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Seit zwei Jahren etwa gibt Hans Rothe im Verlag von Paul List das zeichnerische Werk Daumiers in schönen, fast sträflich billigen Einzelbänden heraus. Unser Lieblingsthema, der Vorwurf gegen das teure deutsche Buch, trifft hier nicht zu. Ein Quartband von 64 makelfreien Tiefdruckreproduktionen für fünf Mark, das ist eine hochachtbare Verlegerleistung.
Der neue Band heißt »Daumier und die Justiz«, und enthält damit Wichtigstes aus des Künstlers Schaffen, denn als der klassische Karikaturist des Richtertisches und des Barreaus ist er vor allem auf die Nachwelt gekommen, die erst spät sein malerisches Werk entdeckt und den zeichnenden Journalisten zu den großen Meistern der Farbe gezählt hat.
Daumier ist immer wieder hinreißend. Welch eine grenzenlose Phantasie und welch eine Fülle von Formen steht dieser unermüdlichen Hand zu Gebote, das innerlich Geschaute zu halten. Diese Karikatur ist überlebensgroß, ihr Grollen gewittergleich, aber die Hand hält Schritt mit der Vision, Gewolltes verliert sich nicht in ungefüllten phantasmagorischen Konturen – die barocke Ausschweifung der Linie mündet jedes Mal in klassischer Präzision am Ziel. Es bleibt ein Wunder, wie ein einzelner Mensch durch vierzig, fünfzig Jahre das leisten konnte, Tag für Tag. Schon rein manuell bleibt diese Arbeit rätselvoll. Das Schwarz-Weiß dieser Blätter leuchtet und beschämt eine immer wieder mit dem Wandel des Zeitgeschmacks verblassende Koloristik. Hängt ein paar Blätter davon in einen Saal mit durchschnittlicher Malerei – arme Malerei!
Honoré Daumier blühte in der Zeit des Bürgerkönigstums und des zweiten Napoleonismus. Seine Themen sind, seiner journalistischen Pflicht entsprechend, lokalgebunden, und die Anlässe lange verfault. Seine Gesellschaftskritik erhebt die Objekte der Karikatur ins Riesenhafte. Die Anknüpfung war dabei ganz ungezwungen. Denn der französische Gerichtssaal ist – schon im Gegensatz zum deutschen – sehr laut, sehr bewegt. Prokurator und Verteidiger schreien sich verzerrten Maules an und gestikulieren wie irrsinnig. Immer wieder variiert er die Motive. Da ist der Präsident des Ausnahmegerichtes, siebenundachtzig Jahre, ein müder, alter Geierkopf, die Augen sind zugefallen – wahrscheinlich spricht der Angeklagte grade, nachher wird er, ohne die Augen zu öffnen, sein ›Schuldig‹ röcheln – ein Gespenst, das Gespenster produziert. Oder der Staatsanwalt, der die Hand auf die Brust legt: »Mit aufrichtigem Schmerz ...«, die kleinen Augenschlitze gehen nach oben, das Gesicht ist breit und flach, der Mund geöffnet, als entwiche ihm ein letzter Seufzer. Eine Totenmaske. Der Gipsabguß eines grade gestorbenen Gewissens. Lemurenhaft, vampirhaft sind sie alle. Schmutzig, wie Plastiken aus Koprolith. Alle Teufelsfratzen, alle verzerrten Ängste der Höllenstürze romanischer und flämischer Meister sind projiziert in die Tintensphäre der Magistrate und Justizpersonen. Manchmal spielt der Löwe gutartig, und Humor plänkelt um einen provokanten Bauch oder eine spitze Nase.
Daumier ist sehr alt geworden. Das bekannteste Porträt zeigt einen gerundeten festen Greisenkopf, etwas an Schopenhauer oder Goyas Altersbild erinnernd. Dieser Ausgang in ein ruhiges, arbeitsames Patriarchentum ist vielleicht das größte Wunder. Es gehört viel Kraft dazu, die Welt so zu sehen, ohne einmal der Versuchung nachzugeben, die Erfahrung der Augen mit einem schnellen Gurgelschnitt zu beenden.
Die Weltbühne, 28. August 1928