlich selbst fressen wird. Aber das ist eine wenig erhebende Aussicht, und auch die Besiegten machen keine gute Figur.
Wir denken nicht daran, den Panikmachern das Wort zu reden, noch weniger allerdings soll hier jene falsche Gelassenheit gepflegt werden, die so viele Linksblätter zur Schau tragen. Es wird Zeit, daß die Republikaner aufhören, die Köpfe in den Sand zu stecken, in den sie nach Hitlers Pronunziamento nächstens rollen sollen.
Mit jener Objektivität, die das Reichsgericht immer auszeichnet, wenn es sich um Leute von rechts handelt, hat es einem hergelaufenen Narren, einem Großmaul und Poltron Gelegenheit geboten, eine Brandrede zu halten und seine Legalität zu beteuern. Man vergleiche die trockene Abfertigung des Staatssekretärs Zweigert, des Mannes der Reichsregierung, mit der entgegenkommenden Geste für Hitler. Herr Rechtsanwalt Frank, der designierte Justitiar des Dritten Reiches, durfte sich denn auch bei dem Herrn Vorsitzenden mit Recht bedanken. Das Reichsgericht ahnt den Herrn von morgen. Keine Ironie unterbricht den Mumpitz der Programmerklärung, und wie ironisch können Richter sonst sein! Kein Verweis schneidet die blutrünstigen Bravaden ab, ungestört entwickelt das heroisch tapezierte Stück Malheur mit dem Diktatorenfimmel seine Guillotinenphantasie. Was Hitler mit einem spinnenwebdünnen Tuch von Legalität umkleidet vor dem höchsten Gericht verkündete, hieße bei Politikern, die nicht Koalitionsfreunde des Reichsjustizministers sind: Vorbereitung zum Mord. Max Holz soll neulich im Sportpalast gesagt haben, daß man auch in Deutschland eine G.P.U. brauche, und flugs war der Arm der Gerechtigkeit lang ausgestreckt. Wenn ein Gericht einen hochverräterischen Plan, wie es in Leipzig geschah, mit Achtung anhört, anstatt den Mann in eine Heilanstalt zu stecken oder als Verbrecher in Eisen zu legen, so ist dies ein recht deutliches Zeichen, daß die Vertreter der Staatsautorität entweder arg erschöpft sind oder daß sie schon mit schüchternen Fußspitzen den Boden neuer Tatsache zu suchen beginnen. Manches an dieser skandalösen Tolerierung Hitlers erinnert an die Flucht des Kapitäns Ehrhardt aus dem leipziger Untersuchungsgefängnis des Reichsgerichts vor nunmehr sieben Jahren. Auch damals wußte man nicht recht, ob es eine Flucht war oder eine dürftig verhüllte Freilassung; ein ungeheuer frecher Streich des Gefangenen oder eine Kapitulation des Staates vor seinem Häftling.
Aber nicht nur durch das Zwischenspiel Hitler wird der Prozeß gegen die aktiven Reichswehrleutnants Scheringer und Ludien und den frühern Offizier Wendt denkwürdig. Dieser Prozeß deckt einen Zustand auf, der nur den gläubigen Optimisten überraschen kann. Das Charakteristikum dieses Prozesses ist, daß die Zeugen, die Vorgesetzten und Kameraden, kaum anders reden als die Angeklagten. Man muß den Unterschied zwischen den Loyalen und den Verschwörern mit der Lupe suchen. Gemeinsam ist allen die Abneigung gegen den republikanischen Staat. Gewiß, die Altern sind vorsichtiger, auch reifer und weniger stur. Man hüte sich vor dem leichtherzigen Selbstbetrug: Was besagen zwei Personen für das Ganze? Viel berechtigter ist schon die Annahme, daß diese Zwei, die sich zu weit vorgewagt, zu laut und zu viel geredet haben, nur ein paar vom Zufall gestellte Kostproben ihrer Altersklasse, ihrer Charge sind.
Das Gericht hat sich sehr viel Mühe gegeben mit der Zergliederung der komplizierten Seelenlage der jungen Herren. Man hat ihre Anschauungen über Volk, Staat, Politik, Wirtschaft, Krieg und Frieden sorgfältig untersucht und zur Debatte gestellt. Es fielen dabei manche sehr gewählte und hergeholte Worte, es fiel nur ein Wort nicht, ein trockenes, klapperdürres Wort, das sonst bei keinem militärischen Thema fehlt, ob es vor Gericht oder im Salon abgehandelt wird. Dies Wort heißt: Subordination! Die Fähigkeit, mit halbwegs korrekter Miene das Maul halten zu können, gilt doch von alters als die höchste Tugend des Soldaten. Wird diese eine Tradition in unsrer so traditionenreichen Wehrmacht nicht gepflegt? Jedem Gymnasiasten ist doch der Konflikt des Prinzen von Homburg vertraut – kennen ihn denn unsre Offiziere nicht? Allerdings ist der Unterschied groß, und diese jungen Herren haben bisher weder aus Versehen noch mit Plan gesiegt, aber schon in dem Kommandeur, der sie väterlich zum Maßhalten bewegen will, sehen sie den bösen Vetter Friedrich, der den Brutus spielen möchte, und schnippisch lehnen sie seine freundlichen Hinweise ab, daß selbst diese Republik eine Unze Gehorsam zu verlangen hat: »Und wenn er mir in diesem Augenblick, wie die Antike starr, entgegenkommt, tut er mir leid, und ich muß ihn bedauern.« Aber man kann nicht sagen, daß die Herren Befehlshaber starr wie die Antike aufgetreten wären, ihre Begriffe von Disziplin und Unterordnung sind mehr gemütlich als rigoros. Ein Herr Oberleutnant Städtke zum Beispiel, verbreitet sich über die Theorie, daß ein guter Offizier ein antiparlamentarischer Mensch sei, denn Parlamentarismus kommt von parlare = sprechen. Ausgezeichnet. Aber diese Militärs hier sind von einer Geschwätzigkeit, die alte Parlamentarier erröten machen könnte, das ist keine Armee sondern eine Filiale der Hochschule für Politik. Und auch die Schweigsamen sind keine reine Erquickung. Zeuge Hauptmann a.D. Gilbert: »Scheringer zerbrach sich den Kopf darüber, was einmal geschehen würde, wenn auf rechts geschossen werden sollte. Er sprach darüber ganz offen seine Ansichten aus. Ich hielt die Art, alles offen auszusprechen, für gefährlich.« Im ganzen hat man nach den Zeugenaussagen das Gefühl, daß die Vorgesetzten mehr über die Offenheit als über den Inhalt der Gespräche bestürzt waren. Das Mißtrauen gegen den Staat überwiegt. Es wird eifrig disputiert, ob man auch verpflichtet sei, ihn gegen rechts zu verteidigen. Die jüngsten Schnösel fühlen sich als die geborenen Führer der Nation. Niemand hat ihnen gesagt, daß sie nichts andres sind als Beamte, Funktionäre des Staates wie der Steuersekretär, der Studienrat, der Mann an der Feuerspritze. Daß das Volk für einen unverantwortlich opulenten Wehretat die Lasten tragen muß, dringt nicht in die Kasinos. Hier ist viel, hier ist alles verpfuscht worden, die ganze Konzeption dieser Armee ist verfehlt.
Vor den Ergebnissen dieses Prozesses erübrigt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit der Reichswehr bei einem neuen Stoß gegen die Republik. Es läßt sich wohl annehmen, daß die Generalität durch den Umgang mit politischen Dingen, durch den Mißerfolg Kapps belehrt, ein putschistisches Abenteuer nicht mitmachen würde. In den hohen Stäben ist das Ideal eine Diktatur, die Legalität nicht ausschließt, die Verfassung auf dem Papier stehen läßt und den Segen des Reichspräsidenten hat. Die altern Herren haben manche Erscheinungen vorübergleiten sehen, das viele Horngeschmetter seit 1914 hat ihre Ohren sehr abgehärtet, und außerdem werden sie das Dritte Reich nicht leicht als mündelsicher anerkennen. Wenn unser Goebbels, der Sohn des Hammergottes Thor und Schwiegersohn des Knüppelgottes Kunze, in seinen eignen Phrasen gefangen, doch noch zum Marsch nach der Wilhelm-Straße aufruft, dann werden die Generale sicher die Befehle zum Widerstand erteilen, vielleicht nicht grade kleistisch, eher so, wie Wilhelm Busch sagt: »Unter stillem Tränenregen, traurig, doch von Amtes wegen.« Aber auf die Generale kommt es dann nicht mehr so sehr an sondern auf den Oberleutnant an der Bannmeile. Und wenn der junge Held beim Anrücken der fascistischen Legionen grade in schwere Meditationen über den Zwiespalt zwischen vom Staat bezahlter Pflicht und persönlichen Anschauungen versunken ist, und wenn die Rebellion immer näher kommt und der Gewissenskonflikt nicht zu Ende geraten will – was dann? Das ist die bittere Frage, die der Prozeß gegen die Offiziere aufwirft.
Die Weltbühne, 1. Oktober 1930