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Die Sozialdemokratie steht vor ihrer schwersten Entscheidung. Sie hat am 20. Mai unverhofft überreichen Gewinn heimsen dürfen, aber mehr noch als ihr Plus bedeutet das Minus der Rechten. Die Deutschnationalen haben zum ersten Mal in zehn Jahren den Ernst des Lebens kennen gelernt; die demokratische Institution des allgemeinen Stimmrechtes, der sie, die Volksfeinde par excellence, sich bisher unbedenklich anvertrauten, hat sie plötzlich sacken lassen. Vielleicht eine Schramme, die narbenlos verheilen, vielleicht eine Wunde, deren Blutverlust Schwächung für immer hinterlassen wird. Grade dieser rapide Absturz der bisher vor wie hinter den Kulissen dominierenden Partei legt der Sozialdemokratie eine lastende Verpflichtung auf. Denn die Riesenscharen zugewanderter Wähler fragen den Teufel nach den Bindungen des Erfurter oder Görlitzer Programms, nach den Erwägungen sozialistischer Theoretiker und Taktiker, wie weit die Sozialdemokratie sich in der Mitverantwortung für den immerhin existenten Klassenstaat engagieren dürfe – sie sind ganz einfach enttäuscht von den Kunststücken der Rechten und wollen es nun mit der andern Seite versuchen. Ein geringerer Erfolg hätte nur Anerkennung für tüchtige Opposition bedeutet. Doch dieses Votum heißt: Ihr sollt regieren. Es ist schwer, auf einen solchen Appell ausschließlich mit taktischen Bedenken zu antworten. Kommt noch hinzu, daß die Wahlen im Ausland ungeheure Sensation gemacht haben und daß man sie dort, in Verkennung der innerpolitischen Sachverhalte, für Stresemann-Wahlen hält. Dort sah man die Große Koalition, die doch erst geschaffen werden soll, schon im Wahlkampfe wirkend. Würde die Sozialdemokratie, wenn auch mit triftigsten Gründen diese Kombination zunichte machen und damit einen neuen Bürgerblock inthronisieren, man würde sie nicht verstehen, würde ihr die Schuld aufbürden, wenn die Außenpolitik nicht weiter kommt und dem neuen, in Carcassonne manifestierten Poincaré eine kümmerliche, klebrige Regierung der rechten Mitte entgegentritt, die aus nationalen Gründen beleidigt lächelt, anstatt den zugeworfenen Ball aufzunehmen. Das sind starke Argumente für die Allianz mit Stresemann.
Ich habe in der Wahlnacht, unter den Eindrücken der ersten Resultate, hier an dieser Stelle geschrieben, daß eine Sozialdemokratie, die sich in das Abenteuer der Großen Koalition einläßt, in zwei Jahren gespalten sein wird. Ich wählte diese zugespitzte Formulierung mit Bedacht, um das Risiko aufzuzeigen, das die Partei eingeht, wenn sie, dem eilfertigen Ehrgeiz einer unverbesserlichen Sorte ewiger Ministrabler blind nachgebend, mit Schwertgeklirr und Wogenprall in ein unbesehenes Bündnis steigen sollte. Das hieße allerdings die Einheit der Partei in Frage stellen, einen zweiten Hinauswurf wie den von 1923 könnte selbst die Sozialdemokratie nicht mehr ertragen. Ich will nicht zu der bittern Untersuchung einladen, was die Partei heute noch an Elan, Entschlossenheit und Geist zu bieten vermag. Ihr wirklicher Wert liegt nicht in äußern oder intellektuellen Reizen, sondern in ihrer Einheit, die sie ihrem völligen Mangel an Problematik und einer netten, gesäßigen Nervenlosigkeit verdankt, die auch in erregtesten Zeitläuften nicht aus der Fasson zu bringen war. Käme auch die zweite sozialistische Partei der Republik noch ins Fließen, würde auch da, wie bei der kommunistischen Nachbarschaft ein Mal im Quartal aussortiert und exmittiert, dann: »– Fahre wohl, Doria, schöner Stern! Auch Patroklus ist gestorben und war mehr als du!« Zur Ehre der sozialdemokratischen Führer sei gern gesagt, daß sie dies Mal die Gefahr sehen, daß sie nicht munter auf das schwellende Prokrusteslager hüpfen, sondern sich mit ihren Erwägungen Zeit lassen und die, hoffentlich!, benutzen, um Bedingungen auszuarbeiten, die es den Andern nicht zu leicht machen. Mögen die Demokraten das auch Shylockkontrakt nennen, es muß festgehalten werden: nicht nur die Deutschnationalen sind geschlagen, sondern auch die Mittelparteien!
Leider ist man auf dem linken sozialdemokratischen Flügel etwas zittrig geworden und redet dort wieder von der Weimarer Koalition. Warum soll das Bündnis mit Stresemann verwerflich sein, das mit Koch und Guerard dagegen mit den Prinzipien vereinbar? Kurt Hiller hat hier im vorigen Heft die Zusammenarbeit der kulturpolitisch liberalen Parteien, unter Ausschließung des Zentrums also, empfohlen, in der klaren Erkenntnis selbstverständlich, antizipierend zu sprechen, da in den Vorstellungen, die sich die ungläubigen Parteien vom Zentrum machen, noch immer ein sehr naiver Wunderglaube vorherrscht. Das Mirakel wird nicht eintreten. Das Zentrum hat zwar nicht seine Gestalt gewechselt, aber findet langsam seinen alten Charakter wieder. Die sozial-radikale Episode ist vorüber. Das Zentrum wird wieder, wie unter Bachem-Trimborn, eine schroff konfessionelle Partei, gelegentlich aufmuckend, weil das die Rücksichtnahme auf die Arbeiterwähler erfordert; aber die Partei eines traditionell gebundenen Christentums muß heute, wo alle alten Gefüge wackeln, zwangsläufig zu einer konservierenden Partei werden. Das hat auch Hellpach in seinen in manchen Stücken recht anfechtbaren, aber im Ganzen sehr anregenden und beachtlichen »Politischen Prognosen« ausgeführt. Nach seiner Meinung wird das Zentrum mit der Überwindung der Pubertätskrämpfe der Republik seine Bedeutung als Partei des Ausgleichs verlieren, immer weiter nach rechts rücken und endlich der linke Flügel des zukünftigen Konservativismus werden: neben den Nationalistisch-Konservativen, die Christlich-Konservativen. Ist das nicht schon heute so? Nur auf der Linken will man es nicht sehen. Und es ist eine schwer begreifliche Verblendung, daß man grade bei der linken Sozialdemokratie das Zentrum für zuverlässiger hält als Stresemanns Gefolgschaft und sich abmüht, die Unterschiede auf der Apothekerwage festzustellen.
Die Sozialdemokratie handelt also taktisch durchaus richtig, wenn sie den Mittelparteien nicht gleich liebeglühend um den Hals fällt. Denn schließlich geht auch bei den Andern einiges vor, und der Chok über den Wahlausgang ist viel stärker als sie in ihrer Presse merken lassen. Zunächst wird geplant, jene Arbeitsgemeinschaft der Mittelparteien ernstlich wiederaufleben zu lassen, die 1922 gegründet wurde, als die Vereinigung mit den Unabhängigen bevorstand und man von Crispien und Breitscheid noch die rote Verseuchung der alten Partei erwartete. Diese Arbeitsgemeinschaft ist unverdient in Vergessenheit geraten, weil sie nur ein Mal ganz effektiv wurde, und diese Leistung allerdings sollte in Erinnerung gerufen werden: es war die Mißgestaltung des Republikschutzgesetzes, für dessen schiefe Prägung die Mittelparteien verantwortlich sind, weil sie damals – noch war das Reichsbanner nicht erfunden! – in einem energischen Republikschutz den Beginn jakobinischen Terrors fürchteten. Darüber möge man nicht im Zweifel sein: auch die neue Gemeinschaft der mittlern Fraktionen würde vornehmlich die Aufgabe haben, der Sozialdemokratie enge Grenzen zu ziehen. Denn, um es zu wiederholen, der Chok in den Mittelparteien ist viel größer als die Bonhommie ihrer Blätter verrät ... Wenn die Sozialdemokratie wirkliche antikapitalistische Politik versuchen sollte, wird sich zeigen, wie wenig Verbindung noch zwischen ihr und den republikanischen Sonntagsrednern der Mittelparteien besteht.
Es liegt übrigens auch noch keine autoritative Äußerung der Deutschen Volkspartei vor, ob dort überhaupt die Große Koalition gewünscht wird. Stresemann, der im Ausland irrtümlicherweise für den Bannerträger eines cartel de gauche gehalten wird, ist, wie wir wissen, in Wirklichkeit der virtuose Jongleur der wechselnden Mehrheiten, sein Herz jedoch ist beim Bürgerblock. Das Übergewicht der Deutschnationalen war ihm zuletzt sicher sehr lästig und störend – – aber, gesetzt, die Deutschnationalen würden ihrer herabgeminderten Zahl entsprechend heute ein taktisch klügeres und nachgiebigeres Angebot machen, mit der Garantie, in Zukunft trätablere Personen vorzuschicken als den plumpen Provokateur Keudell ... wer weiß? So entwaffnet ist man in den mittlern Fraktionen nicht, in der Großen Koalition die einzige und letzte Chance zu sehen und alle Anstrengungen grade darauf zu richten. Das ist ein falscher Eindruck, der besonders von der Demopartei hervorgerufen wird, die ja nicht mehr viel zu sagen hat und wie eine Dame von fröhlicher Vergangenheit, die allmählich in die Jahre kommt und immer weniger Aufforderungen zum Mitspielen erhält, sich jetzt, höflich gesprochen, aufs Vermitteln geworfen hat. Einstweilen wird von Herrn Erich Koch sehr eifrig das Werben für die große Liberale Partei betrieben, was, nüchterner ausgedrückt, nicht mehr als Übernahme der demokratischen Stoffreste in das stärker assortierte Lager der Volkspartei bedeutet. Da die Demokraten nur Geist mitbringen, bemühen sie sich, um wenigstens etwas Nahrhaftes zu bieten, auch um die Überredung der Wirtschaftspartei, und als die erste Frucht der Bemühungen dürfte im Reichstag bald ein engeres Zusammengehen der drei liberalen Gruppen sichtbar werden. Nun steht es jedem frei, seine Interessen wahrzunehmen, so gut er kann. Aber einleuchtend dürfte auch sein, daß die konstruktiven Versuche in den Mittelparteien die Sachlage ein wenig verändern, daß die Anstrengungen, die Mitte neu zu organisieren und fester zusammenzubringen, vornehmlich Abwehrmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie vorbereiten und damit auch gegen die Arbeiterschaft. Die gleichen Parteien, die stets den blutigsten Klassenkampf wittern, wenn die Arbeiter auf ihre einfachsten vitalen Rechte pochen, ziehen selbst einen Grenzstrich zwischen sich und die Arbeiterschaft und suchen eine festere Untermauerung ihrer klassenmäßigen Stellung. Für sie ist die Sozialdemokratie nur eine genehme Alliierte, wenn sie sich »verantwortungsfreudig« zeigt, das heißt, wenn sie die bestehende Gesellschaftsordnung mitverantwortet. Nun braucht eine sozialistische Partei nicht zwei Mal täglich »Revolution!« zu trommeln, wie die Kommunisten wünschen, aber als dauernde Lebensversicherung der bürgerlichen Gesellschaft zu fungieren, das wäre auch von den zahmsten Sozialisten zu viel verlangt.
Es gibt in der Gegend von Stresemann und Guérard Gemütsmenschen, die sagen: »Wenn die Sozialdemokratie machtlüstern ist, soll sie in Gottes Namen drauflosregieren. Wir wollen nicht knausrig sein. Es soll auf ein paar Ministersitze nicht ankommen. Was die Sozis damit anfangen, ist ihre Sache, aber in ein paar Monaten werden sie sich abgewirtschaftet und blamiert wieder trollen ...« In dieser freundlichen Spekulation liegt das größte Risiko für die Sozialisten. Man möchte sie vor Schwierigkeiten stellen, an denen sie die Grenze ihrer Kraft fühlen ... Wenn die Genossen in der Wilhelmstraße sitzen, wird das alte Lied von den »roten Ketten« wieder losgehen; Konflikte werden provoziert werden; die Unternehmerschaft wird die Hungerpeitsche kräftiger schwingen, um den Arbeitern zu bedeuten, daß sich gar nichts ändert, wenn ihre Leute regieren. Im Gegenteil. So soll der Weg frei gemacht werden für den bürgerlichen Mischmasch. Aber der Weg wird zu Hugenberg führen ...
Das ist die bittere Entscheidung für die Sozialdemokratie. Sagt sie ab, enttäuscht und verstimmt sie. Akzeptiert sie, ist es ein Sprung ins Unbekannte. Aber Koalition oder nicht, das ist doch nicht die letzte Frage. Was die Partei auch unternimmt, es kommt darauf an: mit welchen Mitteln und welchen Männern! Sie mag regieren oder opponieren, beides wird ihr kaum schaden, wenn sie es ohne falsche Rücksichtnahme und ohne Schielen tut. Wenn sie gezwungen ist, heute oder in einem Jahr die Tür hinter sich zuzuschlagen, dann soll sie es so tun, daß es durch ganz Deutschland knallt. Möge sie die richtigen Männer vorschicken, die verantwortungsfreudig sind, nicht gegenüber Herrn Marx oder Herrn Stresemann oder gegenüber irgendwelchen anonymen Couloirklüngeln, sondern gegenüber den Millionen draußen im Lande, die sie gewählt haben, weil sie auf sie hoffen.
Die Weltbühne. 5. Juni 1928