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Fast gleichzeitig mit einem neuen heftigen Linksruck Stalins erscheint in deutscher Sprache eine leidenschaftliche Anklage gegen Rußlands Lord-Protektor, in der er des maskierten Revisionismus, der Auslieferung des sozialisierten Staates an die Großbauern und an eine neue Klasse von Besitzenden bezichtigt wird. Der Verfasser dieser stürmischen Streitschrift ist Stalins Widerpart, Leo Trotzki, heute in Sibirien Verbannter.
Es ist kein einheitliches Buch, sondern eine Zusammenstellung von Memoranden, Controversen, Reden, Selbstverteidigungen, kleinen programmatischen Schriften und Erinnerungen an Lenin. Der Titel »Die wirkliche Lage in Rußland«, wahrscheinlich von deutschen Freunden ausgewählt, die das Buch deutsch (für den Avalun-Verlag in Hellerau) ediert haben, trifft nicht ganz zu, weil die meisten der Stücke nicht mehr neu genug sind, um die letzten innerrussischen Entwicklungen zu charakterisieren. Es fehlt auch die Bindung durch einen zentralen Gedanken. Stücke aus Trotzkis oppositionellen Jahren sind ziemlich beziehungslos aneinandergereiht worden; im Endergebnis überwiegen Dokumente des Unmutes, des Hasses. Eine Publikation, die den großartigen Pamphletisten Trotzki neu bestätigt. Den Politiker weniger.
Dies Fragmentarische wird indessen nicht durch Trotzkis Absichten bestimmt, sondern durch den Zwang, unterirdisch zu arbeiten. Eine hinterm Rücken der G.P.U. veranstaltete Ausgabe kann keinen Anspruch auf Vollkommenheit erheben. Wenn das Buch schließlich mit einer Reihe von Fetzen eher erlischt als aufhört, hat man das Gefühl, daß hier ein Mund mitten im Sprechen durch einen Knebel gewaltsam stumm gemacht wurde. Trotzkis Waffe war eine Reihe beschriebener Blätter voll von Manifestationen, Beschwörungen, Entwürfen und Zahlen. Das Argument der Andern hieß: Sibirien. So pflegten auch die früheren Besitzer des Kreml Diskussionen zu beenden.
Diese Entstehungsgeschichte des Buches muß in Betracht gezogen werden. Dennoch kann auch Unfertiges überzeugen – Trotzki überzeugt nicht. Man schreibt es nicht ohne Bedauern nieder: alle Anklagen und Beteuerungen des eignen leninorthodoxen Glaubens weisen nur zu deutlich auf, wer der Geschlagene ist. Der Andre mag der an Vielfältigkeit der Qualitäten Ärmere sein – er hat eine Generalidee, Trotzki nur Klagen und Rückblicke. Grade wenn Trotzki wieder und wieder ihn bezichtigt, daß er sich von den Grundsätzen der heroischen Ära entferne, dann fühlt der Leser, der weder auf Stalins noch auf Trotzkis Marxexegese eingeschworen ist, daß eben hier das Neue zu suchen ist, die Macht der Tatsachen, die über die Ideen und Handlungen einer großen Generation erbarmungslos hinweggeht. Trotzki ist neben dem Gegner der Konservierende, der Defensive, und daran ändert nichts, daß es die Revolution ist, deren reinen, unverfälschten Gehalt er zu wahren versucht.
Es ist außerordentlich schwierig, diesen Sachverhalt festzustellen. Denn beide Gruppen treten kostümiert auf, beide entfalten um den Kern ihrer Meinung einen Maskenball von recht ähnlichen Worten. Beide wollen sich an Radikalität übertrumpfen, beide holen ihre Sprache aus dem marxistischen Wortschatz. Wer etwa eine Rede Bucharins liest mit ihren flammenden Invektiven gegen die plutokratischen Nationen, mit ihren ketzerrichterlichen Abkanzelungen der europäischen Sozialdemokraten, wird kaum auf den Gedanken kommen, daß dieser selbe Bucharin heute eine Art von rechtem Flügel bildet und im Verdacht steht, heimlich eine Annäherung an diese Sozialdemokratien zu betreiben! Auch Trotzki sucht für Stalins Maßnahmen gegen die Opposition konterrevolutionäre Motive, er sieht darin »nur eine blinde und unbewußte Erfüllung von sozialen Befehlen andrer Klassen«, und ruft prophetisch: »Die schlechtesten Elemente, durch Macht verdorben, durch bureaukratischen Haß verblendet, bereiten mit aller Kraft den Thermidor, den Tag der Vernichtung der Revolution, vor ... Wir sagen offen zur Partei: die Diktatur des Proletariats ist in Gefahr.« Das ist wie die Stimme Robespierres, am Tage vor dem Untergang den pariser Gemeinderat gegen den Konvent aufrufend, um die Revolution zu retten. Aber dieser gleiche Trotzki, der den Stalin zu überstalinisieren scheint, ist zugleich – o, Ironie! – die Hoffnung aller europäischen Demokraten, der Mann, von dem man in Westeuropa erwartet, er werde die Diktatur brechen und der Demokratie den Weg bereiten. Nehmen wir noch dazu, daß auch Stalin die Diktatur des Proletariats bald von den Kulaken, bald von der »dritten Kraft«, dem Bürgertum, bedroht sieht und sich selbst als den einzigen Erhalter und Verkünder der reinen Lehre geriert, so ist der Widersprüche kein Ende. Sind sie nicht alle Gefangene ihrer Worte?
Trotzkis Programm auf knappste Formel gebracht, bedeutet nach Innen und Außen Rückkehr in die Zeit des Bürgerkrieges, und seine Durchführung würde auch mit ziemlicher Gewißheit die damals herrschenden Verhältnisse wiederkehren lassen. Die Weltrevolution ist ganz gewiß mehr als ein Traum hysterischer Propagandisten, das muß mit aller Deutlichkeit gegenüber den Ordnungssozialisten aller Länder betont werden, aber es ist chimärisch, sie in den Formen zu erwarten, wie sie um 1920 geträumt wurden. Seitdem haben sich nicht nur die kapitalistischen Mächte gründlich erholt, auch das Kartenbild von Versailles, damals als Anfang vom Ende empfunden, ist heute in die Gewohnheit der Völker übergegangen.
Die Schwäche Trotzkis enthüllt sich auch in seiner Stellung zur chinesischen Revolution. Er wirft den Stalinisten vor, daß sie sich auf Gedeih und Verderb den liberal-demokratischen Cantongeneralen verbündet hätten, die nach ihren ersten Erfolgen sofort Proletariermetzeleien veranstalteten. Er schreibt: »Schon 1920 schlug Lenin den Chinesen vor, Sowjets, Räte zu schaffen, und wie sehr er damit das Richtige traf, zeigt die ganze Lage der Jahre 1926 und 1927, in denen ein chinesisches Rätesystem eine Bauernherrschaft unter Führung des Proletariats herbeigeführt hätte.« Hier stutzt man. Glaubt das ein alter, erfahrener Politiker, der sich in seinem ganzen Leben keine Flausen vorgemacht hat, wirklich selbst? Wie wäre es möglich gewesen, dieses ungeheure Land, von dem nur ein winziger Teil bisher von modernen Ideen und Produktionsformen erfaßt worden ist, mit einem dichtmaschigen Netz von Sowjets zu überziehen? Und hat nicht grade Aufschwung und jäher Bruch dieser Revolution gezeigt, daß die chinesische Bourgeoisie sich in ihrer nationalen Erhebung zwar gern von Moskaus militärischen Instrukteuren bevormunden ließ, daß sie aber für die Verbreiter seiner sozialen Ideen verteufelt wenig Wohlwollen übrig hatte? Ein in China forcierter Sowjetgedanke hätte wahrscheinlich das besitzende Bürgertum von vornherein in den Schatten der schützenden Kanonen der sonst so verhaßten imperialistischen Mächte getrieben, und es wäre nicht einmal der heutige Zustand erreicht worden, der immerhin eine große Etappe auf dem Wege zur endgültigen Befreiung und eine schwere Blessur der alten europäischen Expansionstendenzen bedeutet. Es ist eine harte Enttäuschung, hier bei Trotzki die Orthodoxie der ersten Jahre des Bolschewismus auferstehen zu sehen, einen Rigorismus, der außerhalb Rußlands überall kläglich gescheitert ist und als einzige Schöpfung eine Reihe sehr turbulenter, aber sonst machtloser und in sich uneiniger kommunistischer Parteien hinterlassen hat. Deren Politik hat sich so sehr verrannt, daß sie nicht von der eignen Kraft, auch nicht von Moskaus Attraktion leben, sondern nur von den Fehlern der sozialdemokratischen Parteien. Was immerhin, selbst in Zeiten der Flaute, ein Existenzminimum verbürgt. Aber die ideale Daseinsform ist das nicht. Revolutionärer Impetus zielt weiter. Käme Trotzki heute, was sehr unwahrscheinlich ist, durch einen coup d'état wieder nach oben, so würde er kein ärgeres Hindernis vorfinden als die in seinem eignen Protestbuch niedergelegte Plattform, und es bliebe ihm nichts andres übrig, als der Hechtsprung in die Demokratie, falls er es nicht vorziehen sollte, Stalins Linie, die er als konterrevolutionär verflucht, einfach fortzusetzen. Insofern sind die westlichen Spekulationen auf Trotzki doch nicht so phantastisch.
Der Held der zehn Tage, die die Welt erschütterten, dieser kaltblütige, heroische und dabei von einem wahrhaft gallischen Witz elektrisierte Revolutionär, den John Reed in einem klassischen Porträt festgehalten hat, ein Deportierter, ein Geketteter, der sich in Verbissenheit und romantischen Vorstellungen sein Narkotikum sucht, um der Gegenwart zu entrinnen. So sagt sein Buch über die wirkliche Lage in Rußland recht wenig, aber sehr viel darüber, wohin es führt, wenn ein Staat die Bindung der Zungen zum obersten Prinzip erhebt. Das Gros auch sogenannter Revolutionäre hat diesen Zustand zwar immer mit einem buntfarbigen Behang von Phrasenlappen umkleidet und das Maulhalten als höchste Tugend verklärt – es sind die stärksten Charaktere, die heißesten Temperamente immer, die dagegen rebellieren. Die Gesinnungsathleten, die Danton und Desmoulins auf dem Wege zur Guillotine verhöhnt haben, sind später als napoleonische Geheimräte dekoriert worden, ohne den Dolch des Brutus aus der Toga zu ziehen. Man braucht nicht zu zweifeln, daß auch Stalins unerbittliche Jakobiner die künftigen klimatischen Wechsel der russischen Staatsverfassung in ähnlich guter Gesundheit überstehen werden. Man kann dem Praktiker Stalin recht geben und doch Trotzkis kalte Erledigung als eine Schande empfinden, nicht geringer als die Meuchelung Matteottis durch Mussolinis Bravos.
Hier winkt den nichtrussischen kommunistischen Parteien eine großartige Aufgabe. »Du magst tausend Mal recht haben, Genosse Stalin«, müßten sie sprechen, »du bist der stärkere Ökonom, und auf dir lastet die Verantwortung, für alle Brot zu schaffen. Aber du hast nicht recht, wenn du den Zaren kopierst!« Sie werden nicht so sprechen, denn sie sind günstigstenfalls Bureaubeamte der Revolution, und in ihren Herzen brennt nichts. Wenn sie aber, wie es sich gebührte, den Mund auf tun würden – Genosse Stalin ist der Mann der Realitäten. Doch sie haben nichts zu verlieren als ihre Parlamentsdiäten und ihre Ansprüche an die Parteikasse, also alles, und dafür läßt sich schon eine Kette ertragen. Kollektivismus bedeutet noch nicht persönliche Courage.
In einem grauen sibirischen Nest vollendet sich langsam, unerträglich langsam, Trotzkis Tragödie. Der rote Generalissimus wird in die Welthistorie eingehn; spätere Generationen werden sein Bild umkränzen. Für die Unsterblichkeit muß immer teuer bezahlt werden.
Was im Lied soll ewig leben,
muß im Leben untergehn ...
Die Weltbühne, 4. Dezember 1928