Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Stresemann und Poincaré

Es gibt auch in der Politik eine ewige Wiederkehr. Scheinbar Erledigtes ist plötzlich wieder da. Diese vergangene Woche stand im Zeichen der Diskussion über die deutsch-französischen Beziehungen. Gespenster vergessener Kämpfe standen wieder auf. In den Leitartikelspalten rumorten Poltergeister von 1923. Wäre in diesen Tagen ein Minister zurückgekommen, der irgendwo ein dummes Nein mannhaft herausgeschmettert hätte, am Potsdamer Platz hätten sich die Zehntausende, der Straßenordnung spottend, gestaut, und hoch vom Verkehrsturm hätte ein ordenbehängter Würdengreis den Gefühlen Ausdruck gegeben, so in diesem Augenblick Allteutschland bewegen. Es kam aber niemand an, nur Herr Stresemann reiste still ab, um in Oslo die Police der Nobelversicherung für dauernden Frieden in Empfang zu nehmen.

 

Anlaß dieser Zusammenrottung nationaler Affekte war Herr Poincaré, der wieder einmal ein Denkmal eingeweiht und dabei eine Rede gehalten hatte, die nach Darlegung der ganz-, halb- und nebenamtlich tätigen Verteidiger unsrer Außenpolitik in der Presse geeignet war, in Deutschland als große Herausforderung empfunden zu werden. »Stresemann wird antworten; Stresemann wird dem alten Poltron nichts schuldig bleiben«, so las mans. Pazifistische Neophyten, denen das europäische Taufwasser noch frisch von den nationalen Posaunenbäckchen rann, hatten den feierlichen Akt schon ganz vergessen und schrien wieder: Nun aber Schluß mit Locarno! – So gings an die drei Tage. Bis Maximilian Harden, ganz unerwartet aus der Reserve tretend, in einem Brief an die ›B.Z.‹ mit einem höflichen Kratzfuß daran erinnerte, daß es zu einer Polemik gegen eine Rede doch notwendig sei, deren Text zu kennen. Um für eine so profunde Erkenntnis Stimmung zu machen, mußte der berühmteste deutsche Publizist sein Ansehen öffentlich in die Wagschale werfen. Ein lehrreicher Vorgang zur Beurteilung unsrer öffentlichen Meinung. Alles Verständigungsgerede kann nicht hindern, daß eine einzige falsche Meldung oder ein Verschweigen oder eine allzu beflissene Textbearbeitung die mühsam zitierten Friedensgeister wieder verjagen können.

Das reizt zur Karikatur, nötigt aber auch zur ernsten Frage: wie viele Blätter es eigentlich noch gibt, die sich nicht bei jeder Gelegenheit vom Auswärtigen Amt ins Schlepptau nehmen lassen. Gibt es noch eine unabhängige Presse oder nur noch Instruktion durch Pressekonferenzen? Hier schwanden auch innerhalb der republikanischen Zeitungen alle Nuancen; es gab keine Russophilen und Anglophoben mehr, es gab nur noch die eine wohlbekannte Einheitsfront, die nach den Erfahrungen seit 1914 das untrügliche Kennzeichen jeder großen Dummheit bildet. Alle republikanischen Redaktionen hatten plötzlich ihre Spezialliebhabereien vergessen, verfluchten den lothringischen Ruhestörer und waren sich einig, daß jetzt Briands Prestige in Frage gestellt sei, Poincaré die auswärtige Politik wieder in die Hand genommen habe und der Rückfall in die Ruhrpolitik vollkommen sei. Doch nirgends war zu lesen, was der vielbefehdete Denkmalsredner nun wirklich gesagt hatte. Zum Ersatz dafür aber erhielt man – natürlich gehört das dazu, um das Bild zu runden – die obligaten londoner Pressestimmen, aus denen sich entnehmen ließ, daß der französische Ministerpräsident ein unbelehrbarer Starrkopf sei, in seiner chauvinistischen Verblendung eine Gefahr für Europa: wieder habe er Deutschland sozusagen mitten im Frieden überfallen, und niemand empfinde das lebhafter als die englische Öffentlichkeit, die die Erregung Deutschlands durchaus begreife. Solches und ähnliches wurde prompt gekabelt.

Als dann, dank Hardens wirkungsvoller Intervention, sich schließlich der Eine oder Andre für den Originaltext zu interessieren begann, ergab sich, daß sich Herr Poincaré keine chauvinistische Rodomontade geleistet hatte, sondern redlich bemüht gewesen war, den neuen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Der angebliche Haßgesang erwies sich als Verständigungsrede. Daß das Organ des alten Herrn nicht für Stresemannsche Tenorpartien geschaffen ist, weiß man. Nicht jedes Land ist so glücklich, über einen Außenminister zu verfügen, der zugleich ein Sänger und ein Diplomat ist. Was Poincaré sagte, war als Konzession an einen neuen Geist gedacht, aber es kam schartig und verknurrt heraus. Wir haben immer betont, daß Poincaré, obzwar von nationalistischer Grundrichtung, dennoch als trockener Realist und in Ermangelung jedes abenteuerlich romantischen Einschlags stets unbedingten Respekt vor Tatsachen empfindet – auch vor pazifistischen. Als er im vorigen Jahr wieder Premierminister wurde, hatte sich Briands Versöhnungspolitik in Frankreich durchgesetzt, und der angebliche Exponent des Kriegsgeistes hat nicht ein einziges Mal versucht, das Steuer herumzureißen; seine Aufgabe war die des Finanzsanierers und an die allein hat er sich gehalten. Vielleicht lag in dieser Beschränkung sogar eine gewisse Pose, ein wenig gespielte Selbstentsagung: Seht, ich bin nicht nur der nationale Trompeter, ich bin der Mann der stillen, unerbittlich sachlichen Arbeit! Das liegt jedoch auf einer persönlichen Linie und berührt uns deshalb hier nicht. Festzuhalten bleibt nur die große Entschlossenheit, mit der das gegenwärtige Frankreich, das Frankreich nach dem Ablauf der Blockherrschaft, das nicht mehr links ist und noch nicht rechts, an der Verständigung festhält. Locarno, auch für den politisch denkenden Deutschen etwas schwer Bestimmbares, Wunsch und Aussicht mehr als Abschluß alten Streites, bedeutet für Frankreich eine Tatsache. Die bewährt sich so stark, daß auch dieser Premierminister mit der kriegerischen Vergangenheit ihr seine Reverenz erweist. Er ist als alter Advokat ganz Wirklichkeitsmensch, er verbeugt sich nur vor dem, was ist. Einerlei, ob es ihm gefällt.

Das sollte man in Deutschland nicht übersehen. Und deshalb war das Entrüstungsspiel in vergangener Woche, der künstlich arrangierte Alarm unter Verhüllung des Tatbestandes eine unerhörte Frivolität. Bemerkenswert und aufrüttelnd nur als Probe aufs Exempel. Es entzieht sich unsrer Kenntnis, was zur Zeit in der Bendler-Straße gesponnen wird. Aber die geistige Mobilisierung klappt noch immer.

 

»Stresemann wird antworten.« Selbstverständlich wird er. Wenn Einem irgendwo eine Rede aus dem Mund gelaufen ist, kann er nicht Abstinenz üben. Er braucht auch eine Herausforderung, um sich vor den rechten Bundesbrüdern zu rehabilitieren. Die sind ihm furchtbar bös, weil er aus Genf nichts mitgebracht hat als ein Kompromiß über die Ostfestungen. So mußte es als Abschlagszahlung wenigstens eine dröhnende Fanfare geben.

Dazu war die außenpolitische Debatte vorgesehen. Und jetzt das wohlbekannte Bild: nach Geflüster über mögliche Krisen die nichtssagende Erklärung der Regierungsparteien, vorgetragen dies Mal vom Prälaten Kaas aus Trier. Dann die Oppositionsredner: Breitscheid etcetera. Sie sind glücklich, daß ihr Gegner für sie Politik macht und geben diesem Glück rückhaltlos Ausdruck. Breitscheid witzelt etwas ... Kleine kritische Knallerbsen; aber er schießt nicht ab, legt seine Munition gleichsam auf den Tisch des Hauses; die Abgeordneten stehen herum und freuen sich über die Dinger. Nichts geschieht. Stresemann, der innerhalb der Koalition viel Ärger hat, erlebt wenigstens an seiner Opposition Freude.

Aus dem Rahmen fällt nur eine sehr würdige Rede des Abgeordneten Grafen Bernstorff. Eine völkerbundgläubige Rede, bei der nicht die Opportunität als Patin stand. Über gewisse Widersprüche kann auch Bernstorff nicht hinweghelfen, aber hier spricht ein klarer, sauberer Kopf, dem es nicht auf Schönrednerei ankommt, weder auf Silberstreifen noch auf zerbrochene Kanonen, sondern ein alter Berufsdiplomat, dem man nicht so leicht ein X für ein U vormacht. Sehr eindringlich klingt seine Warnung vor den Folgen der schwarzen Rüsterei.

Und wieder empfindet man einen Wandel der Zeit. Wie lange ist es her, daß man über das heikle Thema kaum in vertrautesten Kreisen sprechen durfte? Heute berührt ein alter Liberaler wie Bernstorff die Frage wie etwas ganz Selbstverständliches, ohne daß Entrüstungsausbrüche einsetzten oder Herr Geßler sich etwa aufgeregt zum Wort meldete. Wir »Landesverräter« haben doch eine große Pionierarbeit geleistet. Das von uns zu Tage geförderte Material wird auch von den mildesten Demokraten nach Belieben verwendet. Hüten wir uns sorgfältig vor dem Hochmutsteufel. Nichts ist gefährlicher in Deutschland als gegen alle Ressourcen der nationalistischen Politik einer Wahrheit dennoch zum Durchbruch verholfen zu haben.

 

Bernstorff hat sehr schlicht und eindringlich gesprochen. Stresemann dagegen wappnet sich wieder mit den prunkhaftesten Stücken aus seinem rhetorischen Arsenal. Er muß wieder aus allen Fenstern zugleich sprechen. Er muß für die Rechte allerschärfste nationale Töne finden, darf aber andrerseits die linken Reserven nicht verstimmen. Komisch, dieses Mosaikbild. Er muß so grelle Farben nehmen, wie Hergt verlangt, aber zu grell, nein, das würde wieder Frankreich mißfallen; dämpft er aber zu stark, dann würden Die drüben sagen, daß die Mischung zu matt ist, und sie werden die Drohung belächeln. Man braucht nicht zu sagen, daß unser gewandter Stresemann es auch dies Mal allen recht gemacht hat. Die Einen lobten die Entschiedenheit, die Andern die kluge Nuancierung in den entscheidenden Partien. Alle zusammen das hohe staatsmännische Verantwortungsgefühl des beliebten Nobelpreisträgers.

Was aber die Attacke gegen Poincaré angeht, auf die alle Welt mit Spannung wartete, so hat dieser glänzend ripostiert: Er hat nämlich auf eine Antwort verzichtet. Stresemann hat buchstäblich ins Leere geredet: der Feind war nicht da. Der Feind hat die außenpolitische Debatte bis zum Herbst vertagt. Deutlicher kann man seinen Friedenswillen nicht dokumentieren, deutlicher nicht sagen, daß es zu nichts führt, wenn die Staatsmänner Deutschlands und Frankreichs sich mit rhetorischen Zweikämpfen die Zeit vertreiben. Stresemann hat dank Poincarés Verzicht das letzte Wort gehabt; aber dieses Wort klang scharf und deshalb nicht gut. Mit neu bestätigter und getätigter Friedlichkeit begibt sich Herr Poincaré in die Sommersaison. Was für Anstrengungen es ihn gekostet haben mag, ihn, den Beredten, die Schleusen der Beredtsamkeit bei solcher Lockung geschlossen zu halten, mögen die Götter wissen. Aber der saure alte Herr war dies Mal nicht nur klug, sondern von wirklich witziger Überlegenheit.

Die deutsche Presse aber findet kein Sterbenswörtchen von Anerkennung dafür. Sie ahnt nicht einmal den Humor der Sache oder will ihn nicht ahnen. Und vergebens sucht man in den Zeitungen eine Andeutung davon, wie man eigentlich jetzt in England über Poincaré denkt.

 

Die Camelots du roi haben ihren Führer Léon Daudet aus dem Kerker geholt, in dem er bei Champagner und Austern schmachtete. Die Befreiung geschah auf sehr heitre Art, und die Öffentlichkeit lohnt den Streich mit homerischem Gelächter, während die geprellten Hüter des Staatsapparats trauern. Am nettesten ist bei der ganzen Geschichte, daß die Camelots nicht nur ihre eignen Leute, sondern auch einen politischen Gegner, nämlich den Kommunisten Sémard, mitgenommen haben. Kann man sich das in Deutschland vorstellen? Würde Herr Ehrhardt etwa Max Hölz mitgenommen haben, wenn er in der Zelle nebenan gesessen hätte? Im günstigsten Fall würde er ihn unterwegs auf der Flucht erschossen haben. Glückliches Volk, wo selbst die düsterste Reaktion geistige Grazie hat und mehr Witz als anderswo die radikalen Männer, die alles umstürzen wollen.

Die Weltbühne, 28. Juni 1927


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