Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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1927

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Lob der Außenseiter

Vor Jahresfrist saßen ein paar Menschen in einem kleinen Klubzimmer zusammen und faßten den Beschluß, die im Parlament verfahrene Abfindungsfrage durch Volksentscheid zu lösen. Die große Presse erklärte die Leute sofort für verrückt. Ein paar Wochen später war die Fürsten-Enteignung Massenparole geworden. Ein paar Monate später war der Volksentscheid da, imponierend noch im Unterliegen. Heute haben die Hohenzollern ihr Geld, und Niemand spricht mehr davon. Typischer Verlauf einer Volksbewegung in Deutschland.

Niemals ist so viel wie jetzt von der Konsolidierung der Republik und der wachsenden Werbekraft des republikanischen Gedankens gesprochen worden. Dennoch geistert überall ein Unbehagen, peinigt die Zufriednen ein halb unbewußtes Mißtrauen. Dennoch bauscht das Gerücht jede Regierungskrise sofort zur Krise der Republik. Dennoch droht bei jeder innenpolitischen Komplikation sofort der Artikel 48, das Giftfläschchen in der innern Rocktasche der Verfassung.

Der liberale Demokratismus, in dessen Zeichen die sogenannte Stabilisierung sich vollzieht, erschöpft sich in der breiten Lobpreisung des Parlamentsstaates. Er sieht nichts Werdendes, verbeugt sich pietätvoll vor Vergangnem, ahnt nichts von einem Problem der Köpfe, geschweige denn von denen des Magens. Der böse Satz von Anatole France: »Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen«, kennzeichnet für immer die hohle sittliche Attitüde einer Demokratie, die nur in ihren Institutionen und für ihre Institutionen lebt. Hier aber ist die Grundlage der fortschreitenden Einigung zwischen Reaktion und mittelparteilichem Bürgertum. Sie finden sich auf dem Verfassungspapier der Republik. Finden sich in der unbedingten Ablehnung der Tatsache, daß selbst diese Republik revolutionären Ursprungs ist, daß es ohne den 9. November niemals einen 11. August gegeben hätte. Die bürgerliche Demokratie tanzt vor Wonne, wenn ihr der frühere – und jetzige? – kronprinzliche Nachrichtenoffizier Kurt Anker großmütig testiert, es habe 1918 wirklich keine Revolution gegeben, und Alles sei hübsch von selber gekommen. Deshalb keine Schuld, keine Anklage. Am Besten: gar nicht mehr davon sprechen. Das ist die neue Friedensformel: die endgültige Verankerung der Weimarer Demokratie im Sumpfe des Juste milieu.

Die Anerkennung dieses Zustandes nennt man Realpolitik. Zweifel daran wird als Ketzerei, Phantasterei, Nörgelei abgetan. Die großen Realpolitiker vergessen nur, daß auch die Wirklichkeit ihre eignen Illusionen erzeugt. Sie nehmen den Dunstkreis selbst zugesprochner Bedeutsamkeit für die Ausdehnung der Welt. Dem Ritual des »Erreichbaren und Möglichen« rückhaltlos hingegeben, halten sie die Grenzen eignen Denkens und Wollens für die Grenzen des Möglichen überhaupt. Wir fragen: Was haben die großen Parlamentspolitiker, die unerhörten Strategen der Opportunität, eigentlich erreicht? Wo sind denn die überzeugenden Resultate des langjährigen changez-les-coalitions? Die Gleichgültigkeit der breiten Massen am politischen Betrieb ist unbeschreiblich. Die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sind schärfer als jemals. Wehrmacht und Justiz frondieren. Die Hohenzollern haben ihre Millionen. Die Zensur ist wieder da. Das sind die Resultate.

Doch was wäre selbst das bißchen Konsolidierung, auf das immer so stolz gepocht wird, ohne die spornende und peitschende Kraft verhöhnter und gemiedner Außenseiter? Keine der später verwirklichten Ideen ist aus der Mitte der großen Parteien gekommen. Jeder nationalistische Aberwitz hat seine demokratischen und sozialistischen Satelliten gehabt. Es gab eine einheitliche Noske-Front, eine Cuno-Front, eine Geßler-Front. Es gab eine geschlossene Front gegen die Reparationen, gegen den Völkerbund, gegen die deutsch-französische Verständigung, gegen die schüchternsten Maßnahmen zum Schutze der Republik. Es gab Einheitsfronten gegen Alles, was heute als innen- und außenpolitischer Fortschritt und ragende Staatsmannsleistung gefeiert wird. Ohne ein paar beherzte Einzelgänger hätte es keine Aufdeckung der Femeschande gegeben. Keinen Sturz Seeckts. Keine hallende Kritik an Reichswehr und Justiz. Kein Locarno, Thoiry und Genf. Und selbst die excercierende und paradierende Selbstgefälligkeit des Reichsbanners, in vernünftigen Dosen ganz nützlich, wäre undenkbar ohne die stachelnde Laune einiger Unzünftiger, mit denen sich kein patentierter Republikaner, um Gotteswillen, auf eine Bank setzt. Alles mußte erkämpft werden: gegen die kompakte Majorität, gegen die Parteien, gegen das Parlament.

Heute ruhen die Stammgäste der guten Mitte wieder auf ihren Lorbeeren aus. Sie sehen das Erreichte an, finden es schön und dekretieren große Pause. Und wenn auch sonst weiter nichts stabilisiert ist, so doch der Kapitalismus. Auf Klagen von Unten antwortet der Harfenklang wohltemperierter Resignation: Dafür ist kein Geld da! Kein Geld für die Arbeitslosen, kein Geld für ein großes Wohnbau- und Siedlungs-Programm.

Die Außenseiter, ohne Sinn für das schöne Ebenmaß des »im Rahmen des Gegebenen Möglichen« und ohne Respekt vor der stillen Lyrik des parlamentarischen Handwerks, aber fragen: Zu diesem Effekt eine welthistorische Umwälzung? Deswegen soll einmal die rote Fahne über Deutschland geweht haben, damit ein paar Oberbürgermeister Minister spielen können, was schließlich auch unter Wilhelm sporadisch gestattet war? Enthält nicht der revolutionäre Ursprung der Republik auch eine revolutionäre Verpflichtung? Die Professionellen, die Wohlerzogenen und Bedächtigen haben das teils vergessen, teils bewußt unterschlagen. Den Männern der positiven Arbeit, der täglichen Kleinarbeit, der gutgeölten Routine, die schuldige Reverenz. Aber wenn es seit 1914 immer nach ihnen allein gegangen wäre, gäbe es heute kein Deutschland mehr.

Die Weltbühne, 4. Januar 1927


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