Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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»Die Bahn, die uns geführt Lassalle«

Das ist das alte Bundeslied der Sozialdemokratie, jahrzehntelang gesungen von treuherzig gläubigen Massen, in die gelegentlich die preußische Polizei sordinierend einbrach; heute eine Pièce für beruhigten Männergesang, aus der Du ebenso wenig erregende Erinnerung heraushörst wie aus dem Niederländischen Dankgebet das Hellebardengeklirr der Geusen, wenn es etwa von einem evangelischen Jünglingschor vorgetragen wird. Wohin die Bahn einstweilen geführt hat, das sehen wir seit geraumer Zeit, über den Beginn aber wissen wir etwas mehr, seit ein geduldiger preußischer Aktenschrank, jäh zusammenbrechend, die zwischen Bismarck und Lassalle gepflogene Korrespondenz hergegeben hat. Nicht nur ein alter Schrank ist geborsten, auch ein sonst noch leidlich intaktes Heldenbild hat einen Sprung bekommen.

Bismarck und Lassalle, ein heikles Kapitel. Man kann es nicht so abtun, daß man einfach sagt, die Beiden wären ja lange tot und mit dem Ehrendiplom der Nachwelt [in] die große Rangloge der Weltgeschichte eingegangen. Denn in ihren Schöpfungen wirken ihre Kräfte noch weiter, und ihr Zweikampf ist noch lange nicht beendet. Es wäre ganz gewiß unsinnig, die Herme Ferdinand Lassalles tiefer stellen zu wollen, weil der Mann mit dem Volksfeind freundliche Grüße getauscht hat, aber ganz anheimelnd ist die Geschichte nicht, und die Sozialdemokratie befindet sich etwa in der Position jener Enkelin der Georges Sand, die am liebsten die Tugend ihrer amoureusen Großmutter durch einen verspäteten Gerichtsbeschluß rehabilitieren möchte. Natürlich konnte Lassalle bei aller divinatorischen Gabe den spätern Bismarck nicht vorausschauen; er unterhielt sich ja schließlich nicht mit der Phantasiefigur der patriotischen Historik von 1910, nicht mit dem Roland vom Elbberg, sondern mit dem preußischen Ministerpräsidenten der Konfliktszeit, einem stockreaktionären Junker, der grade daran war, sich seine innenpolitischen Nöte durch einige gewagte außenpolitische Manipulationen vom Halse zu schaffen. Diesem rücksichtslosen, streitsüchtigen Reaktionär gab der mit den Demokraten verfehdete Radikale ein paar Tips, wie die gemeinsamen Feinde am besten in der Flanke zu fassen. Solche private Fühlung zwischen Vertretern extremer Gruppen, die sich sonst unter den Linden nicht grüßen, hat es immer gegeben; siehe: Seeckt und Tschitscherin. Lassalle, der Parteigründer, ist nicht über die Anfänge hinausgekommen, aber seine historische Leistung umfaßt doch mehr, bedeutet doch die Entdeckung und Erweckung einer ganzen Klasse: des Arbeiterstandes, diesem Riesenspielzeug der Bourgeoisie, dem er das Losungswort zuwarf. Wie mit einem Mosesstab schlug er auf hartes Gestein, und frische Quellen rieselten, er ahnte Kanaan mitten in der Wüste. Nicht der politische Zweck ist bei dem Versuch der freundlichen Tuchfühlung mit dem Feinde verwerflich: der Gesamtton dieser Schreiben und die zwischen den Zeilen lauernde Ambition hat etwas Degoutantes. Eine überlebensgroße Eitelkeit tastet sich an die andre heran; nicht nur der bedenkenfrei spekulierende Politiker, der Gesellschaftslöwe, der Snob versucht eine aristokratische Eroberung, versucht sie in einem raffinierten Stil, der nicht einfach Schmeichelei ist, aber so wirkt durch die geschickte Art, dem Andern eine Rolle zuzusprechen, die dieser gar nicht wünscht. Denn nichts wünschte der Bismarck der sechziger Jahre weniger, als der Vollstrecker der radikalen Ideen des Herrn Doktor Lassalle zu werden. Wo er sie später aufgriff, bedeuteten sie ihm nur einen Schachzug, den man später zurücknehmen kann. Das freie Wahlrecht hat er dann oft zu allen Teufeln gewünscht, und auch von den Sozialreformen spricht er in der intimen politischen Beichte seiner Erinnerungen nur so kühl wie von einem Geschenk, das besser unterblieben wäre. Man ist sich bei jenem Lassalle, der sich an Bismarck heranmacht, nicht recht klar, ob er ein politisches oder ein gesellschaftliches Ereignis vorbereitet. Man hat bei diesen Briefen das Gefühl, einen abgleitenden Menschen zu verfolgen. Diesem Ehrgeiz genügen nicht mehr die Arbeitervereine, er sucht nach neuem Feld und tappt langsam in die Tragödie hinein. Ein paar Jahre später ist sein Intimus Lothar Bucher Bismarcks willfährigste Kreatur. Das Schicksal des an die Macht Verkauften. Hier rechtfertigen keine geheimen moralischen Reservate. Nach Lassalles Tode gerät der Arbeiterverein in kläglichste Zerrüttung. Sein Nachfolger Johann Baptist von Schweizer wird, gewiß zu Unrecht, wie auch Franz Mehring annimmt, verdächtigt, Bismarcks Agent zu sein. Mißtrauen zerfrißt die kleine Gruppe. Ferdinand Lassalle ist zur rechten Zeit für seinen Ruhm gestorben.

Macht läßt sich nicht erschleichen. Heute befindet sich die Sozialdemokratie, wenn auch mit viel gröberm Schuhzeug, wieder auf der Bahn, auf der selbst ein Lassalle schließlich ausgleiten mußte. Um nicht eigenbrödlerisch zu sein, wirklichkeitsfremd oder dogmatisch, oder wie es die liberale Presse sonst nennen mag, setzt die Sozialdemokratie Namen und Ansehen für eine schwache Regierung ein, obgleich heute schon mindestens die Hälfte der Genossen im Lande dies Beginnen für lichterlohen Wahnsinn hält, der in kurzer Zeit den großen Maisieg verbrannt haben wird. Die glänzenden Strategen werfen mit Lassallezitaten um sich, um ihren Realismus durch einen notablen Zeugen zu erhärten. Aber wie ungeheuer ist auch hier der Abstand! Der Realsinn dieses Mannes ging trotz alledem auf ein Jahrhundert, der seiner Epigonen klammert sich an das kurze Dasein eines Kabinetts. Es gab, nachdem die vielberedete Große Koalition zerschellt war, nur die eine Möglichkeit: ein Minderheitskabinett, ein rein sozialistisches Kabinett mit einem weitgesteckten und propagandistisch wirksamen Programm. Das hätte auch die Kommunisten endlich einmal vor eine nützliche Entscheidung gestellt. Wäre auch die Lebensdauer dieser Regierung kurz gewesen, ein solcher Akt hätte Achtung erzwungen. Grade wer den Parlamentarismus bejaht, muß auf so saubere Klarstellungen halten. Wenn unser Parlamentarismus nicht funktionieren will, liegt es nicht an der leidigen deutschen Zwietracht, sondern weil alles durch Kompromisse und Spekulationen verschmuddelt ist. Dies sogenannte Kabinett der Köpfe ist ein fauler Ausweg. Lassen wir ruhig gelten, daß die teilhabenden Herren alle Köpfe sind – jedenfalls sind ihre Hände gebunden und an ihren Füßen hängt die Partei mit Zentnergewicht. Nur die Sozialdemokratie hat liebenswürdigerweise verzichtet, ihre Herren zu binden: sie läßt das lieber von der Volkspartei mitbesorgen.

So hat der Auftakt der Regierung nur höchst blamable Mißerfolge gebracht. Bei der sehr unerquicklichen Amnestiedebatte ließ sich die sozialistische Fraktion von einem kommunistischen Dutzendgeschimpfe zu einer gouvernantenhaften Würdegeste bewegen; doppelt peinlich, weil die Partei, von einigen auf dem linken Flügel stehenden Anwälten abgesehen, bisher für die Amnestie wenig getan hat. Einzelne linksbürgerliche Blätter und Politiker haben hier viel mehr geleistet. Niemals hat die Sozialdemokratie vergessen können, daß die meisten der Eingekerkerten Linksradikale sind. Hier gab immer das Ressentiment den Ausschlag. Zugegeben, daß Herr Geschke nur abgestandensten agitatorischen Kohl aufwärmte – warum platzte nicht ähnliche Entrüstung, als bei der Debatte um die Lohnsteuer Herr Doktor Becker-Hessen als Sprecher der mitregierenden Deutschen Volkspartei für seine Ablehnung eine Sprache bevorzugte, die sich von der des Kommunisten nur um einige Bildungsgrade unterschied? Es ist kein Ruhm dabei, daß sich Hilferdings sehr bescheidene Vorlage, die der ›Vorwärts‹ zu einer sozialreformatorischen Tat großen Kalibers aufbläst, nur mit Unterstützung der Hitlerfraktion durchdrücken ließ, die dafür noch tapfer höhnte. Diese Regierung kann nicht gehn, und sie sollte ihre schüchternen »Rührt-Euch!«-Bewegungen von ihren Freunden nicht als Siebenmeilenstiefelschritte ausposaunen lassen. Wenn dieser Gabelbissen einer Steuerreform schon so böse aufgenommen wird, wie soll es erst im Herbst werden, wenn Herr Hilferding die ganze Mahlzeit servieren will?

Der Nationalfeiertag. Auch hier eine mit Getöse angekündigte Aktion, deren offene Niederlage nur durch Aufschub verhindert wird. Wieder sind es zwei zu den Herrn Köpfen im Ministerium gehörige Fraktionen, die nicht mitspielen: die Deutsche Volkspartei und die Bayrischnationalen. Daß grade die Deutsche Volkspartei gegen den elften August als Nationalfeiertag Rücksichten auf die Erntearbeiten geltend machte, ist gewiß der beste Witz dieser salzlosen politischen Saison. Man denke sich diese Industriepartei, diese Partei der Generaldirektoren und Syndici, fromm um das Gedeihen des vaterländischen Getreidebaus besorgt! Gustav und Käthe Stresemann auf dampfender Ackererde, gottergeben das Haupt gesenkt beim Angelusgeläut ... welch schönes Stück längst vergessener Heimatkunst! Ach, keine Partei ist von so trauter Idyllik weiter entfernt, selbst der venerable Kahl sät nur Paragraphen, und allein um Herrn Scholz, den obersten Fraktionsbullen, weht ein würziger Ruch von frischem Frühstücksheu ... Es gibt wichtigere Dinge als den Nationalfeiertag, alles, was mit der Symbolik dieses republikanischen Staates zusammenhängt, ist lange verfahren. Es gibt eben nur einen Gedenktag, der Massen entflammen könnte: den neunten November, den Tag, an dem Kaisertum zusammenbrach und der Krieg endete. Die Beschränkung auf die Verfassungsfeier bedeutet schon eine faustdicke Konzession an das Ordnungsbürgertum, dem bei dem Gedanken an Revolution die Haut schauert und das viel lieber als einen Bastillensturm die Grundsteinlegung einer Bastille feiert. Herrn Stresemanns Republikaner aber konzedieren nicht einmal den milden elften August; sie wollen nicht, daß man die Republik unnütz im Munde führt. Am besten ist, man spricht gar nicht davon.

Jedenfalls möchte man der Reichsregierung dringend raten, nachdem sie bisher mit so viel Glück manipuliert hat, lieber die Vorlage ganz zurückzuziehen, sonst bekommen wir am Ende doch noch den achtzehnten Januar als Nationalfeiertag aufgebrummt. Man erlaubt sich weiter zu fragen, was denn nun eigentlich im Herbst geschehen wird, wo alle die einstweilen in den Schrank gestellten Sachen wieder hervorgeholt werden sollen, und gar, wenn die Volkspartei auf ihrem Panzerkreuzer besteht, weil ihr das Landleben auf die Dauer zu langweilig wird. Der Zufall der Jahreszeit ermöglicht der Regierung, alle Fragen mit Ferien zu beantworten. Die Sozialdemokratie aber sollte die Sommermonate zur Überlegung benutzen, ob es nicht am besten wäre, gleich zu Beginn der Herbsttagung einen Herrn vorzuschicken, um nach dem berühmten Beispiel des kleinen Theaterdirektors zu erklären, daß wegen Unpäßlichkeit des alten Moor die Vorstellung leider nicht stattfinden könne. Von allen denkbaren Lösungen noch die am wenigsten desperate. Rideau, Rideau!

Die Weltbühne, 17. Juli 1928


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