Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Der letzte Liberale

Das Foreign Office schickt Sir William Tyrrell, der während der letzten Jahre sein leitender Mann war, als Botschafter nach Paris. Sir William war der Einpeitscher der anti-russischen Politik, der Inszenierer der Polizeiaktion gegen die russische Handelsvertretung, der Urheber aller Maßnahmen, die endlich zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen führten. Das Intrigennetz dieses Diplomaten reicht um die ganze Welt; er ist der wahre Gegenspieler Tschitscherins, nicht der korrekte Chamberlain, und er setzt eine böse, alte Tradition fort, die heute nicht an wachsendem Gewissen, sondern an Mangel an Begabungen langsam ausstirbt.

Die Aufgabe Tyrrells in Paris ist nicht so sehr, wie besorgte deutsche Zeitungen vermuten, die Verständigung zwischen uns und Frankreich zu hintertreiben, sondern Frankreich in den antirussischen, den antidemokratischen Block zu spielen, der England die Herrschaft über den Kontinent sichert. Die erste Leistung soll die Versöhnung Frankreichs mit Mussolini sein. Der Augenblick der Sendung Tyrrells ist raffiniert genug gewählt. Die französische Linke durch Uneinigkeit erschüttert; kein cartel de gauche steht mehr hinter einem pazifistischen Außenminister. Und in Moskau selbst zwingt neu ausbrechende Not zu äußerster Bescheidenheit. Hunger über Rußland, Verwirrung – vielleicht bald Verzweiflung. Wieder sieht das Foreign Office die Zukunft der Sowjets als Fragezeichen.

Das Torykabinett erwartet seinen Sturz. Auch in England wird wahrscheinlich noch in diesem Jahre gewählt werden. Arbeiterpartei und Liberale werden mit neuem Programm, mit neuen Verheißungen von Frieden und Wohlfahrt siegreich in Westminster einziehen. Deshalb heißt es für die Nochregierenden rechtzeitig vorbauen. Als vor vier Jahren das Kabinett MacDonald vor der Tür stand, leitete Lord Curzon sehr kulant seine Politik in die zu erwartende Richtung der Nachfolger. So viel Generosität ist von Chamberlain, Churchill, Birkenhead und den Andern nicht zu erwarten. Im Gegenteil, sie entwickeln kurz vor Torschluß eine unheimliche Initiative. Sie schaffen in aller Eile die Tatsachen, an denen sich die Nächsten wundstoßen werden. Das ist unzweifelhaft die fatalste Seite des parlamentarischen Systems, daß auch die jämmerlichste, die diskreditierteste Regierung noch dem Wollen der Erbin die Grenzen abstecken kann. Auch wir in Deutschland werden das bald fühlen, o hochgemute Opposition!

 

In seinem Buch über den Ursprung des Krieges schildert der alte Asquith die Zusammenkunft zwischen Sir Edward Grey und dem amerikanischen Botschafter Page am Nachmittag des 4. August. Und Sir Edward Grey, der »warmaker«, der rote Belial der deutschen Unschuldspropaganda, jammert recht kindlich über den Zusammenbruch der Zivilisation:

»Er saß in charakteristischer Haltung: die Ellenbogen auf die Seitenlehnen des Stuhles gestützt, die Hände unter dem Kinn gefaltet, den ganzen Körper erregt vorgeneigt, suchte er mit den Augen die seines amerikanischen Freundes ... ›Doch müssen wir bedenken, daß es zwei Deutschlands gibt. Da ist das Deutschland der Männer gleich uns – der Männer wie Lichnowsky und Jagow. Und dann das Deutschland der Männer der Kriegspartei. Die Kriegspartei hat die Oberhand gewonnen.‹

An dieser Stelle füllten sich Sir Edwards Augen mit Tränen.

›So sind die Bemühungen eines Menschenlebens für nichts dahin. Ich empfinde wie ein Mensch, der sein Leben vergeudet hat.‹«

Also Edward Grey, der in der deutschen Propaganda als Mephistopheles Kostümierte. Es wäre überhaupt lohnend, aus den Selbstzeugnissen der damaligen Minister festzustellen, wie viel an jenem 4. August 1914 in den europäischen Kabinetten geweint worden ist. Selbst der angeblich frostige, kaltschnäuzige Grey war aus der Fassung geraten und erging sich in larmoyanten Beteuerungen. Bethmann redete schluchzend und händeringend auf Goschen, den englischen Botschafter, ein. Berchthold, der Ausgekochteste von Allen, krümmte sich vor irgendwelchen Devotionalien in Tränen und Gebet.

 

Auch der alte Asquith war ein ausgesprochen schlechter Staatslenker für Kriegszeiten. Ein Besonnener und Ausgleichender. Diese Politiker der guten Mitte können bestenfalls nur Defaitisten sein, niemals aktive Beender des Krieges. Selbst während der höchsten Blüte der Gott-strafe-England-Konjunktur entsinnt man sich keiner schoflen deutschen Karikatur auf ihn. Teils weil Greys Hakennase und blaue Brille die zeichnenden und schreibenden Pamphletisten mehr reizte, teils weil der Mann wirklich zu wenig Anlaß bot. Die Wahrheit ist, daß Gott das kriegslustige Albion mit einem Premier ohne Fünkchen Perfidie gestraft hatte, mit einem klugen, noblen Skeptiker, der den Krieg als Mittel verabscheute, allerdings auch keines wußte, um mit ihm fertig zu werden.

Herbert Henry Asquith, jetzt hochbetagt als Lord Oxford gestorben, ist eine allzu sehr englische Gestalt, um auf dem Kontinent richtig gewürdigt zu werden. In summa findet man ihn in Deutschland zu schwach. Richtig, daß er den Krieg weder gewollt, noch verhindert, noch beendet hat. Nein, er war nicht stark im deutschen Sinne. Und doch muß der sehr gebildete Mann einer lautlosen Energie fähig gewesen sein, die keine großen Worte macht. Schließlich war er der Premier des Kabinetts der Sozialreformen und des populären Budgets Lloyd Georges, gegen das alle Geldsäcke putschten. Schließlich hat er jene Reformen durchgedrückt, die das Oberhaus zu einem Altertumsmuseum degradiert und der endgültigen Befreiung Irlands den Weg geebnet haben. Es war wenige Monate vor Kriegsausbruch, als der Kampf um Homerule gefährliche Formen annahm. In Ulster predigte der Ultra-Jingo Sir Edward Carson die offene Rebellion. Das Offizierkorps begann – für England unerhört – zu politisieren und reichte, unterstützt vom Kriegsminister, einem Militär, Adressen gegen Homerule an den König ein, und George V. sympathisierte offen mit den erregten Herren von der Garde. Da kam der gutgezielte Hieb des liberalen Ministeriums. Der meuternde Kriegsminister wurde kurzerhand in die Versenkung geworfen, und der Premier, der freundliche, milde Herr Asquith, Prototyp des Zivilisten, übernahm selbst das War Office, und der Aufruhr war zu Ende. In Deutschland, wo das Bürgertum grade die Blamage von Zabern hinter sich hatte und der alte Oldenburg-Januschau soeben unter dem Applaus allerhöchster Herrschaften dem Parlament den berühmten Leutnant mit den zehn Mann auf den Hals gewünscht hatte, stierte man fassungslos auf diese ganz ohne Krach vor sich gegangene Lösung. Wie groß die staatsmännische Leistung des, wie gesagt, so ganz unenergischen Asquith war, kann man vielleicht heute erst ermessen, wo die deutschen Demokraten und Sozialisten vergeblich versuchen, die paar der Republik gebliebenen Divisionen, die alle Ansprüche der Grande armée guillaumienne übernommen haben, der Konstitution und der Kontrolle des Parlaments unterzuordnen. Was für Britannias soliden Liberalismus ein Federstrich war. In seinem obenerwähnten Buch (Der Ursprung des Krieges. Verlag für Kulturpolitik, München, 1924) ergeht sich Asquith sehr ausgiebig und nach unsrer Meinung sehr überschätzend über den Baron Marschall, den frühern Staatssekretär und spätern Botschafter in London. Er meint, daß Marschall der einzige deutsche Diplomat gewesen wäre, der den Krieg hätte verhindern können, aber nach diesen etwas übertriebenen Lobsprüchen fährt er ganz dürr fort: »In allem Wesentlichen der Politik und Staatskunst waren seine Ansichten von dem eines englischen liberalen Ministers so weit entfernt wie die Pole voneinander.« In Fragen der innern Politik sieht der englische liberale Staatsmann also keine Brücke zu einem aufgeklärten deutschen Konservativen. Und mit einem deutschen Liberalen von damals wäre es ihm ohne Zweifel nicht anders ergangen.

 

Und heute?

Englands Liberalismus ist ein galvanisierter Leichnam, einmal noch aufgepulvert durch die allgemeine Oppositionsstimmung gegen die Mißwirtschaft der Tories und durch die federnde Kraft des überlebensgroßen Konjunkturisten Lloyd George, der einen britischen Sowjetismus sicherlich ebenso stilgerecht bedienen könnte wie früher den rüden Nationalismus der Khakiwahlen. Nein, dieser Liberalismus führt nur noch eine Scheinexistenz. Es spricht nicht dagegen, sondern dafür, daß sich die Liberalen neuerdings mit unsrer Demopartei in einem sympathischen Komplimentenaustausch befinden. Zwei Tote auf Urlaub, die sich gegenseitig ihr gesundes Aussehen bestätigen. Die wirtschaftliche Realität hat diesen Liberalismus zum Untergang verurteilt. Jahrzehntelang hat er, in England und anderswo, das politische Selbständigwerden der Arbeiterklasse für eine verdammenswerte Marotte gehalten und immer heimlich gehofft, daß sich das schließlich doch noch von selbst geben werde. Der Schwerkapitalismus hat die Bürgerregimenter schrecklich dezimiert. Es gibt keine Citoyens mehr. Die Reichgebliebenen sind Bourgeois geworden und Reaktion – die Andern sind Angestellte, Arbeitnehmer, die ihre Stunden absitzen, sich freudlos durch die Woche werken, von den brutalen Zufälligkeiten der Konjunktur die Lohnskala hinauf-, hinabgeworfen. Wie trübe klingt Diesen die Botschaft von Manchester ...

So starb der letzte Liberale vereinsamt. Der Freundeskreis hatte sich verzogen, nach rechts, nach links. Vor vierzig Jahren hat Asquith begonnen als Verteidiger von John Burns, dem Führer im großen Dockarbeiterstreik, den er mit Mut und überlegenem Witz dem Gericht entlotste. Im Sommer 1926 das letzte Aufflackern: eine banal zeternde Manifestation gegen die streikenden Bergarbeiter. Zwei Daten, die mehr bezeichnen als Aufstieg und Sinken eines Lebens, sondern das einer großen, einst herrschenden Bewegung: helle lustige Fanfare am Morgen und bei Einbruch der Nacht ein müdes, glaubenloses Veto gegen den Geist einer andern Zeit.

Die Weltbühne, 21. Februar 1928


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