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Man kann in der Epidemie der Landesverratsprozesse die Psychose eines verlorenen Krieges und eines durch den Friedensvertrag gehemmten Militarismus sehen. Es ist aber daneben nicht unbeachtlich, daß es unter uns einen Mitbürger gibt, der schon heute die diesbezüglichen Maßnahmen studiert, die nach dem nächsten gewonnenen Krieg notwendig sein werden. Das ist ein Beamter aus dem Machtbereich des schwäbischen Staatsoberhauptes Bazille, ein Herr Fritz Breuling, Regierungsrat im württembergischen Justizministerium. Er hat eine Broschüre verfaßt »Immunität und Republik« (W. Kohlhammer, Stuttgart), worin er die Immunität der Abgeordneten als Kardinalübel unsres Staatswesens anprangert. Er erblickt darin einen Krebsschaden fürs Gemeinwohl, fordert deshalb die strafrechtliche Haftbarmachung der Deputierten für das, was sie auf der Parlamentstribüne sagen und möchte überhaupt am liebsten jeden neuen Volksvertreter zwingen, im Bureau seine Bertillonmaße zu hinterlegen. Als juristische Leistung gibt die Arbeit nicht viel her; der Gedankengang ist pathetisch verquatscht, zum Schluß bricht der Verfasser sogar in Verse aus, in richtige gereimte Verse, aber was da so gesagt und nur halb gesagt wird, das ist von jener knorrigen Rabulistik, jener wurzelhaften Verschlagenheit und blauäugigen Chuzpe, die so kennzeichnend ist für einen bestimmten neudeutschen Beamtentyp, der in der deutschnationalen Republik sein Glück sucht und alles verabscheut, was ihn sein Eid zu verteidigen zwingt. Herrn Breuling läßt die Vorstellung keine Ruhe, daß wir um die Früchte künftigen Sieges etwa durch eine defaitistische Opposition geprellt werden könnten; er ist deshalb schon jetzt für Anfertigung eines juristischen Panzerhemdes gegen den nächsten Dolchstoß:
»Es bedarf keiner weiteren Ausführung darüber, daß das öffentliche Interesse an der Verhütung von Hochverrat und Landesverrat das öffentliche Interesse an der Redefreiheit der Abgeordneten bei weitem überragt, daß auch von Abgeordneten im politischen Kampf das in dieser Richtung erforderliche Maß von Überlegung und Beherrschung verlangt werden kann, und daß unsern deutschen Gerichten die einwandfreie Feststellung, ob Hochverrat oder Landesverrat vorliegt, zugetraut werden darf, auch wenn der Angeklagte als Abgeordneter gehandelt hat. Die Gefahr der Strafverfolgung Unschuldiger muß eben in Kauf genommen werden wie bei jedem Strafgesetz.«
Das ist überaus einfach, und auch sonst hat dieser Stuttgarter Rechtsbeflissene tüchtige Einfälle. Die Justizkritik paßt ihm natürlich gar nicht; er sieht schon die Unabhängigkeit der Rechtsprechung durch Parlamentskritik bedroht, er fürchtet die Ablösung der Kabinettsjustiz früherer Zeiten durch eine Parlamentsjustiz. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß hier ein durch den Ruf nach Aufhebung der richterlichen Unabsetzbarkeit in seiner Verdauung aufgescheuchter Ministerialbureaukrat ein neues und nicht unbedenkliches Gegenargument ausspielen möchte. Soll das Privileg der Richter fallen, warum nicht auch das der Abgeordneten? Wenn sich die Abgeordneten allzu sehr um die Justiz bekümmern, warum soll sich die Justiz nicht ein Mal mit den Abgeordneten befassen? Herr Breuling ist kein großer Denker, vieles an seinen Deduktionen bestrickt auch durch unfreiwillige Komik, aber er hat Gefühl für schwache Punkte. Wenn sich unsre republikanischen Volksvertreter von den Strapazen der Verfassungsfeier erholt haben, sei ihnen das Studium der Gedankengänge dieses bescheidenen württembergischen Bazillenträgers dringend anempfohlen.
Die internationale Politik ist wieder unruhig geworden. Und zwar steht jetzt nicht mehr Rußland im Vordergrund, wie vor wenigen Wochen noch, sondern wieder Deutschland. Ein kleiner Zorn flackert in Brüssel und Paris, und selbst englische Organe, sonst in Berlin gern zitiert, runzeln die Stirn ein wenig. Die deutschen Republikaner wie Monarchisten haben sich einstweilen auf eine neue organisierte Deutschlandhetze geeinigt. Die Rechtsblätter fordern dagegen einen energischen Abwehrschritt bei der Regierung der Locarnomächte. Auch die Linksblätter deuten an, daß so etwas im Hintergrunde steht, aber jetzt noch nicht, erst nach dem achtzigsten Geburtstag des Reichspräsidenten. Gott bewahre, mag lustig weitergehetzt werden, man darf sich doch die Gratulationscour nicht entgehen lassen und nicht den von Alleuropas Glückwünschen garnierten Geburtstagsbraten. Erst nach dem 2. Oktober schlägt es fuffzehn, dann aber wird der Frack ausgezogen, und in Hemdsärmeln weitergefeiert. Die Regierung befindet sich arg in der Klemme. Der rechte Flügel ihrer Anhängerschaft fordert dringend, daß jetzt ›etwas Energisches‹ unternommen werden müßte. Ihr ist aber gar nicht so zu Mute, und viel eher dürfte Stresemann versuchen, im nächsten Monat in Genf in privaten Aussprachen eine freundlichere Stimmung herbeizuführen. Dafür spricht auch die Wahl des Genossen Breitscheid als Adlatus. Das ist der altbewährte Spezialist für Atmosphäre. Wir zweifeln nicht, daß der Genosse Breitscheid auch dies Mal das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigen wird. Er hat wirklich flair für jenes schwierige Zwischenreich, wo die Politik noch nicht ganz aufgehört und der Modebericht noch nicht recht angefangen hat. Er wird wieder französisch parlieren mit der Munterkeit einer gelegentlich über vorgeschriebene syntaktische Bahnen sprühenden Kaskade. Die Damen der Diplomatie wird er mit seiner schlanken Taille bezaubern, die Herren mit seinen verkehrten Konjunktiven. Wie der ›Vorwärts‹ erklärt, hat ihm die Partei, die sich ja zur Zeit hauptamtlich mit Opposition beschäftigt, Urlaub zur Rettung der Regierung bewilligt. Unsre Kindeskinder noch werden sich an Geschichten über die gute, alte Zeit freuen, wo das Oppositionmachen so gemütlich war.
Seit den blutigen wiener Ereignissen wird wieder viel über die Grenzziehung in Mittel-Europa disputiert und es muß gesagt werden, daß sich die deutsche Presse dies Mal nicht mit dem gewohnten hellen Timbre beteiligt. Die wiener Julirevolution hat die Schwäche der Anschlußbewegung in Reichsdeutschland und ihre verschiedenartigen parteipolitischen Motive überdeutlich dargelegt. Die Deutschnationalen, die sonst hinter jedem Stück Land wie der Fleischerhund hinterm Knochen her sind, lassen durch ihre ›Kreuzzeitung‹ erklären, daß ihnen ganz Österreich keinen Spaß mehr mache, und auch die sozialdemokratische Zentrale blickt lustlos auf die wiener Genossin. Die Scherlpresse triumphiert über das Einschreiten der fremden Kontrolloffiziere gegen die angeblich knallrote wiener Gemeindewache; wenn Seitz Auflösung der Heimatwehren fordert, wirds wieder Landesverrat sein. Und in Österreich selbst hat Otto Bauer unmißverständlich erklärt, daß es mit dem Anschluß an die schwarz-weiß-rote Republik nichts sei, während der schwarz-gelbe Seipel ganz unerwartet seine Sympathien für Berlin entdeckt hat. So laufen die Motive durcheinander und gegeneinander. Aber so sieht keine Volksbewegung aus. Das dürfte selbst der großdeutsche Vorsänger Paul Löbe von Fallersleben begreifen, dessen Name bisher der Bewegung ein gewisses Ansehen gegeben hat. Aber auch dieser vorgebliche Ultraradikale sollte es sich endlich überlegen, ob es seiner politischen Würde entspricht, sich mit Leuten, die ihn sonst als Internationalen ablehnen, gemeinsam national aufzupusten. Überhaupt wird man das Gefühl nicht los, daß einen beträchtlichen Teil unsrer Anschlußfreunde am stärksten die Tatsache anspornt, daß man großdeutsche Feten in Paris nicht gern sieht. Hauptsache, daß sich jemand ärgert. Aus solchen und ähnlichen Gründen pflegt bei uns nationale Begeisterung zu entstehen. Würde Poincaré heute sagen: Kinder, vereinigt euch!, so würden die selben Leute wahrscheinlich schleunigst eine Abwehrorganisation bilden. Die Karre ist verfahren.
Etwas Unerhörtes, Niedagewesenes begibt sich in diesen Tagen: die diplomatischen Vertretungen der Vereinigten Staaten von Amerika in allen Hauptstädten der Erde stehen unter verzehnfachtem polizeilichen Schutz. Denn der Name der Mutter aller europäischen Demokratien ist über Nacht odios geworden, odioser als der Zarismus je in der Blüte seiner Sünden war. In Paris, London, Berlin, Buenos Aires, überall wachsen Proteste zu Demonstrationen und morgen vielleicht zu Gewalttaten. Der Fall Sacco-Vanzetti, die Beharrlichkeit der Oberrichter, an einem von den besten Juristen der Welt als Fehlspruch bezeichneten Todesurteil festzuhalten, hat die moralische Reputation der Vereinigten Staaten in wenigen Tagen ruiniert. Liberty trägt eine Henkerfratze, und die hocherhobene Fackel wird zur Todesfackel ihrer eignen ruhmvollen Vergangenheit. Auf dem ganzen Erdenrund bäumen sich die Herzen gegen die Vollstreckung eines Todesurteils an zwei Schuldlosen. In New York, in Baltimore krachen Bomben; die Polizei ist bis auf die letzten Reserven aufgeboten; ein Heer von Detektiven hat das Landhaus des Präsidenten zerniert. Der Versuch desperater Freunde der beiden Verurteilten, die Staatsorgane durch Terror einzuschüchtern, ist heroisch, aber ganz sinnlos. Eine empfindlichere Obrigkeit, eine zartnervigere Justiz mag dadurch geschreckt werden. Doch der amerikanische Staat ist gesund und glaubt an sich; er hat ein vorzügliches Gebiß und hält in seiner jugendfrischen Roheit den Elan seiner Schneidezähne für sittliche Qualität. Keine Skepsis bohrt in ihm wie in den alten Plutokratien Europas. Er glaubt an seine Mission, die heutige soziale Ordnung zu schützen, und an die Verdienstlichkeit, Ketzerei und Zweifel daran auf dem elektrischen Stuhl verzucken zu lassen. Die Bilder zeigen den Urheber des Skandals: den Gouverneur Fuller, als rundlichen, energischen Herrn, mit freiem Blick und wohlentwickelten Kauwerkzeugen, Das Erschreckende ist, daß dieser Mann wohl keinen Augenblick daran denkt, wie entsetzlich er handelt; die beiden Proletarier, seit sieben Jahren todgeweiht, seit sieben Jahren täglich und stündlich des letzten Weges harrend, mögen ihn keine Minute ernsthaft gestört haben. Keine Furche geheimer Angst hat sich in das glatte gutrasierte Fett dieses Gesichts gekerbt. Die Verurteilten sind anders geartet, sie leugnen das Eigentum; der Herr Gouverneur zählt sie nicht zur Menschheit. Vielleicht sind sie sogar unschuldig? Was tut es? Tötet sie alle, Gott kennt die Seinen! Das Klassengefühl hat alle andern Empfindungen und Erwägungen erstickt. Die Richter der ganzen Welt sollten heute in Washington interpellieren, es ist ihre Sache, um die es geht, denn was die amerikanische Justiz hier verbrochen hat, das wird ein Mal an der Justiz aller Reiche der Welt geahndet werden. Wenn sich ein Mal das Arbeitsvolk des ganzen Erdkreises erhebt, so wird es auf seinen Bannern die geweihten Namen Saccos und Vanzettis vorantragen, und im Namen Saccos und Vanzettis wird der Sklavenaufruhr der Zukunft die Justizpaläste in Trümmer legen. Auch das kämpfende Proletariat hat seine heiligen Märtyrer, auf Goldgrund wird es die Köpfe Saccos und Vanzettis verehren, wie die junge Christenheit in den Katakomben ihre Gekreuzigten und Gevierteilten. Als die Wächter in die Zelle Saccos und Vanzettis traten, um ihnen mitzuteilen, daß ihr letzter Einspruch verworfen, lagen die Beiden hingestreckt auf ihre Pritschen und schliefen. Sieben Jahre haben sie gewacht, Sekunde für Sekunde den Tod erlitten. Nun liegen sie entspannt und schlafen. Zwei Helden von der großen Art: der leidenden. Als sie in diese Zelle kamen, kannte niemand ihre Namen. Heute gibt es kein Dorf, wo man die nicht kennt, und in den letzten Winkel hinter der Welt dringt klagend eine Ahnung von der Unendlichkeit des Leidens der Beiden. Unter einer Kruste von Gleichgültigkeit und Habgier regt sich ein gemeinsames Gewissen, Scham vor sich selbst wühlt die Menschheit auf. Zwei kleine Soldaten der Freiheitsarmee haben das vollbracht. Jetzt liegen sie auf die Pritsche gestreckt, in der traumlosen Versunkenheit erfüllter Pflicht, einerlei, ob das Erwachen Freiheit oder Ende bringt. Die Wächter stoßen sich an, tuscheln und gehen auf Fußspitzen hinaus. Sacco und Vanzetti schlafen. Sacco und Vanzetti dürfen wieder schlafen.
Die Weltbühne, 9. August 1927