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Da in diesen Tagen des beginnenden Herbstes der Herr Rezensent der Jahreszeit eine Kontribution in Form einer kleinen Bettlägrigkeit entrichtet, muß der politische Teil wieder einspringen. Es lockt um so mehr, nach der Königgrätzer Straße zu gehn, da sich Hermann Ungars Drama mit einem in der Zeit liegenden Stoff befaßt, der fast mehr die politischen Instinkte herausfordert als die ästhetischen, die übrigens nicht einmal in Deutschland immer Gegensätze zu sein brauchen. Es ist ein Stück aus der russischen Revolution, die Tragödie des jüdischen Revolutionärs, der die Sowjetarmeen zum Siege führt, aber schließlich nicht nur um seinen Lorbeer, sondern auch um sein Leben geprellt wird. Denn das Judentum, im Metaphysischen wurzelnd, scheint auch der roten Revolution verdächtig. Zwar schlägt der Muschikgeneral Brutzkin sich tapfer für Hammer und Sichel, aber die Duldsamkeit ist nicht größer geworden, und der Einzug in die podolische Stadt beginnt, wie unter dem Zarenadler, mit einem Pogrom. Die Tragödie Ahasvers, die ewige Isolierung. Hermann Ungar hat ein bewegtes, buntes, oft krasses Theaterstück geschrieben, aktuell im Vorwurf, nicht neu in den Mitteln, das Drama eines Romanciers, der als Psychologe zur letzten Zerfaserung gelangte und, aus der Analyse von Wahn und Krankheit auftauchend, soliden Theaterboden sucht, Handlung und einfaches Gefühl und breit fließendes Pathos. Wenn man auch heuer in der Königgrätzer Straße so beginnt, wie man im vorigen Winter am Nollendorfplatz endete, nämlich mit der Internationale, so vergißt man doch keinen Augenblick, daß die rücksichtslose Gebärde von einer feinen Geistigkeit bewegt wird, und daß das Drama, wenn schon klassifiziert werden soll, am ehesten in die Richtung der Revolutionsstücke Rollands weist. Maxim Podkamjenski, der Sohn des Mendel Frischmann, ist der Oberbefehlshaber der roten Armee. Sein Rivale ist der volksbeliebte General Brutzkin, der Bauernsohn, der Pogrome zuläßt; in einem davon fällt der alte Frischmann. Der Sohn ist nicht gewillt, sein Empfinden dem kollektivistischen Prinzip zu opfern; er fordert Gericht über Brutzkin. Doch die Volksbeauftragten denken an die Politik. Hier Brutzkin, der die Massen für sich hat, da der jüdische Intellektuelle, der sein Leben im Exil verbracht hat, durch Bildung und Rasse den Bauern fremd und suspekt bleibt. Der rohe, prahlerische Liniengeneral siegt über den Geistigen. Podkamjenski legt den Oberbefehl nieder und soll zur besondern Verwendung ins Ausland gehen. Ahasver. Am gleichen Abend wird er von ein paar weißen Offizieren im Bahnhof niedergeschossen. Opfer einer Verschwörung, der die geliebte Freundin selbst durch eine Unbedachtsamkeit das Stichwort gegeben hat. Hermann Ungar verwahrt sich im Programmheft dagegen, die Erscheinung Trotzkis zum Vorbild genommen zu haben. »Der dargestellte Konflikt ist in jeder Zeit und in jedem Land denkbar, wo eine Masse Gleichgearteter dem Einzelnen, dem Blut oder Geist nach Andersgearteten, gegenübersteht. Ich habe Rußland zum Schauplatz gewählt, weil es für unsre Zeit das Land der großen Umwälzung ist. Die Kulisse ist imaginär. Die Darstellung des tragischen Schicksals Podkamjenskis soll nicht zur Idee der russischen Revolution Stellung nehmen.« Halt. So stark ist die Gestalt wieder nicht, um aus eigner Magie ohne die Erinnerung an Trotzki zu leben. Trotz des Dichters Abwehr liegt der Name Trotzki auf aller Lippen. Würde dieser Schatten versinken, bliebe nur ein roter Coriolan, der von der kompakten Majorität zertrampelt wird. Auch die dankbaren dramatischen Konflikte sind an Zeit und Land gebunden. Noch ist die russische Revolution Gegenwart, wir durchschauen ihre eignen Gesetze zu deutlich, deshalb sträuben wir uns, daß ein Konflikt dorthin verpflanzt werden soll, der auf diesem Boden so nicht wachsen kann. Der Konflikt ist wirklich, aber ihn auf eine beliebige Ebene, nur des wirkungsvollen dramatischen Hintergrundes wegen zu projizieren, nimmt ihm die Natürlichkeit. Vielleicht – wahrscheinlich – ist der Antisemitismus auch im heutigen Rußland noch nicht überwunden. Aber was die Führerschicht schließlich zersplittert hat, war nicht die Judenfrage, sondern die Ökonomie. Man hat als seelischen Antrieb des Bolschewismus den alttestamentarischen Haß des Juden gesucht, der sich durch fanatische Egalisierung für die Mißhandlungen und Unterdrückungen vieler Jahrhunderte rächen will. Daran glaubt der superkluge Hilaire Belloc ebenso fest wie der superdumme Adolf Hitler. Aber schon der orthodoxe Vollrusse Lenin hatte mehr von diesem lodernden Prophetenzorn, als die Kamenew oder Sinowjew. Man lese bei John Reed über Trotzki in den zehn entscheidenden Tagen: er ist nicht nur der Stratege, sondern auch ihr Spaßmacher, neben dessen Aktivität die Andern glaubensstark, aber dumpf erscheinen. Er ist in seiner Agilität mehr ein Pariser der Revolution, denn ein traditionsgebundener Jude, der beim Minieren der bürgerlichen Gesellschaft ein uraltes Ressentiment befriedigt. Ich glaube, man kann eine dramatische Fabel nur dort entwickeln, wo sie zu Hause ist. Die Tragödie Podkamjenskis ist real, gewiß, aber sowjetrussisch ist sie nicht. So wird auch dies Revolutionsdrama von vornherein ein Untergangsstück wie Danton und Florian Geyer: der Held kämpft nicht, er ist gezeichnet und verloren schon beim Beginn. Auch hier liegt die Entscheidung schon in der ersten Szene: wenn der rote Brutzkin den alten Frischmann andonnert, weiß man, daß sich der Stärkere präsentiert hat und niemand gegen diese Viehheit aufkommen wird. Wir sehen Podkamjenski nicht handelnd, sondern leidend, durch das Blut isoliert, langsam absinkend. Um an seinen Aufstieg zu glauben, muß sich immer wieder die Erinnerung an Trotzki einstellen. Und trotz alledem lebt dieses Drama nicht von einer künstlichen Erregung, es stellt sich der Zeit, und hinter den nicht neuen Intrigen fühlt man das heiße Herz. Die Aufführung unter Erich Engels Leitung war, obgleich grade jetzt in Berlin nicht schlecht Theater gespielt wird, doch erst der richtige Gongschlag, der die Saison eröffnet. Seit langem war Kortner nicht mehr so herrlich wie hier als roter General. Das war wirklich Israels leidvolles Antlitz, seit zweitausend Jahren von der Christenheit abwechselnd mit Steinen und mit Toleranz beworfen. Kortner erscheint hier klarer und reiner als früher oft in seinem klassischen Repertoire. Kein Prunken mit stimmlichen Möglichkeiten mehr; es klingt alles einfach und bestimmt. Wenn er der kleinen Ordonnanz auf die Schulter klopft: »Junge, achtzehn Jahre bist du ... achtzehn Jahre ...!«, dann möchte man ihm einfach die Hand schütteln. Die unfreiwillige Delila dieses weichen Simson ist Eleonora von Mendelssohn. Sie ist noch gehemmt und ungelöst, was ihr hier zum Vorteil wird. Aber ihre Sprache ist schlicht, sie kann das Haupt wundervoll sinken lassen, und wenn sie mit Tränen kämpfend auf der Schreibmaschine klappert, ist sie Kortners würdige Partnerin. Es sind viele gute Spieler eingesetzt. Die rote Bestie: Herr Ferdinand Hart. Die weiße Bestie: Herr von Wangenheim. Der Kopf des Rates: in leninähnlicher Maske Herr Stahl-Nachbaur. Aber was an diesem Abend, zwischen Liebesgeflüster und Revolutionsmusik, an Fragen aufgeworfen wird: Juda und die Christenheit, Rußland und Europa, das ganze gedankliche Register von der schwarzen Pest bis zum großen Krieg, [darüber] könnte niemand besser disputieren als der Herr Doktor Egon Friedell. Aber er darf nicht, er muß mitmachen. Er spielt einen heimtückischen polnischen Kaplan, einen Westentaschen-Domingo, und er spielt ihn mit erstaunlicher Hinterhältigkeit. So geht es uns Literaten. Kommt einer von uns schon mal richtig auf die Bretter, muß er die unangenehmen Kerle spielen. Nachher in der Garderobe höre ich hinter mir eine Dame ihren Freund mit ungnädiger Betonung belehren, daß Herr Friedell, der den ränkevollen Priester spielte, eigentlich Schriftsteller sei. So was fällt immer gleich auf den ganzen Stand zurück.
Die Weltbühne, 25. September 1928