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Am Montag, dem 10. Januar beauftragt der Reichspräsident Herrn Doktor Curtius: »auf den Grundlagen der bisherigen Koalition, Gemeinschaftsarbeit mit der Deutschnationalen Volkspartei zu ermöglichen.« Die Deutschnationalen antworten sogleich: sie sähen darin den einzigen Weg zur Lösung, doch ruhe die Entscheidung beim Zentrum. Am Dienstag unterhandelt Westarp zum ersten Mal mit Curtius, lehnt aber jede bindende Äußerung ab, so lange nicht das Zentrum prinzipielle Bereitwilligkeit ausgedrückt habe, mit den Deutschnationalen zu arbeiten. Am selben Nachmittag erscheint Herr von Guérard bei Curtius. Hierauf vierstündige Beratung des Vorstandes der Zentrumsfraktion, unter Hinzuziehung des Herrn Wirth als Experten für republikanische Belange. Ergebnis: »schwere außenpolitische und innenpolitische Bedenken« gegen die Absichten des Herrn Curtius; dennoch soll der Entscheidung der Gesamtfraktion nicht vorgegriffen werden. Am Mittwoch faßt die Fraktion nach stundenlanger Debatte einen Beschluß, aus dem sich ergibt, daß sie die »Bedenken« des Vorstandes teilt. Am Donnerstag verhandeln Stresemann und Curtius mit Stegerwald und Guérard, die wieder ihre »Bedenken« geltend machen. Curtius erklärt, nochmals mit den Deutschnationalen sprechen zu wollen. Am Freitag konferiert Westarp zum zweiten Mal mit Curtius, der die »Bedenken« des Zentrums bekannt gibt und Übermittlung der deutschnationalen Antwort anbietet. Da endlich entschließt sich die Zentrumsfraktion, an Curtius zu schreiben, daß sie von seinen Bemühungen keinen Erfolg mehr erwarte, und Herr Curtius gibt seinen Auftrag zurück.
Das ist, chronologisch geordnet und unter Weglassung aller ablenkenden und vertuschenden Decorativa, die Geschichte der Mission des schwarz-weiß-roten Heidenpredigers Curtius an den Gestaden des schwarz-rot-goldnen Zentrums. Und erstaunlich ist nur, daß die Oberpriester der Fraktion fünf ganze Tage brauchten, um zu einer Absage zu kommen, daß sie, anstatt den Versucher mit exorcistischen Formeln zu bannen, sich jedes Mal nach Empfang der unheiligen Botschaft ins Innre des Tempels zurückzogen, um mit ihrem republikanischen Glauben zu ringen.
Herr von Loebell ist ein Letzter jener alten preußischen Konservativen, deren Stärke in der Diplomatie lag, nicht wie bei den Epigonen, in der Demagogie. Der erfolgreiche Wahlmacher Hindenburgs ist zwar überzeugter Royalist, wenn auch mit der gefühlsmäßigen Einschränkung eines langjährigen wilhelminischen Ministers. Ein vielerfahrener Zyniker jedenfalls, der, um das deutsche Volk kennen zu lernen, es, abweichend von Gustav Freytags berühmtem Ratschlag, nicht bei der Arbeit, sondern beim Politisieren aufgesucht hat, und dem man deshalb nichts vormacht. Dieser wetterfeste Realist hat die Deutschnationalen kürzlich offen aufgefordert, doch mit dem langweilig werdenden oppositionellen Getue Schluß zu machen und frisch zu Locarnesen und Republikanern in die Regierung zu steigen, um sie dann an die Wand zu quetschen. Da die Deutschnationalen grade in jenen Tagen durch ihren Pressechef in »Le Journal« einen ersten schüchternen Versuch vornehmen ließen, sich den Franzosen als allianzfähig in Empfehlung zu bringen, sie jedoch andrerseits nicht wünschten, mit diesem Trip ins Pazifistische vor ihren Wählern Staat zu machen, so kam ihnen Herr von Loebell höchst ungelegen, und sie fertigten ihn mit einem überaus schroffen Desaveu ab, in dem noch ein Mal alle Poltergeister der Intransigenz bellikos rumorten, während der nach Paris beorderte Friedensengel schon zum ersten Kußmäulchen die Lippen europäisch spitzte.
Herr von Loebell wird sich nicht schrecken lassen. Er weiß, daß ein beachtlicher Teil der Partei, die Landbünde voran, die bisherige Resistenz nicht mehr lohnend findet. Er weiß auch, daß mindestens die Hälfte der Deutschen Volkspartei nach gehorsamer Stabilisierung des Stresemannschen Außenprogramms durch die Linke keine Lust mehr nach Fortsetzung einer Gesellschaft verspürt, die mehr Not als Neigung hat entstehen lassen. Die Leute haben ihre Schuldigkeit getan und mögen sich trollen. Mag dem demokratischen Stimmvieh die Wahlzelle zum Schlachthaus werden – die Volkspartei wünscht sich möglich[st] weit weg von der innerlich zerfallenden demokratischen Nachbarin, die heute Stresemann für sich reklamiert, ihn den Executor »ihrer« Politik nennt und immer von neuem Versuche unternimmt, sich mit Hilfe der Großen Koalition zu erhöhen, so wie ein geschickter Stelzenläufer, mit ein paar Tüchern vermummt, im Unklaren lassen kann, wie lang oder kurz er eigentlich ist. Die Volkspartei denkt nicht daran, den Demokraten die Stelzen zu liefern. Sie sieht mit Sorge dem nächsten Wahlkampfe entgegen, wird ihn ganz gewiß nicht mit der Devise »Für Locarno, für Genf und Republik!« beginnen, sondern eine Kameradschaft von gestern ruhig den Wellen preisgeben, um sich selbst aufs Trockne zu bringen. Die Deutsche Volkspartei ist, unbeschadet der paar liberalen Vollbärte, eine Rechtspartei. Die schweifende Phantasie ihres Führers hat sie zu einer Odyssee verleitet, die gelegentlich in die abenteuerlichsten Regionen linksrepublikanischer Exotik führte. Heute ist die Fahrt beendet.
Schon lange hätte zwischen Deutschnationaler und Deutscher Volkspartei, ohne die rüde Tonart der Rechtspresse, Alles glatt sein können. Hier sind Empfindlichkeiten zu überwinden. Hier beginnt auch die freiwillige Sendung des Herrn von Loebell, und man mag mit Recht seine geschickten Bellachini-Finger in folgendem Arrangement sehen: Als Herr Stresemann neulich in Hamburg war, folgte er einer Einladung des jungen Fürsten Bismarck nach Friedrichsruh, wo er am Frühstückstisch – völlig überraschend natürlich – den Grafen Westarp fand! Wunderbare mise-en-scène! Die Manen des Eisernen Kanzlers zürnend um Stresemann, der mit der Demokratie gebuhlt hat. Aus dem nächtlichen Sachsenwald dröhnt die Stimme des Alten: Seid einig, einig, einig! Wunderbare Berechnung der Wirkung auf das Gemüt des zweiten Tenors von Dresden, der sich als Außenpolitiker zwar immer mehr in Grossisten-Mentalität hineingelebt hat, aber als Innenpolitiker stets der kleine Detaillist seiner Anfänge geblieben ist, der überall, ob im Genfer Luxus-Hôtel, ob in der betörenden Vegetation Italiens, die deutsche Eiche rauschen, die deutsche Kaffeekanne klappern, das deutsche Pique-Aß auf den deutschen Stammtisch knallen hört. Da der junge Bismarck-Enkel bisher weder gezeigt hat, daß er ein besondres Vergnügen an intrikaten politischen Situationen empfindet, noch, daß er mit dem Spleen eines alten Engländers behaftet ist, der sich lauter Gäste einladet, die sich nicht leiden können, so dürfte die Regie schon auf einen schärfer kalkulierenden Kopf zurückzuführen sein: auf den alten, oft erprobten Hexenmeister aus Pommern, dem immerhin schon das Kunststückchen gelungen ist, aus einem ruhebedürftigen General einen ganz vifen Präsidenten gemacht zu haben.
Kaum war vor vier Wochen die Marx-Regierung gestürzt, als sofort das Gerücht umging, der Reichspräsident beabsichtige, ein rechtes Minderheitskabinett zu bestellen, das nur die Aufgabe habe, den Reichstag aufzulösen und die Wahlen zu machen. In solcher parlamentslosen Zeit läßt sich von geschickten Leuten schon einiges ausrichten. Die nächstliegende Lösung wäre ein andres Marx-Kabinett gewesen, und wenn auch ein paar neue Prothesen die alte Carcasse nicht reizvoller gemacht hätten, so wäre es doch wohl wieder für eine Weile gegangen. Statt dessen wird, nachdem wochenlang Diktaturpläne um Scholz und Westarp gespukt haben, Herr Doktor Curtius ausersehen, eine Rechtskoalition zu schaffen. Und Herr Curtius, der in der volksparteilichen Fraktion und im Reichsministerium stets eine Art Flügeladjutant Stresemanns gewesen ist, beginnt seine Arbeit sogleich sehr konsequent, indem er erklärt, es drehe sich jetzt nicht mehr um die Große Koalition und ähnliche erledigte Sachen, sondern nur um die Gewinnung der Deutschnationalen. Demgemäß verfährt er: die Sozialdemokratie wird nur »unterrichtet«, und Erich Koch, der sonst überall dabei sein muß, schaltet sich diesmal, ärgerlich geworden, selber aus. Curtius aber geht so vor, als gäbe es überhaupt nur zwei Parteien: Deutschnationale und Zentrum. Man muß zugestehen, daß diese Taktik ihre psychologischen Wirkungen hat: das Zentrum wird sichtlich nervös und äußert gegenüber einem völlig undiskutabeln Vorschlag immer nur »Bedenken«, verzettelt sich von Montag bis Freitag in vielstündigen Beratungen, um schließlich nur eine flau stilisierte Absage zu produzieren. Curtius hat erreicht, der Zentrumsfraktion vorübergehend zu suggerieren, daß zur Zeit eine andre Bindung als solche nach rechts gar nicht denkbar sei, und da die Unterhändler der Fraktion, die Herren von Guérard und Stegerwald, auch im Ernst niemals etwas Andres gewollt haben, so hat Herr Curtius bei Scheitern seiner persönlichen Mission doch für einen Größern, einen Luther, Jarres oder Stegerwald selbst, ein beträchtliches Stück Vorfeld erstritten.
Augenblicklich bemüht sich Herr Marx wieder. Und in der gesamten Rechtspresse wird wie auf Kommando die Losung ausgegeben: auch die Vollmachten von Marx seien limitiert; auch Marx habe nur den Auftrag, Anlehnung nach rechts zu suchen, und übrigens werde die Deutsche Volkspartei in diesen Tagen förmlich beschließen, keiner Regierung mehr beizutreten, die von der Toleranz der Sozialdemokraten abhänge. Das steht bei Hugenberg, und braucht deshalb nicht wahr zu sein. Aber Tatsache bleibt, daß sich durch solchen Alarm der Ring der für die Regierungsbildung in Betracht kommenden Parteien dauernd verengt, und alle Eventualitäten nach rechts weisen.
Es besteht kein Zweifel mehr: der Reichspräsident möchte auf alle Fälle den Bürgerblock kreieren; die Kreise um Loebell, die in entscheidenden Momenten stets seine politischen Einbläser bildeten, bemühen sich, die Barrieren zwischen den Rechtsgruppen zu beseitigen; Stresemann ist schon völlig gewonnen, und nur das Zentrum ziert sich noch. Vergessen werden darf auch nicht, daß hinter allen Bemühungen für die Rechtskoalition Einer treibend und befeuernd waltet, von dem man in letzter Zeit nicht viel gehört hat: Herr Otto Geßler, der auf Geheiß der Sozialdemokraten über die Klinge springen müßte, wenn doch wider Erwarten ein Kabinett der Mitte mit Stützung von links zurückkehren sollte. Nach einer Meldung von sonst ausgezeichnet informierter Seite steht der Austritt Herrn Geßlers aus der Demokratischen Partei unmittelbar bevor – als Protest gegen die an ihn gerichtete Beschwerde Erich Kochs über den Schimpfartikel des Generals Reinhardt in der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹. Verläßt Geßler die Partei, die ohnehin nicht mehr die Absicht hat, ihn zu halten, und geht er zur Volkspartei, oder, wie auch vermutet wird, zur Wirtschaftspartei, trotzt er der Linken im Amt, so wird der Kampf um den Bürgerblock zugleich ein Kampf um Geßler. Die Bürgerkoalition rettet nicht nur Geßlers Ministerschaft, sondern sichert auch sein Werk, die Reichswehr, selbst vor den zagsten Reformen. So ist beiden Teilen geholfen, und leidtragend bleibt nur die Republik.
Das wäre also das Ende! ruft der Pessimist.
Nein!
Als Herr Silverberg im vergangnen Sommer an die Tür pochte, applaudierte das republikanische Lager. Als sich Herr von Loebell jüngst anmeldete, wurde er gleichfalls freundlich akklamiert. Napoleons berühmte Prophezeiung: »In hundert Jahren wird Europa entweder republikanisch sein oder kosakisch!« mag anderswo Geltung haben, auf Deutschland trifft sie in ihrer majestätischen Grundsätzlichkeit nicht zu. Hier, wo die synthetischen Talente überwiegen, ist man jetzt grade daran, aus diesen beiden Begriffen einen dritten zu mixen.
Die Weltbühne, 18. Januar 1927