Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Frank Harris contra Mary Fitton

Frank Harris, der glänzende Publizist, der sich in einem langen Leben mit so vielen Männern gezankt und mit noch mehr Frauen vertragen hat – Frank Harris, der alte Kampfhahn, hat nun ein mit allen Salzen durchtriebener Pamphle[ti]stik gewürztes Anklageverfahren gegen Jemand eröffnet, der weder in der Presse noch sonstwie antworten kann: – gegen Mary Fitton, weiland Hofdame der englischen Elisabeth. Und die Anschuldigung lautet: William Shakespeare, Englands größten Dichter, ruiniert zu haben. Denn Mary Fitton, so übernimmt Harris von altern Forschern, ist die geheimnisvolle schwarze Dame der Sonette, zu der William zwölf Jahre zarte und unzarte Beziehungen unterhielt. Sie hat sein Leben verpfuscht, ihm Blut und Hirn vergiftet, sie hat seinen hochfliegenden Geist ihrem seidenweichen, goldbraunen Fleisch versklavt, sie, Mary Fitton, das Modell der stolzen Buhlerin Cleopatra. Zwölf Jahre war er an die trügerischen Launen der eleganten Dame gebunden – sie gibt seinen Lustspielfrauen die Serenität ihres Witzes, von ihr haben die Portien, Rosalinden, Beatricen die grazienreich spitze Zunge, ihr gelten die Flüche Timons, die Raserei Othellos, der schrecklich hilflose Ausbruch des Knaben Troilus: »Man glaub' es nicht, der Weiblichkeit zu Ehren! Wir hatten Mütter, denkt ...« Sie hintergeht ihn mit seinem vornehmen jungen Freund und Mäzen William Herbert, Lord Pembroke; schließlich verheiratet sie sich und geht von London fort. Bald darauf zieht auch er, verlassen, erledigt, aus der Capitale, um sich nach ein paar tristen Kleinstadtjahren zum Sterben zu strecken.

Das stellt Frank Harris in einem außerordentlichen Buch dar, fortreißend und mit vielen Spannungen geladen – der Fluch aller Anglisten ist ihm sicher. (Shakespeare der Mensch und seine tragische Lebensgeschichte. Deutsch von Antonina Vallentin, S. Fischer Verlag.) Er entdeckt die dramatischen Elemente im Leben des dramatischsten Dichters aller Zeiten. Wie die Theorie fundiert ist? By Jove, ich glaube, ziemlich windig. Er hält sich auch nicht groß mit Urkunden und Quellen auf. In »Love's labours lost« sagt Biron von Rosaline: »Ein bläßlich Ding mit samtnen Augenbrauen – mit zwei Pechkugeln im Gesicht statt Augen –«. Dann die schwarze Dame der Sonette, dunkel ist Cleopatra ... Daß ein bestimmter brünetter Frauentyp in einer Reihe von Stücken wiederkehrt, Beweis genug für Shakespeares Vernarrtheit in die schwarze Mary Fitton. Das ist gewiß eine etwas magere Argumentation, aber Harris trägt seine Meinung mit so viel Temperament und Überschuß an Geist vor, daß sie überredender wirkt als die Spekulationen der gelehrten Literatoren, die vergessen, daß hinter dem philologisch sezierten Text einmal ein Herz geschlagen hat. Dieser Shakespeare war mangels eines intakt hinterlassenen Lebenslaufes ohnehin so unpersönlich geworden, daß man ihn schließlich selbst für ein Fabelwesen erklärt und seine Werke unter Herren aufgeteilt hat, die bei der Gelehrtenwelt bessere Legitimationen deponiert haben. Aber Harris stürzt das traditionelle Bild von dem ernsten, gemessenen Dichter, er nimmt ihn einfach körperlich und erklärt ihn aus einem Punkt. Sein Shakespeare ist ein willenloser Erotomane, der Alwa Schön einer adligen Lulu, ihr Besessener, ihr Helot, ein armer Tagelöhner der Liebe, der mit wenig Hoffnung auf das Vielleicht der Nacht harrt und oft vor verschlossener Tür. Drinnen tuschelt es; eine Männerstimme knurrt, ein kleines Lachen: »O, es ist nur William, der arme Kerl ... « Dann zieht er fröstelnd den Mantel enger, und hält, an die graue Gartenmauer gelehnt, einen jener Monologe, die später seine leidenden Männer so glaubhaft machen. Armer Klassiker ...

Wahrheit oder Fiktion, der gerupfte Dichterfürst überzeugt besser als der in geschlechtloser Integrität. Ach, wenn sich Harris auf dies Bild beschränken würde! Aber leider verführt ihn sein polemischer Furor zu grimmigen Ausfällen gegen Mary Fitton, die den Mann kaputt gemacht und schließlich ausgepumpt nach Stratford zurückgeschickt hat. Eine furchtbare Kanonade dröhnt auf Mary Fittons dreihundert Jahre altes Grab herab. Wahrscheinlich war bei der armen Mary der Sinn für Beständigkeit zu kurz gekommen, und dann teilt sie überhaupt das Los aller Frauen, die sich mit Künstlern eingelassen haben und schließlich nicht wissen können, daß ihr Liebhaber einmal unsterblich werden wird, was man ihnen nicht übel nehmen kann, weil es die zeitgenössischen Rezensenten gewöhnlich auch nicht wissen. Hätte zum Beispiel Armande Béjard, Molières leichtfertige junge Frau, auch nur im Traum geahnt, daß ihr Lebenswandel später einige Tausend hungriger Biographenaugen auf sich ziehen würde, sie wäre gewiß viel besser auf der Hut gewesen, sie hätte kaum, wie ein deutscher Forscher schaudernd festgestellt hat, ihren ersten Seitensprung noch dazu im Freien begangen, sondern sich zu diesem Zweck wenigstens um ein anständiges Dach bemüht. Mary Fitton war eine kluge, eine kunstliebende Frau. Umschmeichelte Hofdame, selbständig in einer Zeit, wo die Weiber kaum Piep sagen durften, fühlte sie sich auch frei und ungebunden in der Liebeswahl. Viele Aristokraten haben sie gehabt ... Der Herr Shakespeare aber war nur »the king's servant«, sozial auf einer Stufe mit einem Hoflakai, ein Komödiant von snobistischen Allüren, der auch Sonette schrieb im Stil der feinen Herren. Sich mit ihm einzulassen, dazu gehörte mehr, als wenn sich heute eine Dame von Welt mit einem Boxer abgibt. Vielleicht hätte sie lieber mit ihm über seine Dramen geplaudert, anstatt in seinem Lebensdrama mitzuspielen. Er war nicht mehr jung, er neigte ein wenig zur Korpulenz, und – alas poor Yorick, alas! – sein Haar lichtete sich schon, wenngleich sie gewiß später an dem Haarausfall beteiligt war. Vielleicht hat sie ihn nur genommen, weil er immer so traurige Augen machte, weil er bitter sagte: »Warum bin ich nicht ein Cecil oder Rutland, sondern nur Sohn eines falliten Handwerksmeisters aus Stratford ...« Da mag sie wohl nachgegeben haben, weil sich ihr Stolz empörte, denn die Freundin der Künste kannte kein Vorurteil.

Dreihundert Jahre nachher verdammt sie ein glänzender Pamphletist zum ewigen Höllenfeuer, weil sie einen Dichter gequält hat, der außerhalb seiner Manuskripte nicht mit Frauen fertig werden konnte. Dreihundert Jahre nachher eröffnet ein blendender Psycholog einen Prozeß gegen die Launen eines weiblichen Sexus. Auch ohne die Verjährung kein schöner Rechtsfall. Und wäre Mary Fitton die Ärgste ihres Geschlechtes gewesen, auch über ihrem Grab steht unsichtbar der simple Spruch, den William Shakespeare sich selbst geschrieben hat, den sich gewiß auch Frank Harris wünscht, wie wir uns alle ihn wünschen: »In Jesu Namen, Freund, laß' Du – den hier verschlossnen Staub in Ruh. – Gesegnet sei, wer schont den Stein, – verwünscht, wer störet mein Gebein!«

Die Weltbühne, 27. Dezember 1927


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