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In der alten ›Täglichen Rundschau‹ trieb ein Balte namens Stein sein Unwesen, der als Parlaments-Chroniqueur »A« das Spülklosett in die politische Polemik eingeführt hat. Heute fabriziert der Mann unter dem Pseudonym »Rumpelstilzchen« Berliner Briefe, die durch irgend eine Matern-Korrespondenz verbreitet an einige Hundert Provinzblätter gehen. Da steht so eine Schilderung vom Presseball:
»Meine größte Freude ist aber doch der rote Genossinnentisch ... gewesen, wo ... Frau Reichstagspräsident Löbe, die zu solchen seltenen Gelegenheiten von Breslau herüberkommt, mit einem Messer die Mayonnaise zu den vielen russischen Eiern geschickt in den Mund zu löffeln verstand, ohne sich zu schneiden. Das ist nicht leicht. Aber man lernt's, wenn man schon im achten Jahr zur regierenden Kaste gehört. Einmal hat ... Hindenburg sie als Tischdame bekommen und ihr nachher korrekt die Hand geküßt. Das ist ihm von altmodischen Leuten verübelt worden. Aber warum denn? Soll er sich auf einmal anders benehmen, als er es schon als Kadett gelernt hat? Frau Löbe ist doch sonst eine kreuzbrave Frau; und es hat in der alten Armee keinen Hauptmann gegeben, der beim Kompagnieball nicht den ersten Tanz von der Frau Feldwebel erbat. «
Aber Rumpelstilzchen kann auch neckisch sein:
»In einem Parlament der Reichshauptstadt gibt es eine Parlamentarierin, von der man – als einziger ihres Berufes – wohl sagen kann: sie ist jung und schlank und knusprig. Auch aus guter Familie: ein Onkel war Generalleutnant ... Aber sie trug immer krankenschwesterhaft lange dunkle Kleider. Direkt zum Drauftreten. Ich habe schon manchmal gedacht: gebt mir sie für vier Wochen in Obhut, und ich mache einen entzückenden Schmetterling aus ihr. Und nun beginnt schon das Wunder der Entpuppung. Im Parlament macht alles Stielaugen. ›Sie‹ trägt ein kurzes Kleid! ›Sie‹ hat ja ganz wohlgeformte Beine!«
Rumpelstilzchen versteht sein Gewerbe. Neben den Frauen der »schon im achten Jahr regierenden Kaste« fühlt sich jede Bureauvorsteher-Stellvertreters-Gattin als Dame der großen Gesellschaft, neben der jungen Parlamentarierin jede in die Jugendfürsorge abgedrängte Frigidität als künftige Mondäne, die nur noch des Wunders der Entpuppung harrt. Über den Spender dieser Heiterkeiten kein Wort. Er schaltet dort, wo die Feder ihr Recht verliert, die Bezirke der Klopfpeitsche beginnen.
Den Ministerialräten geht es schlecht. Sie fühlen sich als Angehörige der Besoldungsgruppe XIII benachteiligt, weil die zu Weihnachten gewährten besondern Beihilfen nur bis zur Besoldungsgruppe XII, also bis zu den Oberregierungsräten, zur Ausschüttung gelangt sind. Dazu fürchten die Herren Ministerialräte weitres Unrecht durch Herrn Köhler, dem neuen Finanzchef, der aus der mittlern Beamtenkarriere hervorgegangen, für die höhern Gruppen kein Herz haben soll. Deshalb haben sich die Ministerialräte, zwohundert an der Zahl, dieser Tage zum Reichspräsidenten begeben, um ihm eine Denkschrift zu überreichen und auch mündlich über ihre Pariastellung Klage zu führen. So melden die ›Zeit-Notizen‹, die die amüsanteste und informierteste aller Zeitungs-Korrespondenzen.
Es ist ein Jammer, daß man bei sowas nicht dabei sein darf. Die Herren Ministerialräte herabgestiegen aus der Wolkenhöhe von Stufe XIII, demonstrierend wie janz jewöhnliche Arbeeter, Ministerial-Proletariat, das außer seinen Ketten nur noch den Gehrock zu verlieren hat – das ist ein Signal sozialer Revolution!
Die Weltbühne, 15. Februar 1927