Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Bella und der Teufel

Jean Giraudoux arbeitet da, wo der Klatsch zweier Kontinente zusammenläuft: in der Presseabteilung am Quai d'Orsay. Es ist für einen Dichter schwer, es in solcher Stellung zu bleiben, namentlich, wenn sein erwähltes Sujet ihn nötigt, zwei Vorgesetzte zu behandeln: die Herren Poincaré und Berthelot, die als Rebendart und Dubardeau ihre Rivalitäten ausfechten. Erwarten Sie keinen Schlüsselroman. Dieser Autor verzichtet auf den naheliegenden Reißertitel und gibt seinem Buch den musikalischen Namen »Bella« (in deutscher Sprache soeben im Insel-Verlag erschienen). Es ist eine hauchzart aquarellierte Liebesgeschichte, und über die politischen Prominenzen, die die Liebe stören, ergeht ein Strafgericht voll lukianischer Heiterkeit. Giraudoux ist ein Meister der feinsten epigrammatischen Spitze, was ihn nicht hindert, gelegentlich statt des Floretts den Stock zu führen. So schildert er den Denkmalenthüller Poincaré: »Es gab weder ein Podium noch eine Stufe. Er begann vom Boden aus zu sprechen. Er schien diesmal leibhaftig aus dem Grab gesprungen. Er spreche, sagte er, im Namen dieser jungen Menschen ... Und er log.« Oder er schildert den Besuch des jungen Dubardeau im Hause Rebendart: »Ich setze mich so, wie es kein Rebendart getan hätte. Ich hatte die Lehne vor meinem Bauch. Ich war nicht gegen Deutschland, gegen den Rhein gerichtet ... Rebendart in solcher Stellung, das hätte bedeutet, daß es keinen Erbfeind mehr gäbe –.«

Dies Buch voll gallischer Laune um eine melancholische Liaison, ist in einem edlen, strengen Stil gehalten. In vielen Partien mehr Essay als Roman, mehr ciceronische Abhandlung als Geschichte aus dem Paris von 1920. Die kühle, antike Form entrückt. Wenn von Auto oder Radio gesprochen wird, denkt man eher an Dinge, die in Pompeji ausgegraben sind, als an Gegenwärtiges. Aber der Geist ist der jenes unbesiegbaren Lateinertums, das, oft von christlichen Gegenströmungen zurückgedrängt, immer wieder lehrend oder spottend Europa erobert hat und vielleicht der wahre Geist Europas ist.

 

Im deutschen Roman dagegen herrscht Mittelalter. Auch Alfred Neumanns flinkes Virtuosentalent schreibt eine Geschichte von Politikern, aber sucht nicht Männer von Heute, sondern Ludwig XI. und Karl den Kühnen. So wie die deutsche Politik nach verunglücktem modernen Klimmzug in die Vergangenheit flüchtet, so steigt auch ein Schriftsteller mit Tastsinn für politische Problemstellung in eine gestorbene Zeit. Der preisgekrönte Roman »Der Teufel« (erschienen in der Deutschen Verlagsanstalt) zeigt einen Frühfertigen, der in der Maskerade der Stile und Formen geschickt sein eignes Gesicht zu verbergen weiß. Neumann kann sehr viel. Er kann sogar einen historischen Roman mit Hofrancünen und Tyrannenlaunen schreiben, ohne für einen Augenblick in die unfreiwillige Komik des abgelebten Genres zu gleiten. Aber immer bleibt das unbehagliche Gefühl: Jetzt kommt der Absturz, jetzt wird sofort irgend eine Klischeefigur, irgend eine herkömmliche Phrase ein paar hundert Seiten glatter Prosa kläglich kompromittieren. Doch immer wahrt die Disziplin des Autors die gefährliche Linie. Ja, es geht über einen Bodensee von Lächerlichkeit, es knirscht manchmal leicht, doch es kracht nicht. Sehr elegante Komposition, glänzende Verteilung der Spannungen und Erschütterungen, doch wir bleiben ganz ungerührt. Unter den burgundischen Wamsen klopft kein Herz. Wo sich ein Gefühl regt, wird es mit allen Schikanen einer bewährten Romanpsychologie ekrasiert. Denn diese Henker, Spione und Meuchelmörder sind alle nicht böse, sondern leiden nur ganz furchtbar am Leben. Charaktere, die nach Jodoform riechen, Seelen mit frischen Operationswunden. Diese Menschen morden mit klagenden Augen, lieben mit dem lastenden Bewußtsein, mit aller Sünde seit Adams Tagen behaftet zu sein. Wie in allen bessern gotisch empfindenden Familien beginnen sie die erotische Karriere mit etwas Blutschande, was überhaupt zum Kennzeichen neuern Romanmittelalters gehört. Gibt es nicht schon ein Schema: Altertum gleich Knabenliebe, Mittelalter gleich Blutschande, ab Renaissance ... Ehebruch?

Der deutsche Roman von Heute ist eine melancholische Sache. Er weiß nichts von der Zeit. Hat er sich etwa durch die Nebel der Geschichte gearbeitet, bleibt er in einem Sanatorium von 1910 stecken. Alfred Neumann ist die lang entbehrte Synthese von Mittelalter und Sanatorium gelungen.

Die Weltbühne, 7. Juni 1927


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