Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Das Reichsgericht im Sommer

»Absender: Reichsanwaltschaft

Abschrift
Beschluß.
In der Ermittlungssache gegen

  1. die Schriftstellerin Berta Lask in Berlin,
  2. die Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten G.m.b.H., Berlin,
  3. die Uns-Produktivgenossenschaft in Leipzig

wegen Vorbereitung zum Hochverrat wird auf Antrag des Oberreichsanwalts das Buch »Leuna 1921, Drama der Tatsachen«, nebst dem »Nachspiel«, Verfasserin: Berta Lask, Verleger: Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten G.m.b.H., und die zur Herstellung und Vervielfältigung beider Schriften dienenden Platten und Formen gemäß §§ 81 Ziff. 2, 86 StGB., § 27 des Reichspreßgesetzes, § 98 StPO. beschlagnahmt, da aus dem gesamten Inhalt beider Schriften, insbesondere aus Seite 15, 32, 44, 47, 48, 56, 60, 64, 66, 72, 74, 76, 85, 86, 91, 94, 111, 114, 117, 120, 125, 139 bis 141, 151, 152 des Buches und Seite 2 bis 4 des Nachspiels sich ergibt, daß sie der Aufforderung zum Bürgerkrieg und zu gewaltsamer Änderung der Verfassung zu dienen bestimmt sind, wobei der Zeitraum des Umsturzes als nahe bevorstehend hingestellt wird (S. 32, 47, 85, 86, 88, 140, 141, 151 des Buches), und da mit Rücksicht auf die einheitliche Richtung des gesamten Inhalts der Schriften eine Ausschließung einzelner Teile der Schriften von der Beschlagnahme nicht möglich ist.

Berlin, den 10. Juni 1927.

Das Amtsgericht Berlin-Tempelhof, Abt. 15. gez. Reblin.
Ausgefertigt: Berlin NW 52, den 17. Juni 1927, Turmstr. 89.
L. S. gez. Schaefer,
Kanzleisekretär, als Gerichtsschreiber des Amtsgerichts Berlin-Tempelhof.

Vorstehende Abschrift stimmt mit der Urschrift überein.

Leipzig, den 23. Juni 1927.
Sekretariat 14a der Reichsanwalt.
M ...., Regierungsoberinspektor.«

 

Die berliner Schriftstellerin Berta Lask hat vor einigen Monaten bei der Viva ein Buch erscheinen lassen: Leuna 1921 – Drama der Tatsachen. Erwin Piscator war entschlossen, das Stück in der nächsten Saison zu inszenieren, und auch eine große süddeutsche Bühne interessierte sich dafür. Eine berliner Aufführung sollte schon im April stattfinden, aber Schikanen der Theaterpolizei verhinderten das. Dann kam das Buch heraus und wurde sofort auf Anweisung der Reichsanwaltschaft konfisziert, weil es nach ihrer Auffassung gedichteter Hochverrat ist, so wie sie früher schon einmal rezitierten Hochverrat angenommen hat.

Was ist denn so schreckliches passiert? Wer das Buch gelesen hat, findet nur die Erklärung, daß dem Herrn Reichsanwalt eben die janze Richtung nicht paßt. Die Verfasserin hat sich erlaubt, ein Stück Revolution aus frischer, noch blutender Vergangenheit zu behandeln. Sie hat den mitteldeutschen Aufstand von 1921 zum Vorwurf genommen und hat es getan als Anhängerin der Sache, um die es damals ging. Wer das Buch ohne Scheuklappen liest, muß zugestehen, daß die Verfasserin ihre Arbeit mit feinfühliger Schlichtheit durchgeführt hat. Sie hat sich streng an die Fakten gehalten, wie sie in dem Bericht des preußischen Untersuchungsausschusses und in geprüften Aussagen von etwa vierzig Augenzeugen und Teilnehmern enthalten sind. Bei der Lektüre bleibt überhaupt der Eindruck, daß sie den protokollierten Tatsachen zu viel Platz einräumt, damit den dramatischen Impetus knickt und die Endwirkung schwächt. Eine weichere Menschlichkeit überschattet die politische Tendenz; diese Hand glättet mehr als sie revolutioniert, und über vielen dieser Bürgerkriegsbilder schwimmt wie ein Nebelschleier die stille Trauer einer empfindsamen Frau über so viel Unmenschlichkeit. Sie ahnen nicht, Herr Reichsanwalt, was ein robuster Mann aus diesem Thema hätte machen können.

Die Beschlagnahme stützt sich hauptsächlich darauf, daß in dem Buch Stellen enthalten sein sollen, aus denen sich ergibt, »daß sie der Aufforderung zum Bürgerkrieg und zu gewaltsamer Änderung der Verfassung zu dienen bestimmt sind, wobei der Zeitraum als nahe bevorstehend hingestellt wird«. Bei der Prüfung der beanstandeten Partien finden wir unter anderm einen Dialog zweier gefangener Arbeiter. Und da sieht die gewaltsame Änderung der Verfassung also aus:

Wieland: Jetzt schmachten wir im Silo als gefangene Sklaven, aber einmal wird das Leunawerk unser sein.

Die Andern: Das Leuna wird unser sein.

Ist die Hoffnung auf einen spätern Besitzwechsel, ohne daß etwas über die Mittel gesagt wird, schon Hochverrat? Doch diesen für den Herrn Prokurator höchst aufrührerischen Worten geht folgendes voraus:

Wieland: Wir werden noch einmal alle aufstehn und zusammentreten, Gewehr in der Faust.

Alter Arbeiter: Ja, ihr werdet noch einmal alle aufstehn und zusammentreten, Gewehr in der Faust. Aber das wird nicht heute sein und nicht morgen.

Benno: Man kann nicht warten, bis das Leben vergeht.

Alter Arbeiter: Nicht warten, arbeiten, arbeiten Tag für Tag und Jahr für Jahr unter den Proleten, bis die vielen aufwachen, wie wir aufgewacht sind.

Wieland: Ich hab solch ein Feuer in der Brust, das zerfrißt mich.

Alter Arbeiter: Sollst das Feuer behalten, sonst taugt die Arbeit nichts. Aber das Feuer allein taugt auch nichts. Sollst das Feuer ausbreiten, bis alle Proleten ein Feuer in der Brust haben wie du. Dann werdet ihr eine Mauer sein, dann werden sich die dort die Köpfe einrennen und werden ihnen keine Maschinengewehre mehr nützen und keine Geschütze.

Wo dröhnt hier der Marschschritt der Revolution? Hat der Reichsanwalt von seiner Beschäftigung mit linksradikaler Literatur die Nase so voll von Petroleum, daß er diesen Geruch nirgends los wird? Oh, Herr Reichsanwalt, hunderte von Büchern könnten wir Ihnen aufzählen, die nicht nach Petroleum duften, dem klassischen Brennstoff der Revolution, sondern nach Gas, nach dem Giftgas des nächsten Krieges, und Sie behelligen diese Bücher nicht, denn die sind von einwandfreien Patrioten, die ein bißchen Krieg brauchen, um ihre frigidgewordene Muse aufzupulvern. Nein, wer nur ein wenig Sinn für Rhythmus hat, wird in den oben zitierten Worten nicht Rebellion hören, sondern Elegie. Besiegte kauern da zusammen und reden wie alle Besiegten von der Hoffnung, von der Stunde, die schließlich doch den Triumph bringt. Doch der Herr Reichsanwalt ist unerbittlich: er konfisziert sogar die Tränen.

Aber die oberste republikanische Anklagebehörde wird uns erwidern, daß die von Berta Lask dramatisierten Geschehnisse alle gleichsam noch warm sind und selbst die armen Hoffnungen dieser niedergeworfenen Leuna-Arbeiter aufreizend wirken müssen, weil ihr Ziel »als nahe bevorstehend hingestellt wird«.

Also soll es überhaupt verboten sein, sich von Revolutionen dichterisch packen zu lassen, die nicht in grauer Vergangenheit liegen. Darf man nur zu Marc Antons Demagogenkünsten applaudieren? Darf man nur bei Georg Büchner klatschen, wenn Saint Just seine wahnwitzige Begründung des Terrors aus Elementarereignissen, wie Erdbeben und Taifunen, herunterdeklamiert? Niemals ist das Recht auf Blutvergießen, auf Ausrottung der Gegner mit so hirnkranker Folgerichtigkeit proklamiert worden, und doch schließt sich das ganze Theater jedes Mal hingerissen und bedenkenlos der Aufforderung des Redners an, diesen erhabenen Augenblick mit ihm zu teilen, und alle Kommerzienräte im Parkett fühlen den Dolch des Brutus unterm Gewande. Wo ist der historische Zeitpunkt zu suchen, wo Verherrlichung einer Revolution erlaubt, wo eine Vision revolutionärer Zukunft nicht mehr, oder noch nicht strafbar ist? Wir bitten höflichst um eine reichsgerichtliche Entscheidung, um die wünschenswerte Einheitlichkeit der Judikatur herbeizuführen und uns, seien wir Künstler oder Genießende, von schwerem Gewissensalbdruck zu befreien. Ist zum Beispiel 1848 noch verbotene Zone oder ist die Schutzfrist für die Obrigkeit von damals schon abgelaufen? Und wie steht es gar mit 1525? Zwar war Stresemann neulich im ›Florian Geyer‹ vor Begeisterung kaum zu halten, aber es besteht doch noch immer eine kleine Unsicherheit, ob sich nicht etwa die Reichswehr beleidigt fühlen könnte, wenn es einem jungen Dramatiker einfallen sollte, den Truchseß von Waldburg, so wie er uns überliefert ist, auf die Szene zu stellen. Und hat Florian Geyer heute tatsächlich die höhern Weihen empfangen, so harrt Thomas Münzer noch immer des gültigen polizeilichen Sichtvermerks. In einem Fall ist er nämlich mit dem Kleistpreis ausgezeichnet, in einem andern, wie die Leunatragödie, beschlagnahmt worden. Hier müßte endlich Klarheit geschaffen werden.

Das Reichsgericht hätte da ein schönes, dankbares Arbeitspensum für den Sommer. Wenn im Herbstmond erst wieder die täglichen Landesverrate laufen, ist für solche Fragen geistig-künstlerischer Art keine Muße mehr.

Die Weltbühne, 26. Juli 1927


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