Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Blauen und die Roten

Also las man in diesen Tagen:

»Die blaue Armee kommt unter leichten Nachhutgefechten zurück ... Die rote Armee hat sie indessen zurückgedrängt und ist auf der Verfolgung. Aber neue Kräfte der blauen Armee rollen vom Westen her an. Der Führer hat inzwischen die ganze Stärke der neuen feindlichen Truppen erkannt ... Vor diese neue Aufgabe gestellt, entschließt er sich, über die Höhe von Gruna zunächst nicht hinauszugehen, sondern sich in breiter Front vorzulegen.«

Das ist aus einem der vielen görlitzer Manöverberichte und muß gewiß sehr spannend gewesen sein. Es ist die Zeit der Herbstmanöver, die zwar noch nicht Ernstfall bedeuten, aber doch der Ausprobierung von Spielregeln dienen. Aber lassen wir unsre Strategen ruhig an der Höhe von Gruna, die Farben, die sie tragen, sind uns wohlvertraut, es sind die wirklichen Farben der beiden großen feindlichen Heerhaufen in der deutschen Republik. Daneben verschwinden die viel heftiger umstrittenen zwei Trikoloren.

 

Die blaue Armee, am 20. Mai auseinandergehauen, ist unter leichten Nachhutgefechten zurückgekommen. Da die Roten zurzeit regieren, machen die Blauen wieder einen vorzüglich erholten Eindruck. Bei den Roten ist trotz breit vorgelegter Front offensichtlich Pause, die tapfern Krieger gehn augenblicklich Essenholen, und ganz deutlich sieht man im Hintergrund die liebe alte Gulaschkanone von ›Vorwärts‹ in voller Würde dampfen. Bei den Blauen dagegen rollt Verstärkung an, und um zu zeigen, wie gut sich alles macht, hat sich der blaue Generalstab vor ein paar Tagen in einem großen Meeting an der Hasenheide den Freunden und Abonnenten vorgestellt. Es ist ziemlich wild geredet worden, von dem Lambachzank war nichts mehr zu spüren, die Stahlhelmführer heischten ein Plebiszit zur Änderung der Verfassung, ein Herr mit dem historischen Namen Struensee sandte Grüße an die Dynastie. Man kann das Arrangement persiflieren, aber man sollte nicht vergessen, daß seit 1923 die Rechte nicht mehr so maskenlos, nicht mehr mit so unverfrorener Sicherheit aufgetreten ist. Die Demopresse benörgelt das intellektuelle Niveau der Versammlung, aber anzunehmen, daß Alldeutschlands gesamte Dummheit sich ausschließlich auf der rechten Seite konzentriert, ist ein Aberglaube, der einer allzu kritiklosen Parteifrömmigkeit entspringt. Die Republikaner verfügen wohl über mehr intellektuelle Potenz, aber die Rechte hat dafür eine gesunde knusprige Bauernschläue einzusetzen, die inzwischen neben dem Auftrumpfen auch noch das Theaterspielen gelernt hat und nicht mit verfassungsrechtlichen Darlegungen zu schlagen ist, sondern die Faust unter der Nase spüren muß.

Lächelnd überschaute Graf Westarp sein Kriegsvolk, das vor einem Monat noch allerorten meutern wollte. Denn er hat eine mächtige Allianz: die allgemeine ungeheure Enttäuschung über die Roten, die davon übrigens selbst nichts merken.

Es gab auf diesem Treffen vielerlei Fanfaronaden, viele kalte Theaterflammen und Magnesiumblitze. Wer eine gute Nase hat, wird dennoch den Brandgeruch wittern. Es ist noch nicht der Ernstfall, aber ein Herbstmanöver.

 

Grade jetzt vor zehn Jahren ging es den Blauen erbärmlich schlecht. Ihr Krieg brach zusammen. Ihr Kaiser wollte sich durch plötzliche Etablierung der Parlamentsherrschaft retten. Man suchte nach einem passablen Reichskanzler und fand den liberalen Zähringerprinzen. Pax durch Max, flüsterten die Fraktionsgeronten einander hoffnungsfroh zu.

Oktoberwende ... Die O.H.L. schreit verzweifelt nach Waffenstillstand. Die Halbgötter erklären sich besiegt. Das neue Bürgerregime, das sie bei anderm Ausgang mit Kolbenstößen auseinandergejagt hätten, soll den Krieg noch möglichst selbigentags abblasen. Am 6. Oktober schreibt der alte liberale Abgeordnete Conrad Haußmann nach einer Sitzung im Parteiausschuß in sein Tagebuch:

»Fischbeck referiert über ... das Waffenstillstandsangebot. Die Heeresverwaltung habe eröffnet, jeder Tag koste zehntausend Tote. Ersatz sei nicht mehr vorhanden. Die Bataillone von achthundertfünfzig auf fünfhundert zusammengeschmolzen ... Die Westfront stehe noch, aber die Heeresleitung habe das höchste Interesse an einem Waffenstillstand, um Schlimmeres, das nahe gerückt sei, zu vermeiden. Die zahlreich Versammelten äußern sich entrüstet über die Lügen, nachdem Fischbeck mitgeteilt, dem Vernehmen nach habe Heydebrand in der konservativen Fraktion des Abgeordnetenhauses geäußert, die konservative Partei gehe zugrunde an den Lügen der Heeresleitung ...«

Und am 9. Oktober:

»Der Nachtbericht klingt fast katastrophal aus Cambrai, als ob dort das Zentrum durchlöchert sei. Alle politischen Akte seit Jahr und Tag zu spät, zu spät!«

Nun wird der kardinale Fehler begangen, den Halbgöttern die Verantwortung für das Debakel abzunehmen. Sie, die sich vier Jahre angemaßt hatten, jeden Winkel des zivilen Lebens zu kontrollieren und zu reglementieren, treten plötzlich bescheiden zurück, anstatt das Papier, das ihre Niederlage manifest macht, mit ihrer Unterschrift zu bekräftigen. Ein Jahr später ist die Legende vom Dolchstoß da, die Parteien der Linken werden als defaitistisch und verräterisch defamiert. »Der Sieg war zum Greifen nah ...« »Das unbesiegte Heer ...« Conrad Haußmann notiert am 11. Oktober:

»Angesichts der Gefahr einer Kapitulation der Armee, die die verantwortliche Heeresleitung für vorliegend erklärt hat – indem sie im besondern den Durchbruch und die Aufrollung der Front ins Auge gefaßt hat, ohne im besten Falle eine Besserung der Gesamtlage versprechen zu können –, muß die Regierung handeln und keine Stunde verlieren.«

Großmütig nehmen die Roten den Blauen die Bürde ab, und noch heute sind auf ihren Schultern die Male zu sehen. Der arme Erzberger mit seiner unseligen Sehnsucht, sich in den Vordergrund der Weltgeschichte zu spielen, betritt schließlich den Salonwagen im Walde von Compiegne. Zum Dank dafür haben die Blauen ihn später abgeschossen. Dieser großartig gemeinte, politisch törichte Opfergang hat den Blauen eine Geschichtslüge beschert, an der sich ihre Reputation in Zeiten der Schwäche immer wieder erfolgreich regenerieren darf. Und in den nächsten Jahren wird sich der Vorgang oft wiederholen, immer werden in letzter Entscheidung die Roten die Geschäfte der Blauen besorgen.

In diesen Tagen wird mit einiger Rührung an die kurze Ära Max erinnert werden. Doch schon dieser eine Monat zeigte in nuce alle Unzulänglichkeiten und Wirrnisse unsres spätem Parlamentarismus. Auch das war nur Herbstmanöver, bis das flammende Signal von Kiel aufstieg.

 

Wenn man irgendwo liest:

»Grade der Soldat wird alle Bestrebungen begrüßen, die auf Verminderung der Kriegsmöglichkeit hinzielen, aber er zieht nicht auf die Straße unter dem Schlagwort ›Nie wieder Krieg‹, weil er weiß, daß über Krieg und Frieden höhere Gewalten entscheiden als Fürsten, Staatsmänner, Parlamente, Verträge und Bündnisse, nämlich die ewigen Gesetze des Werdens und Vergehens der Völker ...« – wenn man das liest und erfährt, daß ein General der Verfasser, weiß man augenblicklich: diese mit so mystischer Feierlichkeit angerufenen ewigen Gesetze tragen Offiziershosen mit breiten roten Streifen. Nicht ohne Bedauern überzeugt man sich, daß der Autor nicht einer jener senilen Sonntagsnachmittags-Strategen ist, die sich bei Hugenberg militärisch verbreiten, sondern der Generaloberst von Seeckt, dessen intrikate Klugheit außer Zweifel steht. Doch weiter:

»Wer aber für solche Schicksalskämpfe sein eignes Volk bewußtlos wehrlos machen will, wer es lieber im Bund mit den feindlichen Nachbarn schwächt, als den Volksgenossen bei der Vorbereitung berechtigter Abwehr unterstützt, der Pazifist gehört noch immer an die Laterne – und wenn es auch nur eine moralische ist.«

Es kommt selten vor, daß der Herr General einmal die Haltung verliert und das vorzüglich eingebaute Monokel zu zittern beginnt. Aber dies Thema bringt selbst die Sphinx ins Schaukeln. Es ist sehr gütig, daß uns Herr von Seeckt einstweilen nur die moralische Laterne zudenkt. Wir sollen einstweilen gleichsam nur akademisch gehenkt werden, »in a merry Sport«, wie Shylock sagt, um den häßlichen Kontrakt akzeptabel zu machen. Später kann die Sache vielleicht einmal konkreter werden, bis dahin muß man sich eben mit einem kleinen Manöverspiel begnügen. Herr von Seeckt ist es doch, auf den ein bekannter Industrieller, der ihn bei einem Besuch an der Ostfront kennen lernte, von seiner geistvollen Art bezaubert, das geflügelte Wort gemünzt hat: »Es ist schade, daß dieser Mensch nur das Morden gelernt hat!« Es ist schade, daß Herr von Seeckt seitdem nichts zugelernt hat.

Die Weltbühne, 2. Oktober 1928


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