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Für Brockdorff-Rantzau hat sich die Todesfackel zu früh gesenkt. Zwei Tage mehr, und sein verlöschendes Leben wäre im strahlenden Bewußtsein des Sieges verflackert. Die letzte Genugtuung ist ihm nicht mehr widerfahren, dem Mann mit dem Ressentiment von Versailles in Kopf und Herz, dem unermüdlichen Frondeur gegen die Ära Stresemann. Er stand gegen Locarno und Genf, in der Bindung an den Osten sah er die deutsche Zukunft. Der 10. September von Genf brachte die große Niederlage seiner Gegner im Auswärtigen Amt und in den demokratischen Parteien. Was hätte Brockdorff an diesem Abend nicht ausrichten können, wo die Armee von Locarno, aufs Haupt geschlagen, nach allen Richtungen auseinanderstob?
Schnell lüften die Nekrologisten den Trauerzylinder, murmeln, an die bittern Tage von Versailles erinnernd, ein kurzes Stoßgebet und eilen an einen andern Katafalk. Denn unten in Genf liegt aufgebahrt ein Schemen, eine Phantasmagorie, der illusionäre pazifistische Doppelgänger des Aristide Briand, die der Inhaber der leiblichen Gestalt mit ein paar harten rhetorischen Faustschlägen höhnend ins Schattenreich der unerfüllten Wünsche gejagt hat. Ein Hoffmannsches Motiv. Die deutsche Politik hat einen guten Mann verloren und ihr war er mehr. Statt des liebenswürdigen alten Onkels der Politischen Novelle sehen die Deutschen unerwartet ein neues grimmiges Antlitz: – Briand-la-guerre.
Bei den Nationalisten herrscht infolgedessen Ausgelassenheit. Die Linke liefert wieder Charpie für die Wunden, die der Streit Hugenberg-Lambach geschlagen. Ein größeres Göttergeschenk konnte nicht kommen. Erst der Kreuzerskandal, jetzt ein heftiger Echec der Außenpolitik. Nach ein paar Tagen sammelt sich die alte Garde der Locarnoarmee wieder. Schämt sich der jäh ausbrechenden Mutlosigkeit, sucht nach Erklärungen. Am Dienstag noch sah es anders aus. »Man hätte gewünscht, die heutige Rede Briands ... zu einem großen Teile nicht gehört zu haben. Sie wird dem Ansehen, dessen sich der französische Außenminister bisher bei allen Völkern erfreut, wenig hinzufügen, aber ihm viele Sympathien entfremden.« (Julius Becker.) »Aber wenn man daraus die Konsequenz ziehen will, die Briand anzudeuten sich nicht scheute, so zeigt das nur, daß für diejenigen, die kein Vertrauen haben wollen, es überhaupt keinerlei stichhaltige Probe von Aufrichtigkeit und Friedensliebe gibt.« (Georg Bernhard.) »... seien wir doch, sage ich, aufrichtig genug, hier festzustellen, daß der Völkerbund dem deutschen Volke trotz Locarno und Thoiry, trotz London, pariser Kellogg-Tage und des angeblich guten Willens des armen Herrn Briand, bis heute eine Enttäuschung nach der andern bereitet hat ... Der Völkerbund ist die kostbare Zeit, die deutsche Minister und Beamte so oft an ihn verschwenden, überhaupt nicht mehr wert.« (Victor Hahn.) Erst als die ärgste Panik sich gelegt hatte, wurde die Frage aufgeworfen, warum Briand mit solcher Unbeherrschtheit auf Hermann Müllers ziemlich schüchterne Anzapfungen geantwortet, warum er, was sonst in Genf nicht üblich ist, selbst auf die parteipolitische Stellung des Reichskanzlers boshaft angespielt habe. Die ersten Erläuterungen hinkten. Man konnte sogar die Version lesen, Briand habe eine Kandidatenrede für die Nachfolge Poincares gehalten, auch: daß er gereizt gewesen sei, weil verschiedene deutsche Blätter neuerdings direkt an Poincare appelliert, ihn also umgangen hätten. Denn daß Briand und Poincare in der Behandlung der deutschen Fragen scharfe Gegner sind, gehört leider noch immer zu den Axiomen der Wilhelm-Straße.
Briands Rede verfolgte verschiedene Tendenzen, und man muß zunächst einmal sortieren. Die an die Adresse des Reichskanzlers gerichteten Unfreundlichkeiten sind kaum das Hervorstechendste, mindestens nicht das Hauptsächliche. Die Anspielung auf die Parteizugehörigkeit des Kanzlers war eine Abwiegelung der Zweiten Internationale, die sich soeben in Brüssel für die Rheinlandräumung ausgesprochen hat. Im übrigen dürfte sich Briand über die sozialistische Internationale keine übertriebenen Vorstellungen machen, hat er doch selbst Herrn Paul-Boncour, einen der geachtetsten Vertreter der Sozialdemokratien, der sich einen blauen Teufel um deren Beschlüsse schert, als ersten Sekundanten zur Seite. Viel wichtiger war die Partie über die Abrüstung. Das war eine generelle Absage, ganz ohne das gewohnte deklamatorische Beiwerk. Mit unüberbietbarer Deutlichkeit hat Briand das ausgedrückt, was so viele in den europäischen Kabinetten denken: So, der Krieg ist jetzt auf dem Papier geächtet. Genug davon. Wehe dem, der an Realisation denkt! Und Finger weg von den Mitrailleusen ...! Kann man diese Rede milder interpretieren? So sprach der selbe Mann, der vor zwei Jahren mit seinem Appell an die Friedensliebe der Völker einen wahren Begeisterungsrausch erweckt hat. Ein zynischer Schauspieler, der die pazifistische Tartüfferie der großen Kabinette ohne Schminke ins grelle Rampenlicht rückt und auf die täuschenden Attrappen verzichtet. Daß der Kelloggpakt nur als chiffon de papier zu nehmen ist, niemand hat es bisher so brutal herausgesagt. Und damit nicht genug, daß auch nicht ein Krümchen Zweifel in den Hirnen liegen bleibt: die Rede läuft in einen heftigen Frontalstoß gegen Rußland aus, gegen »den Staat, der rüstet und hierher kommt, um von uns vollständige Abrüstung zu verlangen.« Und das unmittelbar, nachdem Tschitscherin selbst Moskau zum Kelloggpakt angemeldet hat. Niemals war der Augenblick für eine solche Warnung, wäre sie in ehrlicher Verkennung der Dinge erfolgt, schlechter gewählt gewesen. Aber Briand ist nicht mangelhaft orientiert, es wäre Unsinn, das anzunehmen, aus seinen Worten schrie förmlich die Angst, das Sowjetreich könnte es aufrichtig meinen und sich freiwillig dem System des Friedenspakts einordnen, nicht um es zu sprengen, sondern um selbst Entlastung von drückenden Rüstungen zu finden. Wer glaubt da an die Improvisation eines impulsiven Momentes? Kurz vor Eröffnung der genfer Tagung war Herr Berthelot zwei Wochen in London und in enger Fühlung mit dem Foreign Office. Berthelot ist der Vertreter der proenglischen Richtung am Quai d'Orsay. Was mag da gemischt worden sein? In Amerika hat Moskaus Bereitwilligkeit, den Pakt zu unterschreiben, angenehmes Erstaunen hervorgerufen. Der rote Dämon verliert seinen Schrecken grade jetzt, wo England und Frankreich durch ihre Marinekonvention Amerika tief verstimmt haben. Auf seiner Rückreise meidet Herr Kellogg London, läßt sich aber in Irland feiern. Ist man in Paris so blind, wieder das alte englische Spielbrett zu betreten? Briand, der diplomatischste der Diplomaten sonst, leiht seine blendende Rhetorik der englischen Sache, exponiert sich, schiebt sich laut gestikulierend in den Mittelpunkt einer durchaus nüchternen, langweiligen Tagung, zieht sich die allgemeine unfreundliche Kritik zu, riskiert für ein Nichts seine traditionelle Beliebtheit. Später erst spricht der alte, knurrige Lord Cushendun, ein Diehard sans merci, dessen Rede sonst wie durch das verrostete Eisengitter einer alten Sturmhaube dröhnt. Hier kann der irische Raufbold, der zu Hause Parlamentsgrößen wie dumme Jungen anfährt, sehr manierliche Töne finden. Er hält sich an eine höfliche Farblosigkeit, die auch den von Briand zusammengestauchten Deutschen nicht wehe tut. Der französische Degen war als einziger aus der Scheide gefahren. Der alte Aristide spielt mit jugendlichem Elan den d'Artagnan der bedrohten Demokratie. Briand-la-guerre.
Nachdem jetzt der erste Schrecken verflogen ist, beginnt man in Deutschland zu untersuchen, ob für die Rede des Reichskanzlers zwingende Gründe vorlagen. Man ist auch dies Mal, trotz allen Versicherungen, nach Genf nicht besser ausgestattet gegangen als vor ein paar Wochen nach Paris. Daß Hermann Müller die Abrüstung aufs Tapet brachte, entspricht ohne Zweifel dem Willen der vielen Millionen, die am 20. Mai republikanisch gewählt haben. Vielleicht war hier sogar eine viel stärkere und farbigere Sprache gewünscht worden. Aber der Reichskanzler, der um keinen Zoll über das Mittelmaß der deutschen Politik hinausragt, konnte hier nur einen Querschnitt durch die Fabrikate der deutschen Mittelmäßigkeit geben. Man kämpft grade in den Abrüstungsfragen stürmisch gegen die französischen Normalanschauungen, aber man bequemt sich nicht, sie einmal näher zu prüfen. Die deutsche Auffassung ist: Wir haben abgerüstet, sind im Sinne des Friedensvertrages entwaffnet. Basta. Die französische These dagegen behauptet: Nicht darauf kommt es an, wieviel Mann und Roß ein Staat im Laufe von ein paar Tagen mobilisieren kann, sondern welche wirtschaftlichen Faktoren ihm zur Verfügung stehen, wie viel Industrien er in die Kriegführung setzen kann, welche technischen Kräfte ihm zur Verfügung stehen, welche Transportmittel. Das ist der berühmte »potentiel de guerre« der These Paul-Boncour. Man kann diese Meinung bekämpfen, man kann sie praktisch für undurchführbar halten, aber man kann sie nicht einfach ignorieren und für eine Phrase erklären, denn sie ist die offizielle Auffassung der Führer des Staates, mit dem man über einige lebenswichtige Dinge ins Reine kommen will. Selbst in Zeitungen, die sonst das Gras der pariser Ministerien wachsen hören, konnte man gelegentlich lesen, daß es sich hier nur um einen privaten Spleen des Herrn Paul-Boncour handle. Deshalb mußte es wie eine ungeheure Überrumpelung wirken, als die deutsche Delegation diese belächelte These plötzlich aus Briands Munde hörte und dazu das mit einer Anzahl von Argumenten, die grade alle Elemente jenes Denkstoffes enthielten, dem man bisher sorgfältig ausgewichen war. Die Überraschung wäre nicht so katastrophal geworden, hätte man sich selbst und die deutsche Öffentlichkeit besser vorbereitet, hätte man sich nicht stets so wegwerfend, so spöttisch über die französischen Sicherheitswünsche geäußert.
Auch die Debatte über die Rheinlandräumung wird durch eine ähnliche selbstgeschaffene Hemmung erschwert. Hier war im letzten Jahre der französische Standpunkt sehr klar geworden: Frankreich will in die Räumung vor den vertraglich festgesetzten Terminen wohl eingehen, wenn es Kompensation durch eine günstige Regelung der Kriegsschuldenfrage erhält. Nun aber versteift sich die deutsche Politik in diesem Punkt auf eine orthodoxe Auslegung des Friedensvertrages und verwahrt sich gegen Verquickung von Okkupation und Reparation. Das heißt: man weigert sich vornherein, in sonst nicht sehr aussichtsvollen Verhandlungen den einzigen Boden zu betreten, auf dem man sich mit dem Gegner zur Aussprache finden kann. Man redet also ins Leere. Schließlich aber wird die Lösung, wenn überhaupt, so oder ähnlich kommen. Anstatt sich rechtzeitig auf diese Möglichkeit vorzubereiten, legt man sich zunächst auf feierliche Verwahrungen, verpufft man der Öffentlichkeit zum Spaß etwas nationales Feuerwerk, bis man schließlich, weil nichts andres übrig bleibt, sich doch den Intentionen des Andern anbequemen muß, und dann sieht es wie eine Niederlage aus, wie eine neue Opferung des nationalen Stolzes. Hier spukt ein letztes Mal die sinnlose, verderbliche Resistenz der Reparationskomödien von 1920 bis 1924, von Spaa bis Dawes. Sozial-demokratisch-pazifistischer Weihrauch allein wird die Franzosen nicht aus der dritten Zone vorzeitig zum Abmarsch bewegen. Schon heute sieht man den Umriß künftiger Kompromisse. Aber wird das Kabinett Müller dies Ziel wirklich erreicht haben, so wird ihm auch kein Dank werden. Von Hugenberg bis Scholz wird man »Verrat« schreien, die Volksseele wird wieder überkochen. Mit besserer Vorbereitung der Stimmung in Deutschland wäre das leicht vermieden worden. Tu l'as voulu ...
Übrigens lief auch dies Mal, wie immer in Genf, ein freundliches kleines Intrigenspiel mit. Hermann Müller hat seine Rede nicht ganz leichten Herzens gehalten, es hat nicht an Bemühungen gefehlt, ihm die Zunge zu binden. Durch zwei beliebte sozialistische Notable, den neuen Deputierten Herrn Sascha Grumbach und den gleichfalls polyglotten Vorwärtsredakteur Herrn Victor Schiff, hatte Paul-Boncour den Genossen Müller wissen lassen, daß Briand die Behandlung von Rheinlandräumung und Abrüstung in öffentlicher Sitzung übel aufnehmen würde. Müller schwankt. Er ist vorsichtig und ahnt den großen Krach. Doch nun setzt die Stresemannschaft des Auswärtigen Amtes ein. Herr von Schubert bearbeitet den Kanzler. Es wäre unsinnig, wenn er verzichten wollte. Denn er als Sozialist könne auf viel stärkere internationale Resonanz rechnen als irgend ein Andrer. Das sei ein Positivum, das nicht ungenützt bleiben dürfe. Herr von Schubert dringt durch. So erklimmt denn Kanzler Müller, der Warnung der andern Seite eingedenk, nicht ohne seelischen Druck die Rostra und hält jene Rede, die eine so ungemütliche Erwiderung hervorruft. Die Kalkulation der Herren gelernten Diplomaten ist köstlich. Wozu hat man schon einen Sozialdemokraten, wenn man aus dieser Tatsache nicht alle möglichen Profite holt? Geht die Sache schief, nun, dann hat sich eben ein Sozialdemokrat verbraucht, was kein so großes Unglück ist. Schon heute schwingt in den Kommentaren der journalistischen Intimen Stresemanns so ein bedenklicher kleiner Unterton mit: dem Meister wäre das vielleicht doch nicht passiert, seine Vertrautheit mit der genfer Atmosphäre, wo Herr Müller wirklich noch Neuling ist. Und so. Man kennt diese kleinen Neckereien, die auch eine solidere politische Konstitution als die Hermann Müllers langsam zu Tode kitzeln können. Wenn gar nichts Andres übrig bleibt, sollen die Reste der Locarnofracht auf Kosten Kanzler Müllers geborgen werden. Aus dem Versagen der Diplomatie und ihres nach Genf mitgeschleppten Anhangs soll schließlich eine persönliche Niederlage Müllers herausdestilliert werden. In Paris schreibt man schon ähnlich. Müller sei weit negativer gerichtet als Stresemann. Er habe nicht einmal die deutschen Vorschläge von Thoiry wieder präsentiert, sondern bedingungslose Räumung verlangt. Das sei sehr erstaunlich, denn Müller habe doch von Stresemann eben noch in Baden-Baden die Marschroute vorgeschrieben bekommen. Deshalb Briands Erregung. Armer Müller, den das abwesende Genie verdunkelt. Genf will den Star selbst, nicht den Ersatz. Und man sollte auch nicht vergessen, wie sehr die tadellos zuvorkommende Behandlung Stresemanns in Paris absticht von der Art, wie man Müller in Genf antichambrieren ließ. Unmittelbar nach dessen Ankunft stand Briand dem Kollegen zur Verfügung, der Regierungschef dagegen mußte in Genf drei Tage zappeln, ehe es ihm gelang, an Herrn Briand heranzukommen. Nun mag die französische Diplomatie manche Fehler haben, aber einen gewiß nicht: Mangel an Höflichkeit. Deshalb wirkt die Formlosigkeit, mit der Herr Müller drei Tage in Quarantäne gehalten wurde, so befremdend. Dinge gehen vor im Mond ...
Aber auch der große Magier selbst hätte kaum ein besseres Resultat erzielt. Denn die deutsche Verständigungspolitik hat eine schwache Spekulation, die sich über kurz oder lang einmal rächen mußte: sie kennt Herrn Briand nicht. Sie nimmt ihn für eine idyllische Natur, oder für einen Unwandelbaren, einen peinlich Gerechten, wie es der Mann war, dessen klassisch republikanischen Namen er in gut jakobinischer Tradition trägt.
Unbeugsamkeit, Starrköpfigkeit, nein, daran leidet Aristide Briand nicht. Er ist ein sehr flexibler Charakter. Man weiß von ihm bei uns eigentlich nicht mehr, als daß er einmal Sozialdemokrat gewesen ist. Was nicht viel besagen will, denn das war, zum Beispiel, auch Hilferding einmal. Aber Briand ist zeitlebens ein Überläufer in Kontinuität gewesen. In den neunziger Jahren vertritt er auf dem Gewerkschaftskongreß Internationalität und rigorose Durchführung der Maifeier; als Anhänger des Generalstreiks und brandroter Antimilitarist streift er den Anarchismus. 1904/05 in der Ära Combes ist er Berichterstatter für die Trennungsgesetze und Feind Millerands, der als erster Sozialist in eine bürgerliche Regierung gegangen war. Bald darauf thront er selbst als Minister in einem demokratischen Kabinett und hat die Scheidung von Jaurès vollzogen. Im Kabinett Clemenceau findet er zum ersten Mal Caillaux. Es ist ein Kabinett der »Köpfe«, der Ehrgeizigen und Vordergrundsucher.` »Was bedeute ich als Chef«, sagt der alte Clemenceau in giftiger Heiterkeit, »wo der Eine meiner Minister sich für Napoleon, der Andre für Jesus Christus hält?« Briand wird Nachfolger Clemenceaus und hält sich von 1909/11. Der große Streik bei der Nordbahn zeigt den Ultraradikalen von einst gewillt, den Klassenkampf des Bürgertums auch mit den schärfsten Waffen zu führen: er läßt im Norden mobilisieren, die Streikenden werden mit dem Gewehrkolben zur Arbeit gestoßen, ihre Syndikate geschlossen, die Führer verhaftet. Die Radikalen verlassen ihn schließlich, er geht. Ein Jahr später erscheint er wieder im Ministerium Poincaré, das von der Linken bekämpft wird. Interessant genug charakterisiert ihn Poincaré in seinen Memoiren: »Er bewegte sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit zwischen den Parteien. Einstmals hatte er auf den sozialistischen Kongressen eine Sprache geführt, deren revolutionäre Kühnheit das Heer empörte und die Bürger erzittern ließ; aber das war im Dezember 1899, und es waren mehr als zehn Jahre seither vergangen. Die Armee hatte vergessen, und die Bürger hatten verziehen. Sie verzeihen gern denen, die sie bedrohten, falls sie sie für ihre Verteidigung geeignet glauben ... Alle Fraktionen bemühten sich wetteifernd um ihn. Er entglitt ihnen zwischen den Fingern, aber mit einer derartigen Behendigkeit und Gewandtheit, daß man nicht müde wurde, ihn zu bewundern. Er war hervorragend in der Ausgleichung von Gegensätzen und der Kunst fortwährender Anpassung. Auch schien er geheime Sinnesorgane zu haben, um die Gelegenheiten zu wittern, die Ereignisse vorauszufühlen, die Gedanken mit ihm Redender zu ergründen und die Durchschnittsmeinung eines Auditoriums auszulösen. In schwierigen Augenblicken konnte er ein wertvoller Ratgeber sein.« Der ernste Lothringer ist ganz gewiß kein Autor, der Wert auf espritglitzernde Einfälle legt, aber die Art, den Kollegen Briand zu analysieren, erinnert fast an Anatole France, der in seiner »Insel der Pinguine« die Sozialistenminister dieser Jahre glänzend verspottet: »In jener Zeit war es eine der feierlichsten, strengsten, härtesten und, wenn ich so sagen darf, furchtbarsten und grausamsten Gepflogenheiten der Politik, in jedes Ministerium, das den Sozialismus bekämpfen sollte, ein Mitglied der sozialistischen Partei zu setzen, damit die Feinde des Eigentums die bittere Schmach zu kosten bekämen, von einem der Ihrigen gezüchtigt zu werden und damit sie sich nicht versammeln könnten, ohne nach dem zu spähen, der morgen ihre Geißel sein würde.«
Nachdem Poincaré 1913 Präsident geworden ist, tritt Aristides als der Premierminister der dreijährigen Dienstzeit wieder vor die Kammer. Er muß wieder der Linken weichen. Jetzt ist er völlig abgeglitten und gehört, wie Alexandre Millerand, zu dem halbreaktionären Mischmasch, der gegen die radikalen Kabinette anrennt. Ende 1913 ist auf Barthou, der die Militärgesetze durchgedrückt hat, Gaston Doumergue gefolgt, der heutige Präsident der Republik. Finanzminister ist Joseph Caillaux, der später durch das Attentat seiner Frau auf den Figaromann Calmette zu Fall gebracht wird. Es kommt in der Kammer zu einer turbulenten Szene zwischen Briand und Caillaux. Die Beiden beschimpfen sich wie Straßenjungen. Von da ab sind sie bitter verfeindet, und erst die Maiwahlen 1924 bringen sie wieder zusammen.
Als ein Genie der Gelenkigkeit und Anpassungsfähigkeit hat ihn Poincaré geschildert. Er ist ein Virtuose der Zweideutigkeit, er kann, während er noch eine Sache tönend verteidigt, schon kommende Entwicklungen nach einer andern Seite hin ahnen lassen. So scheint er oft, während er die Freunde noch enthusiasmiert, bereits die Hoffnung der Gegner. Als Premierminister in den Kriegsjahren feiert er, wie keiner vor oder nach ihm, im mächtigen Schwünge die gloire, den blutigen Ruhm der Schlachten, für den es erhaben ist zu sterben, selbst wenn der Sieg versagt bleibt. Der gleiche Mann, der als Redner in das schwärmerische Patriotentum des Charles Maurras verfällt, steht im Verdacht des geheimen Defaitismus und gerät durch seinen Vertrauten Malvy an die Grenze jener Skandale, die später Caillaux ruinieren. Der Allerweltshasser Georges Clemenceau hat ihn in diesen Tagen in seinem ›Homme enchaîné‹ in den bösen Konturen der Deputiertengestalten Daumiers gezeichnet, wie er lässig und etwas träge in den Couloirs flaniert und Komplimente macht; langhaarig, in salopper Kleidung, die zerdrückte Papyros zwischen den gelben Fingern: so geht er von einer Gruppe zur andern, Flatterien austeilend, Gegner mit Gefälligkeiten sanft entwaffnend. Nach dem Kriege kehrt er als Ministerpräsident wieder. Gegenüber Deutschland hält er an der unversöhnlichen Tonart fest. Es gelte, den säumigen Schuldner am Kragen zu nehmen, ruft er in einer der heftigsten Reden. Maximilian Harden hat oft darauf verwiesen, daß Poincare auch in seinen härtesten Momenten niemals sich solcher Klobigkeiten schuldig gemacht habe. Dennoch trauen ihm die Nationalisten nicht; Raymond Poincaré stürzt ihn während der Konferenz von Cannes. Schon damals hat man in Deutschland auf ihn Hoffnungen gesetzt, doch erst in Locarno sieht man ihn wieder.
Das ist der Mann, auf dem die Spekulation der deutschen Verständigungspolitiker ruht. Man wird zugeben, daß man sich eine weniger schwanke und weniger durch Falltüren komplizierte Plattform denken kann. Aber er ist jedenfalls der Politiker, bei dem sich die Stresemänner geborgen fühlen. Poincaré ist ihnen entweder ein blutiger Kriegsverbrecher oder ein komischer Tartarin, Herriot ein idealistischer Don Quichote, und die Sozialisten zählen überhaupt nicht mit. Nur in Briand erkennen sie den großen Realisten und die Erfüllung eines geheimen Wunschbildes. Jeder nach seinem Geschmack.
Jetzt ist die große Enttäuschung da. Denn es ist genau das geschehen, was man immer vermeiden wollte: jetzt muß Deutschland, um in der Räumungsfrage weiterzukommen, sich den französischen Begriffen von sécurité fügen oder verzichten. Briand hat die Deutschen mit hartem Stoß erst in die Ecke gefegt, nun müssen sie kapitulieren oder ergebnislos heimkehren. Es bleibt die Frage, welche von den beiden Schlappen ärger ist.
Zerblasen der bunte Schaum einer Verständigungspolitik, die sich stets um die Wirklichkeit herumgedrückt und in klingelnden Phrasen getummelt hat. Während ein paar Schaufeln Erde auf Brockdorffs Sarg schollern, flüstert man sich wieder die neue Parole »Ostorientierung« zu, falls sich auch die kärglichsten der an Genf geknüpften Erwartungen nicht erfüllen. (A propos ... wie sollen eigentlich die deutschen Sozialisten östliche Orientierung machen? Preisfrage.) Der nette französische Gegenspieler des Helden der Politischen Novelle hat sich plötzlich in einen reißenden Oger verwandelt. Was werden sie jetzt anfangen, die Flötenbläser und Mänaden des Rapprochements, die kulturverschleißenden Chapironen und kosmopolitanischen Dudelsackpfeifenmacher? Der Friede ist eine zarte Blume, die sorglich gepflegt werden muß, hat der alte Mitrailleusenzertrümmerer und Bajonettebrecher gesagt. Nach seiner Meinung wird der Friede am besten gepflegt, indem man Kanonenläufe über die ganze Erdkugel richtet. Das ist die Weisheit von 1910. Nach Krieg und Friedenskonferenzen wieder das Dogma vom bewaffneten Frieden. Circulus vitiosus. Nicht die Enttäuschung, die Briand seinen deutschen Feueranbetern bereitet hat, ist das Schlimmste. Das kann sogar pädagogisch wirken. Viel schlimmer ist die kalte Geste, mit der er die Friedenssehnsucht aller Völker, die sich in dem Wunsch nach Abrüstung praktisch durchsetzen will, wie lästigen Staub fortwischte. Das ist die Täuschung eines Vertrauens, das überall Entmutigung und Abkehr hervorrufen wird. Viel ist von der Idee von Genf ohnehin nicht mehr lebendig. Briand hat den dürftigen Rest in Frage gestellt. Schon heute, wo ihnen der Schreck noch in allen Gliedern schlottert, beginnen Stresemanns Intime wieder das geborstene Piedestal ihres Helden zu kitten. Vergebliches Beginnen. »Um die Politik zu verbessern, muß man zunächst die Lügen entlarven«, schreibt Alfred Fabre-Luce, der Mutigste unter den jungen französischen Publizisten. Dieser Aristides hat es leicht gemacht: er hat sich selbst entlarvt.
Die Weltbühne. 18. September 1928