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Wenn ein armer Irrer die Fassade des berliner Doms hinaufklettern will und irgendwo kläglich hängen bleibt, kommt die Feuerwehr und holt ihn herunter.
Die Transozeanflüge, die aviatischen Versuche, den Nordpol zu erreichen, sind häufig nicht viel sinnvollere Unternehmungen. Die Expedition des Generals Nobile war aerotechnisch vielleicht einwandfrei, aber es zeigte sich, daß für die immerhin mögliche Notlandung die Ausrüstung versagte. Die meisten Teilnehmer sind Südländer, und mit Staunen las man, daß sie nicht alpinistisch vorgebildet, nicht einmal Skiläufer sind. Man muß in Betracht ziehen, daß diese Expedition trotz allen Versicherungen nicht wissenschaftlichen Zwecken dient, sondern ein fascistischer Propagandaakt ist. Nobile und seine Leute sollen Zeugnis ablegen für den Heroismus des unter Mussolini regenerierten Italiens. Der Fascismus wollte den Nordpol stürmen wie seinerzeit Fiume.
Die Natur läßt sich nicht mit Elan bluffen. Der Ballon scheiterte im Nebel. Die Besatzung, in mehrere Kolonnen getrennt, treibt auf dem Eis. Tagelang glaubt niemand mehr an Rückkehr. Zugleich aber werden die Spezialisten des nördlichen Eismeeres lebendig. Sie lassen sich interviewen und künden Hilfsexpeditionen an. Amundsen wendet sich nach Amerika an Ellsworth, seinen Finanzier. Ein Wettlauf der Hilfstruppen scheint bevorzustehen. Da kommen die ersten schwachen Hilferufe der Verunglückten, und mit einem Mal wird die Corona der Spezialisten skeptisch. »Die ungünstige Jahreszeit ...« »Kein Schiff kann jetzt herankommen ...« »Für Flieger kein Landungsplatz ...« Etcetera. In Kingsbay tut sich ein kleines Polarparlament auf. Ja, man disputiert über »Maßnahmen« im Tempo einer Parlamentskommission, wo jede Stunde entscheidend sein kann. Amundsen erklärt, Ellsworth sei uninteressiert. Unwidersprochen geht die Meldung durch die Welt, daß Rijser Larsen vergeblich mit einer deutschen Gesellschaft verhandelt habe, um geeignete Flugzeuge zu mieten. Umsonst, die Forderungen waren zu hoch ... Wahrscheinlich sollten die Ehrenpforten für Hünefelds dabei herauskommen. Endlich dampfen die Hilfsschiffe ab.
Ein ganz besonderes Stück leistet sich das berliner ›8-Uhr-Abendblatt‹, das grade in den Tagen, wo Nobiles Hilferufe immer matter und verzweifelter werden und seine Familie den rasenden Schmerz in Gebeten ertränkt, eine Artikelserie Amundsens bringt, die ein wütendes Geschimpfe auf den italienischen Konkurrenten in der Nordpolbranche enthält. Man fragt sich, wie eine solche Roheit möglich ist. Hat der Herr Redaktor den Text wirklich gelesen oder sich damit begnügt, in jeder fünften Zeile zu spationieren, in jeder zehnten zu fetten, ohne sich den Inhalt einzuverleiben? Mindestens hätte der Parität halber gesagt werden müssen, daß Amundsen, der große Roald Amundsen, in einem Land nicht geschätzt ist, und das ist Norwegen, und daß es überhaupt ein Land gibt, wo man vom Nordpol nicht viel hält, und das ist wieder Norwegen. Denn die Herren von Oslo und Bergen sind Kaufleute von etwas trägem, altem Schlag, und Roald Amundsen hat sich in Europa und Amerika eine beträchtliche Gerissenheit angeeignet, die von seinen Compatrioten wenig geschätzt wird. Daß die Beziehungen zu Nobile während der gemeinsamen Fahrt sehr unharmonisch waren, kann man sich vorstellen, denn Amundsen sah seine Lorbeeren durch die raffinierte fascistische Propagandatechnik geschmälert, und was sich in der Gondel der »Norge« zwischen den beiden Nordpolindustriellen abgespielt haben mag, für den sacro egoismo bei beiden wäre ein Schilderer wie Johannes V. Jensen notwendig ...
Für die nächste Zeit aber möchte man gütlich vorschlagen, diese Expeditionen etwas zu stoppen. Hunderte von plastischen Schilderungen haben uns überzeugt, daß es dort oben sehr kalt ist, und seit den Bemühungen Amundsens und Andrer, wissen wir auch, daß der geographische Pol eine ziemlich ausgedehnte Wasserlache darstellt, deren Problemlosigkeit evident ist. Und es mag auch zu denken geben, daß der liebenswerteste aller Polarfahrer, daß Frithjof Nansen nicht umsonst sich auf der Höhe des Lebens einem bessern Material zugewendet hat als dem toten Eisblock: dem Menschen.
Die Weltbühne, 19. Juni 1928