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In diesem Jahre wird in einigen der entscheidenden Staaten des Erdballs gewählt werden. In Frankreich, in Deutschland, wahrscheinlich auch in England; U.S.A. nominieren einen neuen Präsidenten.
In der versunkenen Welt vor 1914 waren Parlamentswahlen höchst akzidentell. Sie liefen gleichgültig nebeneinander. Nichts und niemand sagte dem französischen Bürger am deutschen Wahltage: Es ist deine Sache, um die dort gelost wird! Niemand sagte dem deutschen Wähler an den Tagen, als in England die Asquith-Liberalen die Tories, die französischen Demokraten die Generalscliquen der Dreyfuszeit schlugen: Jetzt ist die Stunde da, wo drüben keine Säbelrassler mehr sitzen, keine Militärs und Chauvins, sondern Parteien, die für Annäherung und Aussöhnung zu haben sind. Nur die große Wirtschaft zeigte sich interessiert. Für sie ging es ja um Handelsverträge, um Zölle. Ob Protektionisten oder Freetraders im andern Land war ihr wichtig, ob Nationalisten oder Friedfertige gleichgültig.
Heute wird der Gedanke übernationaler Verbundenheit Aller nicht mehr ohne weiteres als Dummheit oder Hochverrat betrachtet. Aber heute wie einst muß die Vernunft noch vornehmlich unter der Flagge der Wirtschaft fahren, sie muß als Armenpassagier Zwischendeck reisen. Das »Nie wieder Krieg!« dient nur als ideologischer Aufputz herkömmlicher Plattitüden und nimmt nur einen bescheidenen Rang ein neben der Aufzählung von Nützlichkeitsgründen und dem Herunterreißen der Andern. Es gibt eine Zeichnung des großen Daumier: – aus einer Wahlurne springen munter die Stimmzettelchen, und im Hintergrund sieht man auf ein Feld von Erschlagenen. Unterschrift: »Das da hat Die getötet!« Mörder Stimmzettel. Das Bildchen sollte in jedem Wahllokal hängen.
Wenn man den liberalen Blättern Glauben schenkt, fühlt sich die Mehrheit unsrer Wähler heute schon als Optanten für Europa. Man bekommt da die Erkenntnis vorgesetzt, daß dies seit 1919 die ersten Wahlen in gereinigter Atmosphäre sind, daß der Bürger im Vollbewußtsein seiner Verantwortlichkeit gegenüber Europa, mindestens gegenüber Paneuropa, zur Urne schreitet. Mit der Feinheit eines zur Feststellung und Messung von terrestrischen Erschütterungen funktionierenden Apparates gibt der Bürger seine Stimme ab, wissend, daß eine verkehrte Wahl in räumlich weit entfernten Staatswesen die Erdrinde reißen und Mauern wanken läßt.
Um zu so optimistischen Schlüssen zu gelangen, muß man, wie viele deutsche Linksblätter, mit der natürlichen Gabe für falsche Diagnosen auf die Welt gekommen sein. Die wittern neuerdings auch eine Renaissance des alten Liberalismus. Richtig ist, daß einige extreme Flügelgruppen seit 1924 zusammengebrochen sind. Richtig ist weiter, daß einige der gröbsten agitatorischen Dummheiten inzwischen an der eignen Nichtsnutzigkeit krepiert sind. Eine gewisse allgemeine Ermüdung ist eingetreten. Eine gewisse Verdrossenheit an den lautesten und breitesten Phrasen. Der Messianismus von 1919, der sozialistische wie der nationalistische, begegnet erlahmten Gehören. Aber aus dieser unbestreitbaren Ermüdung schon einen liberalen Aufschwung zu folgern, das ist kühn und etwas töricht zugleich. Ermüdung ist nicht der natürliche Zustand für die neue Erhebung einer Idee. Und wenn die Herren den Halbschlaf der Welt als besonders günstig für die freie Entfaltung ihrer Idee empfinden, so scheint uns das nicht besonders für die Idee zu sprechen.
In Frankreich geht die bürgerliche Linke diskreditiert und zerfallen in den Wahlkampf. In England hofft die Liberale Partei, die es schon fast nicht mehr gab, durch den großen Blender Lloyd George in die Nachbarschaft der Arbeiterpartei geführt, von der allgemeinen Erbitterung gegen die konservative Regierung zu profitieren. Der Erfolg der Union zwischen Labour und Liberalen ist bis jetzt allerdings nur, daß die Kommunisten zum ersten Mal selbständig in sechzig Wahlkreisen auftreten, und MacDonalds Leute die große populäre Attraktion, »äußerste Linke« zu sein, einbüßen. In Deutschland dagegen steht die Demokratische Partei vor sehr ungewissen Chancen. Gewiß, sie hat im letzten Jahre täuschend Opposition imitiert. Not lehrt beten, Not lehrt opponieren. Aber unsre Demopartei ist heute schon eine ehrwürdige Invalidin, Konkurrentin nicht etwa den großen Parteien mehr, den Parteien von Westarp, Stresemann und Guérard, sondern der Wirtschaftspartei, der Partei der Bäcker, Milchhändler und Hausagrarier. Folgerichtig siegte in Berlin bei der Kandidatenauslese ein biederer Malermeister über den Professor Bonn. Da hat man zwei Jahre mit viel Geräusch Geist markiert, sich zum Parteitag gar – horribile dictu – den großen Heinrich Mann verschrieben. Und wo es drauf und dran geht, siehe, da zeigt es sich, daß in Berlin, zum Beispiel, die Partei noch immer der dicke Merten regiert, der in seinen altväterlichen Rockschößen den ganzen Mief des seligen Kommunalfreisinns in unsre besser gelüftete Zeit hinübergerettet hat.
Merten heißt bei den Sozialdemokraten Wels, bei den Kommunisten Thälmann. Er heißt in jeder Partei anders, aber er ist überall, er sitzt überall breit auf der Bundeslade und trommelt siegreich den Dessauer Marsch.
Ein pariser Publizist hat hier im vorigen Heft eine kleine Charakteristik der Männer gegeben, auf die Frankreich rechnet. Die Franzosen sind bekanntlich das konservativste Volk Europas und halten deshalb noch immer an der Tradition fest, beim Beginn des Wahlkampfes die Köpfe Revue passieren zu lassen, auf die sie hoffen. Kämen wir in ähnliche Versuchung? Das gute 8-Uhr-Abendblatt hat die Probe gemacht, um schließlich resigniert zu gestehen, daß die Sache ziemlich unnütz wäre, da ja doch alle wiederkommen werden. Das ist es. Alle, die in der Führung gesessen haben, sind doppelt und dreifach gesichert. Ihnen kann nichts geschehen. Ein Einzelgänger wie Wirth dagegen muß sich hin- und herschieben lassen. Herr Hellpach, nicht wegen allzu argen Radikalistentums, sondern wegen des weit schlimmern Ludergeruchs der Intellektualität, wird in der Pfalz hoffnungslos plaziert und erst nach Protesten besser gebettet. Das sind nur kleine Stichproben, doch charakteristisch für Alle, für Alle. Denn das deutsche System ist nicht Wahlkampf, sondern Mandatsversicherung der Privilegiertenschicht in den Parteien. Diese deutschen Wahlen sind anonym. Es ist alles da, was sonst zum Wahlstreit gehört, nur die Kandidaten sind nicht da. Wir wählen gleichgültige Listen und nicht Personen, die uns angehen. Wir wählen Zéro in der Erwartung, daß schließlich doch eine Größe daraus wird. Noras Hoffnung auf das Wunderbare, im Ehedrama sanft komisch geworden, ist bei uns jetzt Hauptmotiv des politischen Theaters.
Dieses Manko soll durch Getöse ersetzt werden. Es ist verdächtig, daß jetzt aller Ecken die Prokuratoren der unsichtbaren, aber immer vorhandenen Würdepartei vor Ausschreitungen, vor Roheiten, vor einem allzu stürmischen Wahlkampf warnen. Ausgezeichnet – aber wo wäre denn die Neigung dazu? Wer sollte denn so roh sein, die Ehre des Bürgers Zéro zu besudeln oder ihm gar die Gegnerschaft mit der Heugabel zu beweisen, nur weil er irgendwo auf einer Liste steht? Es kennt ihn ja niemand. Deshalb kann auch niemand auf die absurde Idee verfallen, dem Bürger Zéro roh zu kommen. Der Zweck der wohlgemeinten Warnungen ist durchsichtig: es soll der Öffentlichkeit ein Interesse imputiert werden, das gar nicht besteht. Die großen politischen Parteien werden von Disziplin zusammengehalten, da tanzen die Wähler nicht aus der Reihe. Auch die großen beruflichen Korporationen haben ihre Kandidaturen, aber was dazwischen steht, die Unorganisierten, die sollen erfaßt werden. Für die wird das ganze Theater aufgeführt, spritzen alle Raketen. Um die heranzuschleppen, wird das bißchen Temperament verpulvert, das der deutsche Politiker zuzusetzen hat. Aber Roheiten, Exzesse? Ich fürchte nur, daß die Würdepriester nach etwas anderm hinzielen. Ich fürchte nur, wenn Du und ich etwa in eine sozialistische Versammlung gehen und fragen, wie sich denn die Sozialdemokratie verhalten werde, wenn das Zentrum den Eintritt in eine Linksregierung etwa von der Annahme gewisser Schulforderungen abhängig mache, wir dann sofort, als unverbesserliche Rohlinge gebrandmarkt, aus dem Tempel fliegen würden. Denn der Wahlkampf, versteht sich, muß in vornehmen Formen geführt werden. Und es ist nicht vornehm, nach dem zu fragen, worauf es ankommt.
Denn jeder Wahlkampf muß ein Ziel haben. Es muß dem Wähler auch ohne demagogische Spritzen eingehen, wodurch sich die Opponierenden von den Regierenden unterscheiden. Es muß klar sein, was sie anders machen wollen, und wer nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, muß auch ahnen, was sie anders machen können.
Wodurch unterscheiden sich die Herren Wettbewerber? Wodurch hat sich das jetzige Reichskabinett von dem vorigen unterschieden, in dem Demokraten saßen? Und wodurch unterschied sich das von dem letzten Kabinett, in dem Sozialisten mitwirkten? Rätselfragen. Camouflage, Camouflage! Es gibt keine Plattformen, keine Parolen, keine Ziele. Wird um eine der Fragen gestritten, die dies Parlament beschäftigt haben? Geht das Ringen ums Schulgesetz? Die linke Opposition spricht nicht davon, um das Zentrum, auf das es rechnet, nicht zu verstimmen. Spricht man vom Schund- und Schmutzgesetz? Herr Külz, der Schutzherr der Pressa, hat es durchgedrückt. Spricht man vom Marineskandal? Von Herrn Reinhold, dem Demokraten, existiert eine Sanktionierung Lohmannscher Schiebungen. Spricht man von der Reichswehr? Geßler, der Demokrat, hat sie in jahrelanger Mühe zur monarchistischen Elitetruppe gemacht, und jetzt ist ein Neuer da, der erst abwartet, wie es nachher wird und zu jedem Auskunftsuchenden mit Bedauern sagt: »Was wollen Sie, ich bin ja eben erst ins Geschäft eingetreten ...« Spricht man vom Reichsgericht? Herr Landsberg, der designierte Justizminister, wird sich schön hüten. Denn an die Absetzbarkeit der Richter denkt niemand. So bleibt nichts weiter als ein nebuloser Kampf »gegen Rechts«, an dem sich einstweilen Zentrum und Stresemann munter beteiligen. Wie ernst es dem Zentrum damit ist, beweist, man muß es immer wieder sagen, daß es willens war, den Mann still abzusägen, der zuerst die Parole ausgegeben hat: Der Feind steht rechts! Alle treten ohne Parole, ohne Ziele an. Für die Bürgerparteien dreht es sich nur um Koalitionen, um Ministersitze. Die Sozialisten, trotz ihrer imponierenden Größe, wirken nur wie ein unsymmetrisches Anhängsel der Kochdemokraten. Die Kommunisten gebärden sich überlaut, um vergessen zu machen, daß ihnen jetzt selbst Opposition in die linke Flanke sticht.
Von parlamentarischen Parteien, die regieren wollen, müßten deutliche Formulierungen erwartet werden. Will man die Große Koalition? Sie wäre schon in diesem Parlament zu haben gewesen. Will die Sozialdemokratie in einer Regierung mit Stresemann sitzen? Und vor allem, will ... Stresemann selbst? Alles das ist ungeklärt, bleibt in qualligen, wolkigen Worten verborgen. Alle Fragen, die entscheidend waren, die schließlich zur Krise geführt haben, hat man vorher beiseite getan. Das Schulgesetz ist still verschwunden. Aber niemand, der das Zentrum kennt, wird glauben, daß es für immer verschwunden ist. Und deshalb wird aller Aufwand nur dazu dienen, einen Reichstag zu schaffen, der, von kleinen Verschiebungen abgesehen, dem vorigen bis auf die Glatze ähnlich sieht. Noch immer rechnen die Parteien damit, daß der Bürger »seine Pflicht« erfüllt, ohne sich die Leute anzusehen, die er wählt. Und die republikanischen Parteien, die uns hier allein angehen, wissen, daß bei ihren Wählern der Wille zur Republik stärker entwickelt ist als das Gefühl, daß sie an die Gewählten geistige und moralische Anforderungen haben. In dieser weichen Bescheidenheit wächst jede Mittelmäßigkeit in eine höhere Dimension, wird Stresemann zum Tatriesen, Breitscheid fast zum Gentleman, und der ehrwürdige Kahl drückt schließlich seinen niederträchtig vorsintflutlichen Strafgesetzentwurf durch, nur weil niemand dem alten Herrn einen Schmerz zufügen will. Nichtwählen wäre Torheit. Aber man soll ohne Dusel wählen. Und den Kampf, der von den Parteien nur camoufliert wird, rücksichtslos in sie selbst hineintragen. Und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir ihn schließlich nicht doch noch aus seinem bequemen Ledersessel treiben, ihn, der an der Republik mehr gesündigt hat als hundert Ehrhardts, den Herrn Deputierten Zéro, der vielfach betitelt, vielfach variiert, doch immer derselbe ist: der Parteisekretär Genosse Zéro, der Herr Verbandssyndikus oder Oberbürgermeister Zéro, der Herr wirklicher Geheimrat Professor Doktor von Null.
Die Weltbühne, 10. April 1928