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Jedes Mal, wenn in Genf getagt wird, ist etwas los in Europa. Von der jetzt eröffneten Sitzung des Völkerbundsrates hatte man sich in Deutschland viel versprochen, erhoffte man doch eine Minderung der Besatzungstruppen, obgleich die Stellung der Regierung bezüglich der Kontrolle über den Abbau der Ostfestungen zeitweilig ein wenig konfliktlustig aussah. Westarps Freunde machten scharf, um auf diesem Wege die ersehnte außenpolitische Niederlage zu erzielen – jene außenpolitische Niederlage, die sich noch immer als die stärkste Triebkraft deutschnationaler Erfolge in der Innenpolitik erwiesen hat. Allerdings war eine Schlappe ziemlich sicher: seit Doumergues Besuch in London hat die englisch-französische Politik gegenüber Deutschland wieder eine gewisse Einheitlichkeit gefunden, die sich zunächst in frostiger Zurückhaltung äußert. Daß sich die deutschen Militärs der Besichtigung der geschleiften Ostfestungen durch Beauftragte der Besatzungsmächte so zähe widersetzen, ist auch nicht geeignet, das Vertrauen zu erhöhen.
Inzwischen sind die deutschen Fragen weit in den Hintergrund gerückt; ein größeres Schicksal als das der Steine von Küstrin wird jetzt ausgewürfelt. Die Ermordung des russischen Gesandten in Warschau hat die Temperatur in Osteuropa zur Unerträglichkeit gesteigert, und sollte selbst dieser Fall friedlich beigelegt werden, so bedeutet das noch gar keine Sicherheit selbst für die nächste Zukunft. Zwar hat der besonnene polnische Außenminister Zaleski sich bisher bemüht, Rußland diejenige Genugtuung zu geben, die es verlangen darf und im übrigen versucht, die begreifliche Überreiztheit Litwinows durch kluges Entgegenkommen zu entwaffnen. Die polnische Außenpolitik, die oft genug unter dem Druck eines zügellosen Chauvinismus stand, hat hier, das muß anerkannt werden, ihre erste Leistung für Europa vollbracht.
Die Lästerer Polens unter uns sollten sich fragen, was wohl schon geschehen wäre, wenn statt des verantwortungsbewußten Zaleski jetzt ein Vertrauensmann der Haller und Korfanty die Behandlung des Konflikts in Händen hätte?
Wenn auch das Ärgste nicht sogleich eingetreten ist, schließlich ist doch nur ein Aufschub erreicht worden und mehr nicht. England und Rußland haben die Beziehungen abgebrochen, ein Zustand, der sonst unmittelbar in den Krieg führt, dies Mal statt dessen in eine Wartefrist von unbekannter Dauer. Wenn in dieser Frist das moskauer Regime nicht zusammenbricht, wird Englands Geduld erschöpft sein und die Toryregierung zu neuen Schlägen ausholen. Zwar hat Rußland in China als bewegende Kraft einstweilen ausgespielt. Aber die Generale Cantons, die gestern noch mit ihm verbündet waren, sind heute wieder in siegreichem Vormarsch, bedrängen den alten Tschangtsolin und streben Peking zu, um dort die neue Ära der nationalen Freiheit zu verkünden. England aber will die Befreiung Chinas auf jeden Fall verhindern; es ist ihm dabei recht gleichgültig, ob diese unter russischer oder nationalchinesischer Fahne vor sich geht. Aber kann es schon China nicht niederzwingen, Rußland ist ihm erreichbar; an Rußland kann sein Zorn ein Exempel statuieren und eine mächtige Warnung aufrichten für alle Völker, die es sich einfallen lassen könnten, an den Säulen des britischen Imperiums zu rütteln. Hier sind noch die wahnwitzigsten Komplikationen denkbar.
Aber neben diesem großen, alles beherrschenden Konflikt gibt es noch einen andern, weniger beachteten: den an der Adria. Belgrad hat die Beziehungen zu Albanien, Italiens Satrapie, gelöst; ein Affront, der sich nicht gegen Valona, sondern gegen Rom richtet. Der Gegensatz zwischen England und Rußland ist verhängnisvoll, doch man weiß: hier stehen sich zwei Riesen in offener Feindschaft gegenüber – beide kennen ihre Stärken und Schwächen und hüten sich. Hier herrscht ein klares Verhältnis: die Häupter zweier Konspirationen stehen sich unmaskiert gegenüber und die erschreckten Satelliten drücken sich scheu zur Seite. Doch die an der Adria sind von irgendwem abhängig, irgendwem dienstbar. In wessen Interesse fechten sie, wer hält die Leine bald lockerer, bald fester? Und wen werden sie mitreißen, wenn sie, besinnungslos vor Zorn aufeinanderstürzen und nicht mehr zu halten sind?
Es ist also sehr viel los in Europa, aber nicht deswegen sind die Herren vom Völkerbundsrat zusammengekommen, sondern weil der Termin schon lange festgesetzt war. Viel lieber würden sie die Tagung abblasen, denn bei solcher Gelegenheit könnten immerhin einige Naseweise vom Völkerbund verlangen, seiner Bestimmung gemäß, als Mittler aufzutreten. Denn der Artikel 11 von dessen Satzung erklärt ausdrücklich: daß jeder Krieg oder jede Kriegsgefahr, möge dadurch eines der Bundesmitglieder unmittelbar bedroht werden oder nicht, den ganzen Bund angeht und daß dieser alle Maßregeln zur wirksamen Erhaltung des Völkerfriedens treffen muß; in diesem Fall hat der Generalsekretär unverzüglich auf Antrag eines jeden der Bundesmitglieder den Rat zu berufen; ebenso hat jedes Bundesmitglied das Recht, die Aufmerksamkeit der Vollversammlung oder des Rates auf jeden Umstand zu lenken, der die internationalen Beziehungen beeinflußt. – Das ist gesatzt, und wer macht nun davon Gebrauch? Eine Frage, die vor ein paar Tagen von der ›Frankfurter Zeitung‹ also beantwortet wurde: »In diesem Zusammenhang auf den Völkerbund zu verweisen, wäre banal. Gewiß, er ist da, er hat sich auch gelegentlich bei Kriegsgefahren als recht nützlich gezeigt. Aber bisher ist er nicht stark genug gewesen, um in Krisen einzugreifen, an denen Großmächte beteiligt sind.«
Entspricht diese Resignation wirklich der Meinung aller Völkerbundsfreunde?
Alarm in Moskau. Das Vaterland ist in Gefahr! Und zugleich, uraltes Abwehrmittel aller revolutionären Regierungen, wird der Terror proklamiert. Massenhinrichtungen. Anhänger des alten Regimes, seit Jahren vergessen hinter Gittern, werden herausgeholt und niedergemacht. Eine Barbarei und ein schwerer politischer Fehler. Wir vermerken das und erklären uns zu weitrer Aufregung darüber unfähig. Wir überlassen die Entrüstung jenen Ordnungsfreunden, die die Niedermetzelung der Rosa Luxemburg mit einem erleichterten ›Gott sei Dank!‹ aufgenommen haben. In dem einen Lande wird auf der Flucht, in dem andern von vorn erschossen; die Engländer beliebten dagegen, indische Aufrührer vor die Kanone zu binden. Andre Länder, andre Sitten.
Aber was dachten sich die Moskauer bei der Verhängung des Terrors? Wären die Exekutierten wirklich, wie behauptet wird, Agenten der frühern diplomatischen Vertretung Englands gewesen, so wäre damit nur erwiesen, daß trotz Diktatur und Tschekaregime im Herzen des Landes und fast unter den Augen der Machthaber noch immer Umtriebe möglich sind. Sollte damit aber Eindruck gemacht werden auf die Massen, so muß doch gesagt werden, daß Hinrichtungen sich noch niemals als geeignet erwiesen haben, ein Volk im Augenblick der Gefahr hinter seine Führer zu bringen. Im allgemeinen wird ein Schreckensregiment als Anfang vom Ende gedeutet. Das Moskauer Massaker hat nicht Furcht und Schrecken verbreitet, sondern, im Gegenteil, lange erledigte Zweifel über die Dauerbarkeit der Sowjetregierung wieder rege gemacht. Seit ein paar Tagen fragt man wieder, ob die Stabilisierung der Sowjets nicht doch Illusion sei und Rußland nicht vor neuen mächtigen Umwälzungen stehe. So eine Frage wäre vor zwei Wochen noch undenkbar gewesen. Heute erscheint alles wieder möglich ...
Revolutionärer Terror ist stets elementar gewachsen aus zwei Kräften: Begeisterung und Verzweiflung, die, obwohl Gegenpole, doch zum gleichen Ende trieben. Die Massenschlächter der französischen Revolution waren leidenschaftliche Patrioten; Uritzki, der 1918 von Sozialrevolutionären Ermordete, war Henker aus politischem Fanatismus, und Dsershinski, der Organisator des Schreckens, eine Torquemadafigur von dunkler Großartigkeit. Doch diese neuen Exekutionen kommen nicht aus einer blutstrotzenden Kraft, die sich ihre eignen Gesetze macht und mit der alten Zeit auch die alten Menschen zertritt, sondern aus einer verirrten diplomatischen Kalkulation. Sie wollen etwas demonstrieren und die Welt blickt auf und fragt erstaunt: was? Jeder sucht einen andern Sinn, jeder deutet anders und gemeinsam ist nur der Abscheu. Kann eine Demonstration schlimmer daneben geraten. Namentlich in England zuckt man ironisch die Achseln. Die zwanzig von der Tscheka Gewürgten werden Churchill nicht ein Frühstück verderben.
Man vergesse doch nicht: die terroristischen Maßnahmen werden nicht von einem blind wütenden Revolutionskomitee ergriffen, sondern von einer gesetzmäßigen Regierung, die obzwar auf diktatorischer Grundlage, sich doch in allen Äußerlichkeiten mehr und mehr denen der demokratischen Staaten angepaßt hat. Namentlich die Diplomatie sieht so aus wie jede andre Diplomatie auch. Und vergessen wir nicht: die heutigen Regenten Rußlands werden auch von zahlreichen Kommunisten, und grade von den Paladinen der Heroenzeit, nicht mehr als »echt« empfunden, ja, von den erbittertsten Oppositionellen ohne weitres der Konterrevolution gleichgesetzt, und in der Anhängerschaft Sinowjews mag mancher sein, der im geheimen Stalin und Rykoff als Verbrechern an der Revolution den Tod durch das Schwert der Revolution zugedacht hat. In der Tat, verglichen mit dem Rat der Volksbeauftragten, wie er aus der Oktoberrevolution hervorging, nimmt sich die heutige Regierung wie das Direktorium nach dem Wohlfahrtsausschuß aus. Revolution, die sich selbst gebändigt hat, konsolidierte, staatgewordene Revolution, die, wie aller Staat, andre Götter sucht als die, die seine ersten Bahnbrecher gelenkt haben, das ist Rußlands Zustand heute. Die heutigen Herrscher sind Kompromißler, und Kompromißlern glaubt man keine Blutorgie.
So bleibt nur eine ganz einfache Erklärung: sie haben die Nerven verloren, die starknervigsten Menschen der Welt. Jahrelang haben die Moskauer unerhört angespannt auf dem Posten gestanden, nicht weich in den Mitteln; aber sie haben sich auch selbst nicht geschont, sie haben geschuftet wie die niedrigsten Heloten und sich tausendfach ausgegeben. Und nun ist der Grad erreicht, wo der maschinegewordene Mensch nicht mehr mitkann: defekt. Tausend Hoffnungen sind zerflattert, tausend Pläne liegen zerfetzt. Moskau hat auf die Genossen in Europa gesetzt, und Die haben versagt – überall. Es hat auf China gesetzt, und China hat es abgeschüttelt. Überall haben die Bolschewiken für ihre Lehre gewühlt und gebohrt, und überall haben sie nur Aufruhr gegen sich selbst erzeugt. Sie haben den Kapitalismus einkesseln und abschnüren wollen, und heute sind sie selbst abgeschlossen und blockiert und verfallen der Psychose des Belagerten, der nach klammernder Depression in sinnlosen Ausfall stürmt. Sie haben an die bürgerliche Welt eine Konzession nach der andern gemacht. Ihre Wirtschaftspolitik biegt sich gemäß den Bedürfnissen der verhaßten westlichen Finanz. Aber ihre Anhänger sind überall geächtet, ihre Propagandisten Freiwild der Justiz; zwei ihrer Gesandten sind bisher ermordet worden, und rachsüchtige Emigranten harren wieder, wie in den Tagen der weißen Generale, ränkespinnend an den Grenzen. Das Bild hat sich seltsam gewendet. Aus der Weltverschwörung des Bolschewismus ist die Weltverschwörung gegen den Bolschewismus geworden.
In dieser Zeit jäh losbrechender Konflikte ist die innenpolitische Entwicklung Deutschlands sorgfältig zu beachten. Wachsende Reaktion bedeutet wachsende Neigung zu außenpolitischen Abenteuern und Ausschaltung kontrollierender Faktoren. Mag Stresemann mit Hilfe des Zentrums sich bemühen, die aggressiven Impulse der Deutschnationalen niederzuhalten, die Rechte ist es ihrem Ansehen bei der Wählerschaft schuldig, bei Gelegenheit ein kleines Feuerwerk abzubrennen. Bezeichnend für die steigende Energie der Deutschnationalen ist die Zurechtweisung des Herrn Josef Wirth durch den Reichskanzler Marx und die feierliche Bestätigung der Rüge durch die Leitung des Zentrumspartei.
Wenn man die republikanische Presse liest, hätte allerdings Wirth gesiegt. Wenigstens moralisch. Zieht man indessen die Rechtsblätter zum Vergleich heran, sieht die Erledigung des Zwischenfalls für Herrn Wirth weit weniger glorreich aus. Während die Linke zum Teil in dem parteiamtlichen Wischer nur eine formale Rüge sehen will, spricht die Rechte ganz offen von einer dem abgedankten Großwesir überreichten Seidenschnur. Das braucht selbstverständlich nicht wahr zu sein, denn die Rechte hat ein großes Interesse daran, die Bindung des Zentrums nach dieser Seite hin so fest wie möglich erscheinen zu lassen. Aber stutzig macht es doch, wenn man in Rechtsblättern liest, was die Linksblätter zum größten Teil zu erwähnen vergaßen, daß in jener Vorstandssitzung, in der Josef Wirths Rüffelung beschlossen wurde, nachher noch ein Punkt auf der Tagesordnung stand, nämlich: Bericht über die Einigungsverhandlungen mit der Bayrischen Volkspartei. Die Kundigen wissen es lange, daß das Zentrum nichts eifriger betreibt als die Wiedergewinnung der abgefallenen Brüder im Süden, und wer Die kennt, weiß, daß sie auch nach einer Verschmelzung nicht auf ihr bayrisches Fahnentuch verzichten, sondern es sichtbarlich aus dem Fenster des Parteivorstandes wehen lassen werden. Das Zentrum ist einstweilen auf eine resolute klerikale Politik eingerichtet und denkt gar nicht daran, das, was es sicher haben kann, durch eine Abschweifung nach Links zu gefährden. Herr Wilhelm Marx ist gewiß kein großes Kirchenlicht, aber noch immer energisch genug, um als Einpeitscher dieses Kurses prompt zu funktionieren. Und alle kuschen. Wo sind sie, die republikanischen Legionen des Zentrums? Wo steckt Herr Joos, der Mann mit dem zart geröteten Sozialethos? Wo sind die so radikal redenden Arbeitersekretäre? Schweigen um München-Gladbach.
Josef Wirth ist isoliert. Er spricht nicht für eine hinter ihm stehende Masse, sondern hält höchstpersönlich Monologe, flankiert von Sozis und Demoparteilern, die ihrerseits eine maßlose Angst haben, er könnte plötzlich in einem Anfall von Rappelköpfigkeit wieder seine Partei verlassen und etwa anderswo beitreten. Die Demokraten zittern bei dem Gedanken, die sechs Mandate, die sie bei der nächsten Wahl noch zu gewinnen hoffen, könnten durch einen neuen Anwärter bereichert werden. Und die Sozialdemokraten, die für ihre Führerschaft seit langem den numerus clausus eingeführt haben, sind für einen so temperamentvollen Zuzug schon gar nicht zu haben. Eher fühlen sie sich gewiß imstande, eine ganze kommunistische Sezession zu verdauen als einen Josef Wirth. Vorüber die Zeit, wo die Partei der natürliche Sammelplatz für alles Rebellentum war. Herr Wirth, mit dem Makel der Disziplinlosigkeit behaftet, würde unter den sozialdemokratischen Skorpionen ächzend mit tiefer Sehnsucht an die Rutenstreiche des Zentrums zurückdenken.
Gewiß darf gegen einen Politiker nicht die Tatsache seiner Isolierung ausgespielt werden. Aber Josef Wirth ist ein Redender und kein Handelnder und als Redner ein Polterer und kein Kämpfer. Lob und Preis Jedem, der an den Gitterstäben der Partei rüttelt. Wenn Exkanzler Wirth auszubrechen versucht und das Signal an Alle gibt, ein Gleiches zu tun, muß er wissen: zu welchem Ende. Hier hapert es. Das Gefühlsrepublikanertum, unter dem er einst seine rhetorischen Triumphe erfocht, langt nicht mehr. Es ist für heute zu wenig, republikanische Sammlung zu fordern. Man muß klar und deutlich sagen: wozu. Wir Alle, die wir vor sechs, sieben Jahren angefangen haben, die Republikaner aus dem Schlaf zu trommeln, wissen heute, daß man mit den Parolen von damals nichts mehr ausrichtet. Straßendemonstrationen und schwarz-rot-goldne Fahnen, Freiligrath und Paulskirchengeist – alles gut für eine erste Epoche des Mahnens und Weckens. Schön klingende Worte; Melodrama und nicht politische Verpflichtung. Der Kampf um die Republik ist heute ganz und gar ein sozialer Kampf geworden, in dem aller Farbenstreit wesenlos wird. Republikanische Sammlung heißt heute mit Stresemann, mit Silverberg und Duisberg gehen, heißt morgen vielleicht schon Seite an Seite mit einem von monarchistischen Illusionen befreiten deutschnationalen Flügel marschieren. Und dafür bedanken wir uns bestens. Wirth hat in seinem rednerisch stärksten Augenblick gesagt: die Stunde der Gefahr werde ihn an der Seite der Arbeiterschaft sehen. Ein prachtvolles Wort, aber die Gefahr ist für die Arbeiterschaft eine andre als für Wirth. Für Wirth ist die Gefahr da, wenn Westarp eine dumme vaterländische Bravade rasselt, für die Arbeiterschaft ist die Gefahr, daß ihr ein aus Monarchisten und Republikanern paritätisch zusammengesetztes Konsortium das Brot verknappt und ihre Lebensmöglichkeiten vermindert. Für die Wirth-Republikaner geht es um das Symbol, für die Arbeiter um die bittre Tatsache. Für die Einen geht es um die Heilighaltung des einen Verfassungstages, für die Andern um Licht, Luft und Nahrung für die übrigen 364 Tage. Das ist eine schmerzliche Diskrepanz im deutschen Republikanertum. Der Kapitalismus hat so gründlich gesiegt, daß er es gar nicht mehr nötig hat, sich mit den verschlissenen Wappentieren von Monarchismus und Militarismus zu schmücken. Es ist kein Kampf um die Fahne mehr, sondern ein tägliches, bittres Ringen ums Brot.
Wirths Gegner vertreten die schlechtere Sache. Aber vertreten sie mit der primitiven, ungebrochenen Logik des gesunden kapitalistischen Appetits, und deshalb sind sie die Stärkern. Vielleicht trennt Wirth nur eine kleine Spanne noch von der Erkenntnis, daß seine jetzige Opposition romantisch ist und die soziale Wirklichkeit nicht berührt. Vielleicht wird es ihm auch einmal gelingen, die Grenze zu überschreiten. Aber dann werden Die zuerst davonlaufen, die ihm heute zujubeln und den Ihren nennen.
Die Weltbühne, 14. Juni 1927