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Die Sozialdemokraten in Opposition gegen Geßler. Mißtrauensvotum; Antrag auf Streichung des Gehalts. Ein Manegeschaustück für die Unzufriednen draußen im Land. Sogar die Demopresse lächelt. »Stücklen erstattet den Bericht nicht nur mit der dem Auftrag angemessenen Objektivität, sondern auch mit unverkennbarem Wohlwollen. Nicht anders Schöpflin ... Man merkt, er meint es vollkommen ehrlich, wenn er den Vorwurf zurückweist, die Sozialdemokratie stehe der Reichswehr feindselig gegenüber«, schreibt das ›Berliner Tageblatt‹. Und die ›Vossische Zeitung‹: »Der Abgeordnete Schöpflin, der Vertreter der größten Oppositionspartei, ist in seiner Kritik um Das herumgegangen, was hätte gesagt werden müssen. Mit allgemeinen Konstatierungen, daß die Reichswehr der großen Mehrheit des Volkes fremd gegenüberstehe, ist es heute leider nicht mehr getan.« Erst in der zweiten Garnitur findet, auf Drängen des linken Flügels, der Abgeordnete Doktor Leber schärfere Akzente. Aber es ist zu spät, den Sieg der unverkennbar Wohlwollenden zu hindern. Während ein völkischer Redner den Saal leert, steigt Herr Geßler vom Podium und spricht angelegentlich mit Hermann Müller. Nachher attackiert der Minister die Kommunisten, und in der sozialdemokratischen Fraktion ist man glücklich. Nein, diese Partei ist nicht feindselig gegen die Wehrmacht. Sie will sie ja nicht bekämpfen, sondern erobern, und ihr gelegentliches Aufbegehren erklärt sich nur aus der Nervosität einer überlangen Wartezeit. So wie auch der weltgewandteste Mensch vor einer verschlossnen Toilettentür den Sachverhalt zunächst nicht begreift, sondern turbulent an der Klinke rüttelt. Aber es hilft nichts: die Reichswehr ist besetzt. Die verehrten Republikaner sind wie immer zu spät gekommen; auch heute haben sie noch nicht begriffen, daß die entscheidende Frage nicht Reform, sondern Liquidation dieser Reichswehr bedeutet.
Wie wenig Kriege in Wahrheit geeignet sind, endgültige Lösungen herbeizuführen, beweist der neue Ausbruch des Adriakonflikts. Früher standen sich Rom und Wien gegenüber; heute ist an Wiens Stelle Belgrad getreten, aber der Konflikt ist geblieben. Der Kampf um die Adria geht fort. Italien ist im Friedensvertrag territorial gut weggekommen, es hat Welschtirol und Triest geschluckt, und dennoch fühlt es sich heute eingeengter denn je. Das neue Italien ist nicht weniger länderhungrig als das alte der liberalen Freimaurer, dessen irredentistische Jugend Gabriele d'Annunzio vor fünfzehn Jahren mit seinem Ruf »Aufs Meer! Aufs Meer!« in helle Flammen setzte. Wo Gabriele nur zu singen brauchte, muß Benito handeln. Der Vertrag von Tirana hat das Protektorat über Albanien gesichert und Jugoslawien ein italienisches Schilderhaus vor den Ausgang gestellt. Obgleich der Konflikt zur Stunde seinen Höhepunkt überschritten zu haben scheint und unter verdächtiger Vermittlung des Foreign Office ein Befriedungsversuch angebahnt wird, ist damit die Gefahrenquelle nicht verstopft. Der Fascismus muß expansiv, muß unruhig sein, oder er wird nicht sein. Und die Adria ist das Meer seines Schicksals. Leider wird bei den Verwünschungen, die sich in diesen Tagen so reichlich auf Mussolinis Politik häufen, gewöhnlich übersehen, daß diese ohne die nachdrückliche Billigung und Unterstützung Englands nicht möglich wäre. So lange MacDonald am Ruder war, ging es Benito schlecht, und selbst seine Bewundrer gaben ihm nur noch kurze Frist; doch seitdem ihn Chamberlain seinen Freund nennt und der robuste Churchill auch seine innerpolitischen Methoden als praktikabel preist, hat sich die Bewertung des Mannes in England sehr geändert. Vor zwei Jahren noch sah man in ihm nicht viel mehr als einen in die Politik verwehten Landpiraten, und der beliebte konservative Publizist Wickham Stead gab dem Normalempfinden der City Ausdruck, als er an Vittorio Emmanuele einen offnen Brief richtete, in dem er unter Aufzählung aller fascistischen Untaten diesem armen, auf den Umfang seines Sitzkissens beschränkten Monarchen bittre Vorhaltungen machte, wie er der Verletzung der Konstitution durch seinen Premierminister so ruhig zusehen könne. Long, long ago. Seitdem hat Italien nicht nur Frankreich zu schaffen gemacht, sondern auch durch die Ratifizierung des Bessarabien-Vertrages seine platonischen Bindungen an Rußland gelöst und damit offen für England Stellung genommen. Um solchen Preis läßt sich die britische Politik schon ihre schale sittliche Limonade mit einem Tröpfchen Fegefeuer schärfen. Überhaupt hat sich das klassische Land der Bürgerfreiheit immer mehr zum Patron aller großen und kleinen europäischen Militärdiktaturen entwickelt. England favorisiert Pilsudski und Woldemaras; England allein stützt den blutigen Horthy. Mit englischer Hilfe amtieren die bulgarischen und rumänischen Schergen, und auf dem Umweg über Mussolini nimmt England auch den Ahmet Zogu von Albanien in Generalpacht. Es steht heute kein Galgen in Europa, so dessen Seile nicht von der englischen Börse gefettet werden. Alles, um die geheiligte Demokratie und die Errungenschaften des Liberalismus vor moskowitischer Diktatur zu schützen.
Der Streitfall zwischen Belgrad und Rom hat in unsrer Rechtspresse einige Talente ermutigt, Betrachtungen anzustellen, ob nicht auch für Deutschland dabei etwas herauszuholen sei. Der Gedanke liegt nahe, schon weil Jugoslawien überhaupt ein alter Erbfeind ist. Man müsse sich, so folgern diese erfindungsreichen Köpfe weiter, wenns losgeht, eng an Italien anlehnen, dann könne man nachher für bewiesne Treue Kompensationen in Südtirol erhalten. Die Treue ist nämlich, Unorientierten sei es gesagt, ein besonders haltbares Stück vom eisernen Bestand unsrer Außenpolitik. Man muß immer Jemandem treu sein. Was unsre Außenpolitik seit Bismarcks Scheiden an Geist verloren, hat sie an Treue gewonnen. Zuerst wars Österreich. Mit Ährenthal und Berchthold ging es durch Dick und Dünn, durch Not und Kot. Dann kam England an die Reihe, zwischendurch Rußland, dann wieder England; und jetzt soll es mit Mussolini versucht werden, dem verruchten Schänder der deutschen Weihnachtsbäume. Denn so wenig die Treue im innenpolitischen Assortiment geschätzt und geführt wird, so gern wird sie goldbronziert ins Schaufenster gehängt. Es gibt keine dümmere und frivolere Idee als die, den durchaus korrekten deutsch-italienischen Schiedsvertrag zum Bündnis zu erweitern und damit der Bravo der englisch-italienischen Allianz und damit auch aller großen und kleinen Militärdiktaturen Europas zu werden. Und ganz nebenbei sei wieder erinnert, daß das Geschick Südtirols uns nur menschlich angeht, aber nicht politisch. Mit dem gleichen Recht könnte sich Österreich in Paris über schlechte Behandlung Elsaß-Lothringens beschweren. So etwas zu bemerken, ist gewiß zur Zeit nicht populär, aber es ist besser, es wird jetzt von deutscher Seite gesagt als später vom englischen Kabinett, wenn unsre genialen Spekulanten in London die Rechnung für bewiesne Treue präsentieren.
Die Pariser Linkspresse mahnt die französische Regierung dringend, sich bei der weitern Behandlung der chinesischen Angelegenheiten nicht an England zu binden. Denn in Paris ist man überzeugt, daß die Zeit der Fremdenherrschaft in China beendet ist, und daß es Wahnsinn wäre, dem sterbenden Prestige zu Ehren noch ein kleines Feuerwerk abzubrennen. Augenblicklich bilden die Mächte ein Bild waffenstarrender Ratlosigkeit. Im Hafen von Shanghai liegen mehr als fünfzig Schlachtschiffe. Für eine Flottendemonstration an der Jangtse-Mündung hält, nach englischen Quellen, Japan zwanzig Panzerschiffe, neunzehn Zerstörer und eine Reihe von U-Booten bereit; Amerika schickt dazu elf Panzerschiffe, zwanzig Zerstörer und die entsprechende Anzahl von U-Booten. Das Ergebnis ist ebenso drohend wie grotesk. Denn was sollen die stählernen Ungetüme anfangen? Leben und Eigentum der Fremden garantieren? Das ganze ungeheure Chinesenreich ist in Aufruhr, und das Veto der imperialistischen Mächte endet mit der Reichweite ihrer Schiffsgeschütze. London hat auf Uneinigkeit im Lager Südchinas gerechnet, aber so gewiß es dort, wie bei jeder Revolution, Berg und Gironde gibt, und dazu unsichre Kantonisten und Kantonesen, so gewiß ist die kriegerische Gebärde der Großmächte geeignet, die Gegensätze nicht vorzeitig zur Explosion kommen zu lassen. Das revolutionäre China wächst mit jedem Tag; aber erst wenn seine Fahnen über Peking wehen, wird jene Spaltung in klassenmäßig bedingte Parteigruppen beginnen, die Englands Ranküne vor der Einnahme von Shanghai herbeiführen wollte.
Seit einigen Jahren treibt sich in Deutschland ein gewisser Kyrill herum, der sich als Nachfolger des letzten Zaren betrachtet und in Koburg, seinem Wohnsitz, auch als solcher respektiert wird. Da Herr Kyrill nicht allein prätendiert, sondern Konkurrenz hat, wurde er bisher nicht sonderlich beachtet. Neuerdings haben ihm jedoch die Deutschnationalen ihre Aufmerksamkeit zugewandt; ein antiparlamentarisches Manifest des ehemaligen Großfürsten hat es ihnen angetan, und ihr Pressechef v. Jecklin macht offen für ihn Reklame. Dieser Herr v. Jecklin hat, wie man sich erinnert, im vergangnen Herbst in Paris auf eigne Faust rapprochement gemacht, ohne übrigens viel Gegenliebe zu finden. Er suchte den Franzosen die Notwendigkeit eines kontinentalen Blocks gegen das bolschewistische Rußland plausibel zu machen. Nahm er schon damals die Interessen Kyrills wahr? Oder ist die Sache erst jetzt richtig in Schwung gekommen, seitdem die Deutschnationalen gewichtige Regierungspartner sind? Auffallend ist, daß in den letzten Wochen die russischen Monarchisten in Deutschland, die schon fast vergessen waren, wieder eine lebhafte Tätigkeit entfalten. Sie liefern wieder, wie früher, untereinander Schlachten und verprügeln Kompatrioten liberal-demokratischer Gesinnung. Woher diese plötzliche Munterkeit im Mausoleum des russischen Monarchismus? Welch beschwörende Stimme hat diese armen müden Gespenster nochmals zum Tanzen gebracht? Die Giftgasfeundschaft zwischen Moskau und der deutschen Rechten ist ruhmlos beendet. Der Bolschewik hat seine Schuldigkeit getan. Unermüdlich im Ersinnen internationaler Blamagen und Katastrophen dürften die Deutschnationalen in einem Bündnis mit dem Kadaver des Zarismus eine neue, bis heute noch ungeahnte Möglichkeit erspäht haben. Wenn der Herr Außenminister, der augenblicklich grade von einem Plauener Schöffengericht verschrottet wird, sich von seinem Ärger erholt hat, sollte er doch einmal von seinen lieben Koalitionsfreunden Aufklärung über ihre allerneusten russischen Projekte verlangen.
Die Weltbühne, 5. April 1927