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Wenn der Novellist in die Politik vorstößt, läuft er in Gefahr, politisch bewertet zu werden. Der Erzähler Bruno Frank beherrscht sein Handwerk wie nicht viele, ein Belletrist, der gelegentlich der Dichtung ziemlich nahekommt. So entdeckte er den vereinsamten, den empfindsamen Fridericus. Der Beifall ist bei ihm. Die Republikaner applaudieren, weil er eine Legendenfigur nicht etwa zerstört, sondern nur neu vermenschlicht hat; und auch die Potsdamer sind zufrieden, weil er ihren Heros nicht nur unangetastet gelassen, sondern ihm sogar eine neue Seite abgewonnen hat. So bleibt ein sehr deutscher Vorgang: ein runder, allseitiger Erfolg durch Kompromiß. Wenn die Zeit erst etwas Staub darüber gesammelt hat, wird der Franksche Fridericus von dem der Schulmeister kaum mehr zu unterscheiden sein. Der Kinofriedrich, der Friedrich der Geschichtslüge und der Schulbücher und der sentimentale König des Bruno Frank – in den »Zwölftausend« streifen sie sich schon. Wann werden sie identisch sein?
Durch die Friedrichbücher ist der Schriftsteller Bruno Frank, nehmt alles nur in allem, eine öffentliche Macht geworden. Und so überblickte er sinnend die Gegenwart. Der Pariser Jean Giraudoux hat ein seltsames kleines Buch geschrieben – »Bella« – eine Mischung von Roman und politischem Traktat, Liebe und Zeitsatire, persönlicher Konfession und Ministerialkabalen, amüsant und traurig durcheinander. Die Geschichte der Rivalerie zwischen Poincaré und Philipp Berthelot macht es etwas zum Schlüsselroman, aber die graziöse Hand des Verfassers gibt nie das Letzte preis, und nach Kabale und Liebe, Pathos, Satire und Aktualität bleibt als Erinnerung nur ein feiner Duft. Wo das Buch laut wird, schlägt das Cartel de gauche die Pauke, und Poincaré ist der Feind (der übrigens nicht unterließ, Herrn Giraudoux, alltags am Quai d'Orsay in der Presseabteilung waltend, seine Glückwünsche auszusprechen).
Zeitgeschichte, von delikaten, wählerischen Fingern durcheinander gemischt. Der Deutsche Bruno Frank, der eben Friedrich in die bessere Literatur eingeführt hat, überschaut die Gegenwart, und sein Auge bleibt auf Locarno haften. Er hat den durch Geschmack gezähmten Sinn für Modewerte. Er hat Courage genug, um eine ewig unbelehrbare Minorität herauszufordern. Er mag sich verwegen vorkommen, grade Locarno zum Thema zu nehmen. Aber Locarno wird heute von gut 80 Prozent aller Deutschen als Realität anerkannt, freudig oder unfreudig, jedenfalls anerkannt. Auch die nicht ganz verrannten Nationalen hüben und drüben machen ihre Verständigung, man tauscht wieder geistige Güter aus ... es ist, wie vor dem Krieg. So schreibt Bruno Frank die »Politische Novelle«. Sie wird das gelesenste, das meist übersetzte deutsche Buch des Jahres sein.
Zweite Garantie des Erfolgs: das modische Schlagwort »Paneuropa«. Locarno und Paneuropa – die beiden von Amts wegen gestatteten Formen von Pazifismus. Die einzigen hoffähig gewordenen Formeln für Pazifismus: den Kriegsdienstverweigerer schütteln pazifistische Republikaner als Extremisten ab, den Militärkritiker sperren die Richter der Locarnoregierung als Landesverräter ein. Locarno und Paneuropa, und doch, wie Viele mußten kämpfen und bluten, um selbst diesen zahmen Phrasen etwas Legitimität zu erobern. Auch die Friedensschlacht ist von den kleinen Leuten geschlagen worden, und nachher erst kamen die Stäbe der hohen Politik aus dem Unterstand. Bei Bruno Frank ist die Plebs radikal entfernt. In feiner, dünner Luft führen ein Deutscher und ein Franzose platonische Dialoge. Aristide Briand ist da als Achille Dorval, ein stilisierter Briand, fertig für den Gebrauch der Nachwelt. Nicht der fuchspfiffige alte Rhetor, der Krieg ebenso gut kann wie Frieden, sondern ein milder, geläuterter Greis, mit lateinischer Kultur, aber auch prima gallischem Erdgeruch, ein Voltairianer mit großer, gütiger Kinderseele, ein weiser hundertjähriger Mandarin, dessen Schweigen schon Sinnspruch wird. Wie würde sich als Gegenspieler da unser Stresemann ausnehmen? Selbst ein Bruno Frank verzagt, unsern Stresemann zu sublimieren. Deshalb wird ein idealer Deutscher gebaut. Carl Ferdinand Carmer, der Familie jenes von Carmer entstammend, der das Preußische Landrecht geschaffen hat, aber aus einer Linie dieses Hauses, die aus Bürgerstolz auf Nobilitierung verzichtet, hat nicht den Germanenbart der Helden Hermann Burtes, sondern das geistige Gesicht und den gut trainierten Körper des Romandeutschen dieser Tage. Er ist heimisch in der großen Welt – beinahe blaublütig, übt morgens am Punching-Ball, bewegt sich zu Hause so ungezwungen wie in dem besten Hotel, reist ohne Baedecker durch Italien – o Wunschbild des Deutschen! – behandelt mit lässiger Dandygeste die Frage, ob er ein Portefeuille annehmen soll und endet im Hurenviertel von Marseille, eine schöne Mischblütige umfangend, von einem Zuhälter in den Rücken gestochen. So pflegen deutsche Parlamentarier zu leben und zu sterben.
Die beiden Hauptfiguren flankiert von zwei Sekretären, die bei Stefan George und Mallarmé beheimatet sind. Auch die Nebenrollen sind gut und teuer. Tschitscherin erscheint, als belanglose Episode, in einem Spielsaal. Josephine Baker tanzt in einem Zirkel von Geldkönigen. Es ist ein merkwürdiges Europa, um das da gekämpft wird. Ein Europa der feinsten Leute. Ein Europa ohne Völker, ein Europa der Luxuszüge und Luxusplätze, und die Massen ragen nur hinein als das Riffraff aus den Bordellgassen von Marseille.
Wäre dies Sybaris wirklich Europa, es wäre reif zum Schnitt, reif zur Überflutung durch die Barbaren. Aber dies Europa ist zurechtgeschneidert für eine Politische Novelle, die mit Politik nichts zu tun hat. Sie trägt eine falsche Etikette. Sie enthält nicht mehr als den Untergang eines unleidlich versnobten Zeitgenossen, der ganz gleichgültig wird, wenn man ihm die politische Graduierung nimmt. Und die Pointe sticht ins Leere. Denn dieser Carmer endet in einem Zufallsabenteuer. Aber die gemeuchelten Friedensfreunde sind nicht erlegt worden von Bestien unbestimmbarer Nationalität, die gar nicht wußten, wen sie trafen. Zum mindesten wußten es die Auftraggeber. Keiner der großen politischen Morde, die wir kennen, ist in pittoresken Dirnengassen ausgeheckt worden, sondern in blanken Industriekontoren, in sauber gescheuerten militärischen Amtsstuben und ausgeführt, affektlos und präzis, bei hellem Tageslicht. Nicht die armseligen Deserteure von Marseille, Völkerabfälle von vielen Armeen, symbolisieren die Unterwelt Europas, die Stätte, wo Verderben schwelt, sondern die legitimen Existenzen im Auto, die Smokingexistenzen, die Aufsichtsratsexistenzen; die Pestilenz, die das nächste Millionensterben über Europa bringen soll, geht sauber gebürstet, gut gebadet, gescheitelt und mit Hornbrille, Börsenkurse im Kopf, nüchtern durch den klaren Tag. Was aber an Locarno wirklich Leistung war, das war nicht Leistung edler Peripatetiker, die in erhabenen Gesprächen dahinwandern, sondern die von Luther, Stresemann, Briand, die mittlerer Bürger also, die weder den deutschen noch den französischen Geist vertreten, die ganz einfach als gute Geschäftsleute gekommen waren, um es mal mit dem Frieden zu versuchen. Daß sie dabei gegen Erziehung, Tradition und innerstes Empfinden anzugehen hatten, daß nur der brillante Redner Briand mühelos die neue europäische Phrasierung mühelos fand, während die andern nur stammelten und mit Schrecken an den Empfang zu Haus dachten, das ist der wirkliche Konflikt der Männer von Locarno. Und der eignet sich weit eher für eine aristophanische Komödie als für einen platonischen Dialog.
Man kann entgegenhalten: Warum so heftig, wo doch Einer Europa, unser aller Vaterland, besingt? Vor sieben Jahren war Artur Dinter obenauf, heute Bruno Frank – ist das nicht ein Fortschritt? Wären es nur abweichende Nuancen, es lohnte sich kein Wort. Aber dies Buch, das seinen Weg über die ganze Welt nehmen wird, ist schädlich, weil es Gefahren maskiert und Illusionen weckt. Weil es ein Europa inthronisiert, ein Sybariseuropa, ein Capuaeuropa, ein Grandhoteleuropa, das es gar nicht gibt. Weil es Staatsmänner präsentiert, die es nicht gibt. Weil es die Tatsache eines millionenfachen Arbeitsvolkes ignoriert und eine chinesische Mauer gegen den Osten aufrichtet. Es mag ein liebenswürdig gesüßter Elementarunterricht sein für die wenigen Hoffnungslosen, die heute noch nicht glauben wollen, daß die Franzosen etcetera auch Menschen sind. Aber es ist keine Waffe gegen die vielen, vielen, vielen, die auf die andern Nationen losschlagen wollen, weil sie auch Menschen sind. Seine Moral verbreitet einen angenehmen rosigen Nebel; sie weckt nicht, sie lullt ein. Noch ein paar solcher Bücher, und wir werden den nächsten Krieg nicht eher spüren, als bis die Flieger über den Dächern surren.
Das Leben des Fürsten Carl Felix Lichnowsky war eine politische Novelle, von der deutschen Wirklichkeit gedichtet. Unwahrscheinlich war die Berufung; kaiserliche Laune warf dem gelernten Diplomaten nach Jahren des Verzichts auf öffentliche Wirksamkeit den wichtigsten Botschafterposten zu. Teils weil Stand und Vermögen ihn zu großer Repräsentanz für London befähigten, teils, weil er als Anhänger der Tirpitzereien galt, teils, weil es Wilhelm eben so wollte. In England fühlt Lichnowsky zunächst nur eine gesellschaftliche Mission; er sieht in Höflichkeitsbezeugungen zunächst irrtümlicherweise politische Akte. Dann wächst er in das Amt und die Verantwortung; warnende Berichte gehen nach Berlin, von denen er sich Eindruck verspricht – sie werden heiter ad acta gelegt, und der Effekt ist nur, daß man ihn nicht mehr richtig instruiert. Er könnte was merken und stören. Bei hereinbrechender Katastrophe glaubt man in Berlin noch an Englands Neutralität, vergeblich sendet der Botschafter seine Beschwörungen. Der Krieg ist da. Lichnowsky hat seinen Höllensturz erlitten. Er hat nicht nur das Unheil nicht aufhalten können, er weiß jetzt, daß man mit ihm gespielt hat. Man hat ihn uninstruiert wirtschaften lassen, weil als Werkzeug zu einem Betrug niemand besser zu verwenden ist als der Ahnungslose. Die berliner Politik hat den Grandseigneur öffentlich zum Hanswurst gemacht. Jetzt, wo er zusammengebrochen aus England zurück ist, machen sie sich über ihn lustig. Die Geste haben die Herrschaften bis heute beibehalten. Sie ist gedrungen bis ins amtliche Aktenwerk, sie treibt noch 1927 den pedantischen Archivar Thimme zu einer überflüssigen und innerlich unwahren Polemik.
Die Republik hatte keine Verwendung für den Verfasser der historisch gewordenen Denkschrift. Sie bediente sich nicht seines geachteten Namens; sie schnitt ihn, boykottierte ihn wie alle, die schon im Krieg zur Opposition gestanden hatten. Grade in ihrer ersten Zeit hätte sie bitter nötig gehabt, alle zu sammeln, alle in vorderster Reihe zu verwenden, die außerhalb der deutschen Grenzen auf Sympathien zu rechnen hatten. So schritt man stolz nach Versailles, um dann entgeistert zu unterschreiben.
Der Fürst Lichnowsky ist als verbissener Greis gestorben. Er war ein guter Typus des vornehmen Diplomaten der alten Schule. Aber die Schriften seiner letzten Lebensjahre beweisen, daß er sich leicht in die neue Zeit und ihre Methoden hineingefunden hätte. Doch die Republik wollte ihn nicht. »Carl Ferdinand Carmer war unter der Republik dreimal Minister gewesen, einmal Minister in Preußen und zweimal Minister des Reichs.« So denkt sich der politische Novellist die republikanische Karriere eines Demokraten aristokratischen Blutes, eines Weltmanns und Politikers von künstlerischer Intuition, der zudem noch Kriegsfeind gewesen war.
Lichnowsky ist still, wie im Exil, gestorben. Und das war wohl noch das mildeste Ende. Wäre er nochmals hervorgetreten, hätte ihn vielleicht der Herr Oberreichsanwalt konfisziert.
Die Weltbühne, 6. März 1928