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Hindenburg hat zwar für Schwarz-Rot-Gold ein freundliches Wort gefunden, aber die feinen Leute bleiben bei den alten Farben. Wenn sie auch nicht mehr vorhaben, die Republik heut oder morgen zu entthronen, so wollen sie doch an ihre Existenz wenigstens nicht da erinnert werden, wo sie gut essen und weich gebettet schlafen. Diese Abneigung ist bekannt genug, um von den Hütern ihres Essens und Schlafens sorglich beachtet zu werden. Deshalb haben auch die großen berliner Hotels die Fehdeansage des Magistrats Berlin und der preußischen Regierung mit Hohngelächter aufgenommen und sich kurzerhand exterritorial erklärt oder unter den Schutz der amerikanischen Flagge gestellt, deren delikater Blutgeruch grade in diesen Tagen den hochgeborenen Gästen angenehm in die Nase zieht. Denn diese großen Hotels um die Linden sind nicht etwa Geschäftsunternehmen gleich andern, wie man denken könnte, sondern richtige Feudalburgen, Stammsitze trutziger Lehnsherren, der Staatsmacht in der Wilhelm-Straße drohend vorgelagert. Die strengen Herren lassen sich von so einem bißchen Republik nicht leicht imponieren; der Pfalzgraf von Adlon, der Herr Truchseß von Bristol oder die Vicomtesse d'Esplanade, verwitwete Stinnes, wissen sehr wohl, was sie einem Publikum von Trägern des nationalen Wohlstandes und Damen der internationalen Verschwendung zumuten dürfen, von den echten und falschen Domelas ganz abgesehen, und lassen nicht eine Fahne aufs Dach pflanzen, die von ganz gewöhnlichen Arbeitern bei Straßendemonstrationen vorangetragen wird. Die deutlichsten Konsequenzen haben Aschingers gezogen, indem sie als Hauptaktionäre der Hotelbetriebsgesellschaft zwar den Beschluß zur Obstination mitmachten, aber für ihre vielen Stätten in der City, wo die mindere Kundschaft mit den historischen Löffelerbsen Murmeln spielt, die Weimarer Farben gestatten. Dagegen hat der Großkonnetabel vom Excelsior feierlich verlautbart, jede gesetzmäßige Regierung zu unterstützen. Gott sei Dank, von der Seite droht der Republik keine Gefahr. Und nun fragt man sich, was wohl komischer ist: die Fehdeansagen oder diese Loyalitätsbekundung. Boeß und Braun müssen jetzt durchhalten. Verzwickt ist die Sache nur für die Reichsregierung mit ihren deutschnationalen Mitgliedern und für Herrn Marx, der in zahlreichen Kämpfen schon so verschiedenartig koloriert wurde, aber hoffentlich für unvorhergesehene Fälle noch ein paar weiße Felder freigehalten hat. Wie werden sich die Herren herauswinden? Einstweilen krümmen sie sich wie auf jener ungemütlichen Lagerstatt, die Prokrustes bereitet hat, der sagenhafte Begründer des Hoteliergewerbes. So wird also nach dem ehrlichen Makler gesucht. Doch bis dahin dauert der Boykott fort. Es sei einem schlichten Untertan vergönnt, hier offen auszusprechen, daß er diese Karenzzeit als sehr nützlich begrüßt. Es wird nämlich in Berlin etwas zu viel offiziell bankettiert, jubiliert, empfangen und verabschiedet. Kommt Irgendwer nach Berlin, sei es ein Literaturchampion oder ein Kapitalmagnat oder ein vor so viel Begeisterung schier aus den Wolken gefallener Flieger, so setzen sich nicht nur die nächstbeteiligten Branchen sofort in Bewegung, sondern auch die entlegensten »Spitzen«; »führende Persönlichkeiten« jeder Art, denen man bisher beides nicht geglaubt hat, stürmen als Gratisstaffel an den reich gedeckten Tisch, gefolgt von sonst schrecklich oppositionellen Parlamentariern, die aus der Gesellschaftskluft überhaupt nicht mehr herauskommen und denen sozusagen der Frack näher sitzt als das Hemd, mit dem ihre Wähler sie bekleidet haben. Zwar sind die Formen heut zivilisierter als in jenen vorgeschichtlichen Tagen, wo die Wiege der Republik in Schwanenwerder geschaukelt wurde. Wie werden die Leute die Schließung ihrer heitern und billigen Garküche ertragen? Gewiß wird der Boykott bald an den knurrenden Magen ein heftiges Hindernis finden, und die »führenden Persönlichkeiten« werden drängen, der gräßlichen bankettlosen Zeit so schnell wie möglich ein Ende zu machen.
Bei den genfer Tumulten nach der Hinrichtung Saccos und Vanzettis ging ein Hagel von Steinwürfen auf das Völkerbundhaus nieder und richtete in dem berühmten Glassaal arge Verheerungen an. Obgleich Ziel der Empörung das amerikanische Konsulat war und die Steine nur in der Hitze des Gefechts in den Völkerbund flogen, sollten die Diplomaten, die sich jetzt dort versammeln werden, sich nicht damit trösten, daß auch die Nemesis manchmal daneben treffe. Auch von dem Palais des Völkerbundes kann der Volkszorn einmal Rechenschaft fordern. Heut äußert sich die Stimmung noch in Indifferenz. Doch die Ereignisse häufen sich, die die innere Krise des Bundes augenfällig machen. Vor kurzem hat Frankreichs Vertreter Henri de Jouvenel mit schneidender Begründung resigniert, und ihm scheint nunmehr Lord Robert Cecil zu folgen. Verschieden wie die Persönlichkeiten sind die Motive beider. Aber dem Entschluß zur Abdikation liegt hier wie dort das Bewußtsein zugrunde, daß die Ämter leere dekorative Formen geworden sind und alle entscheidende Politik den Kabinetten der Mächte vorbehalten bleibt. Herr de Jouvenel ist ein eleganter Dutzendpolitiker, früher Nationalist, dann Locarnist; heut zu nichts verpflichtet, morgen bereit, für das Eine oder Andre in Briands Amtszimmer einzuziehen. Lord Robert Cecil dagegen ist mit den wenigen guten Stunden des Bundes aufs engste verknüpft. Früher, als genfer Vertreter der Südafrikanischen Union, hatte er mehr Spielraum. Als Baldwinminister blieb er gebunden. Sein Ausbruch aus dem Kabinett wird zu einer flammenden Demonstration gegen den jetzt ganz den reaktionärsten Tories hörigen Chamberlain.
Übrigens hat es auch in Paris beträchtliches Glasklirren gegeben. Auf der Interparlamentarischen Union, allwo unser Loebe zum ersten Mal in die bessere Außenpolitik gestiegen ist. Man kann nämlich den ornamentalen Bedürfnissen des Reichstags durchaus genügen und auf internationalem Terrain doch erheblich absacken. Glattes Eis, ein Paradeis – für Den, der drauf zu tanzen weiß. Herr Loebe wurde zunächst eifrig beklatscht, weil man ihn nicht verstand und weil er beim Reden immer so freundlich aussieht und zu seinen Pointen so nett blinzelt. Als aber der Text nachher in die diversen Muttersprachen übersetzt wurde, machten die Leute alle ein böses Gesicht. Herr Loebe hat mit seinem wohlgemeinten Impromptu der deutsch-französischen Diskussion keinen Gefallen erwiesen. Wahrscheinlich meinte er: ein offener, grader Mann, der frei heraussagt, wie ihm ums Herz ist, genüge schon, um alles ins rechte Lot zu bringen, und vielleicht hat man nur dem Poincaré bisher noch nicht richtig zugeredet. So platzte denn in ein Gremium geschliffener, bis zur Perfidie geschliffener Dialektiker eine Bravourarie aus dem deutschen Bezirksverein mit der bekannten köstlichen Simplifizierung auch der heikelsten Fragen. Diese offenen, graden Männer, die immer mal wieder ihr Herz ausschütten müssen, haben in den deutsch-französischen Beziehungen gewöhnlich das meiste Unheil angerichtet. Das war doch das unbestreitbare Verdienst von Briand und Luther in Locarno, die Sache einmal ganz kühl und geschäftsmäßig anzupacken, nachdem sie vorher alle offenen und graden Männer sorgfältig aus dem Porzellanladen entfernt hatten. In Spaa verlangte die deutsche Delegation offen und grade schwere Minenwerfer und mehr Kanonen, um besser Bürgerkrieg führen zu können. In London fuhr Simons offen und grade in die Katastrophe. Seeckt kniff lächelnd sein Monokel ein. In Genua machte Herrn Wirths offene Gradheit den besten Eindruck – und eines Morgens war der Russenvertrag da. Offen und grade erklärte der redliche Kaufmann Cuno in der Telegraphenstangen-Affäre sein ›non possumus‹. Jedes deutsch-französische Mißgeschick ist mit offenen, graden Männern verknüpft, die nur das Eine nicht wissen, was alle Welt weiß: daß sie nämlich leicht getäuscht und ahnungslos die Geschäfte von Männern führen, die weder offen noch grade sind. Das Ausland hat für Deutschland kritische und von keinem Lyrismus verklärte Augen und sieht deshalb einen gewissen Politikertypus schärfer als wir: – den eingeseiften Demokraten. Auch Poincaré, der angeblich so gehässige, so unversöhnliche Poincaré, hat seine Begrüßungsrede nicht benutzt, um ein Kriegermonument einzuweihen. Aber Paul Loebe hat in Paris ein unsichtbares Reichsbannerdenkmal enthüllt. Man kann heut einem Parkett von französischen Politikern eine ganze Reihe Offenheiten sagen, aber diese wohlbekannten deutschen Moralpredigten, wie das alles so schön werden wird, wenn man nur dem deutschen Standpunkt erst in allem nachgegeben hat, das kann man nicht mehr vertragen. Dazu kennt man Weise und Text, Sänger und Souffleure zu gut. Herr Loebe und seine republikanischen Freunde übersehen, daß alles, was sie über Okkupation, Abrüstung etcetera zu verkünden haben, doch eben die Themen sind, die erst zur Diskussion stehen sollen und die sie als judiziert vorwegnehmen. Es ist nach den Buntheiten der deutschen Militärpolitik ein Unding, immer wieder gerührt auf das abgerüstete Deutschland zu verweisen. Man soll froh sein, wenn die Andern nicht davon anfangen. Wenn man attackiert wird, ist noch immer Zeit genug, die Mappe zu öffnen und den oktroyierten Pazifismus statistisch zu belegen. Aber man täte gut, sich endlich den Brustton zu verkneifen und die Mahnungen, dem deutschen Beispiel zu folgen. Man kann doch nicht, wie Loebe in einem spätem Interview, eine Erklärung abgeben wie die, daß ›potentielle Kriegsrüstungen nur in der Einbildung bestünden‹; denn es geht nicht an, die Überzeugungen der andern Seite von vornherein zu bagatellisieren, wenn man mit Erfolg verhandeln will. Was Loebe da als Hirngespinst abtut, ist nämlich die grundlegende These der gegenwärtigen französischen Militärpolitik und maßgeblich für ihre Betrachtung aller andern konkurrierenden Militarismen. Die deutschen Verständigungsmänner aber schieben das leicht bei Seite, denn sie hören immer dort auf, wo das Thema erst beginnt. Und wundern sich dann, wenn auf französischer Seite eine Frage wie die der Rheinland-Okkupation dilatorisch behandelt wird oder Zugeständnisse, wie jetzt die neue bescheidene Truppenverminderung, durch kleine Kalkulationskniffe entwertet werden. Selbstverständlich müßte über die Rheinbesetzung recht bald Klarheit geschaffen werden. In Frankreich wird man das kaum weniger quälend empfinden als bei uns. Aber wer die Debatte fördern will, darf nicht vergessen, daß auch England noch zu den Okkupationsmächten gehört; und wie Herr Chamberlain jetzt manipuliert hat, das werden wir wohl erst erfahren, wenn wir alles wissen, was zu Lord Robert Cecils Demission geführt hat. Herr Loebe aber macht es wie fast alle deutschen Verständigungsmänner: er appelliert halb zürnend, halb verliebt an Frankreich. Die englische Politik sieht er nicht und fragt nicht nach ihrem Spiel. Die republikanische Presse hat ihn als Helden gefeiert, und hoffentlich ist er mit diesen Lorbeeren seiner Extratour ins Außenpolitische zufrieden. Daß sich auch der ›Lokalanzeiger‹ über ihn lustig macht, soll uns nicht in der Meinung beirren, daß sein Auftreten in Paris dilettantisch war und der Sache geschadet hat.
Die Gerüchte, der Reichspräsident beabsichtige nach seinem achtzigsten Geburtstag zurückzutreten, wollen trotz Dementis nicht verstummen. In parlamentarischen Kreisen munkelt man jetzt, der preußische Ministerpräsident habe Herrn v. Hindenburg solche Pläne ausgeredet mit dem Hinweis, daß das große Werk der Volksversöhnung noch nicht vollendet sei. Nein, es ist wirklich noch nicht ganz vollendet, das große Werk, und man brauchte auch gar nicht darauf einzugehen, wenn dieses Wort des Genossen Otto Braun nicht den neuen Curialstil in vollendetem Ausdruck zeigte. Die Republik gewinnt Form, Phrase und Etikette. ›Das große Werk der Volksversöhnung noch nicht vollendet‹ – wie so etwas glatt und leicht aus dem Mund fließt. Und damit ist die Sache erledigt. Was weiter geschieht, liegt beim Reichsanwalt, liegt bei Niedner.
Die Weltbühne, 30. August 1927