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Die große Überschwemmung des Mississippi hat weite Landstrecken der Vereinigten Staaten verwüstet. Durch die notgedrungene Durchstechung der Dämme sind blühende Agrardistrikte ersäuft worden. Der Mann, der für diese harte Maßnahme verantwortlich ist, den die verzweifelten Farmer, die sich um Vergangenheit und Zukunft betrogen fühlen, mit Fluchen und Flintenschüssen begrüßten, ist Herbert Hoover, Amerikas fähigster Organisator. Ein Rücksichtsloser, gewiß, aber doch Einer, der auch Wunden heilen kann. Hat ihn Europa schon ganz vergessen? Weiß niemand mehr, daß in den Hungerjahren der Demobilisierung einige Staaten unsres Erdteils von ihm gelebt haben? Amerika ist heute als Shylock, als unbarmherziger Schuldeneintreiber verschrien. Eine freundlichere Erinnerung sollte lebendig werden. Was wäre damals aus den verelendeten Ländern der Kriegsverlierer ohne die amerikanische Hilfsaktion geworden? Ein paar Menschen bei uns haben sich erinnert und zur Sammlung für die amerikanischen Überschwemmungsgebiete aufgerufen. Der Appell blieb erfolglos. Ich weiß nicht, wieviel Blätter davon überhaupt Notiz genommen haben. Lieber Gott, wir sind ein armes Volk und können uns den Luxus tätiger Nächstenliebe nicht mehr gestatten ... Wir haben keine Kolonien mehr, man gönnt uns nur hunderttausend Mann Militär, die allerdings so viel kosten, als ob wir mindestens mit einem kleinen Nachbarstaat im Krieg lägen; wir müssen auch unsre abgedankten Fürsten standesgemäß ernähren und Pensionen zahlen für die glorreichen Führer des Weltkriegs, gleichsam als Reuegeld dafür, daß wir sie im Stich gelassen haben, grade als der ersehnte Sieg so freundlich gewesen war, zum Greifen nahe zu kommen. Zwischendurch wird allerdings ein unerhörter Aufschwung proklamiert, mit Feldherrnblick auf die Güter der Welt: Wir werdens schon schaffen! Jedenfalls wäre U.S.A. gegenüber eine kleine Gegenleistung für jahrelanges erfolgreiches Anschnorren recht nützlich gewesen. Hier ist eine selten günstige Gelegenheit verpaßt worden. Aber wir sind nun halt ein armes Volk. »Bitte die Spesenrechnung für die Reichswehr, Herr Geßler! Ein bißchen reichlich, was? Na, wird Alles prompt beglichen werden ...«
Revanche für Hankau. Haben Borodins chinesische Freunde den Engländern Ungelegenheiten bereitet, indem sie deren Konzessionen in chinesischen Hafenstädten besetzten, so nimmt Britannia jetzt Rache, indem sie in das Herz der russischen Konzession in London eindringt. Scotland Yard wird mobilisiert, und eine komisch erfolglose Haussuchung gefährdet seinen in zehntausend Kriminalnovellen bestätigten Ruf. Brave londoner Bobbies erbrechen die Tresors der Russischen Handelsgesellschaft und bepacken ein paar Lastwagen mit Aktenbündeln. Revanche für Hankau. Revanche, nicht planvoll ersonnen und gestuft, sondern der hörnertollen Wut entsprungen.
England hat bisher den Ruf genossen, zur Bewältigung aller Schwierigkeiten stets die geeignetsten Talente zur Hand zu haben. Von Disraeli bis Curzon eine ununterbrochene Reihe blanker staatsmännischer Begabungen, lauter große Umlerner, Überwinder eingekerbter Doktrine und übernommener Vorurteile. Ist Englands Fähigkeit, politische Köpfe zu produzieren, zeitweilig erschöpft? Fast scheint es so. Mindestens das Baldwin-Kabinett stellt sich als eine Kollektion temperamentvoller Unzulänglichkeiten dar. Birkenhead, Churchill und Joynson-Hicks, die Diehard-Minister, sind robuste Klassenkämpfer, deren Furor den ordnenden Verstand erstickt hat. Aber vielleicht ist die letzte Ursache der gegenwärtigen politischen Verwirrung Englands doch, daß kein großes Industrievolk mehr eine Regierung von konservativen Prinzipien ertragen kann, und daß andrerseits keine konservative Partei, mag sie selbst die erlauchte Vergangenheit der englischen haben, mehr imstande ist, ein Volk zu regieren, das sich in sozialer Gärung befindet. Die Konservativen mögen gut gewesen sein für Zeiten weltpolitischer Expansion, als es kaum eine Arbeiterfrage gab und das Proletariat noch treu und brav die Statisterie für die beiden großen Parteien stellte. Der Piratenklugheit der Vorväter eines Churchill verdankt das Imperium Ausdehnung und Macht. Vor dem jähen Wandel der Zeit ist die Klugheit verblaßt und nur die Piraterie geblieben. Und das genügt nicht mehr. Die Politik ist diffiziler geworden. Ausnahmegesetz gegen die Gewerkschaften, Einschränkung der Koalitionsfreiheit für die Arbeiter? Nicht das verbohrteste Industriesyndikat würde anderswo auch nur davon zu träumen wagen. Behandlung des russischen Konfliktes nicht nur mit Drohungen, sondern mit offenen Beleidigungen und Verletzungen exterritorialer Bereiche? Die Welt ist ja nach einer Reihe von Katastrophen so abgehärtet, und die schreienden Herren Minister mit ihrem riesengroßen Polizeiaufgebot erregen Lächeln, nicht Entsetzen. Vor etwa fünfzehn Jahren wurden in einem Hause des Londoner Elendsviertels Houndsditch ein paar bewaffnete Banditen von der Polizei belagert, und die illustrierten Blätter zeigten den damaligen Innenminister Churchill von einem beschützten Torweg aus die Operationen leitend. Damals wurde in der europäischen Presse diesem Ereignis mehr Raum gewidmet als heute dem Feldzug gegen die Roten.
Aber wenn man die Reden der Herren Minister liest: dies Trumpfen auf die Macht, dies dumpfe Herausstöhnen von Bürgersehnsucht nach Ruhe und Ordnung und problemloser Profitverdauung, dann wird man das Gefühl nicht los, dies Alles erst ganz kürzlich und im vertrauten Heimatidiom gehört zu haben.
Ist John Bull wirklich schon auf den Stahlhelm gekommen?
Um gerecht zu sein: ganz leicht haben es die Russen der englischen Regierung wahrscheinlich nicht gemacht. Vielleicht ist es ganz begreiflich, daß Baldwins Minister einmal aus der Haut fuhren, und als Politiker würde sie nur richten, daß sie nicht sofort wieder zurückgefunden haben.
Denn die Russen haben aus den Jahren ihres weltrevolutionären Dranges einige konspirative Neigungen bewahrt, Reliquien aus Sinowjews Propagandakiste, die den Spießer erschrecken und Moskau unnützerweise mit einem höchst gefährlichen Odium umgeben. Spionagezentralen hat auch der Zarismus unterhalten, aber das war für den Durchschnittsbürger mehr Sensationskitzel als drohende Wirklichkeit; den Sowjetvertretern aber traut man zu, die Bakterien der roten Revolution einzuschleppen. Rebellenstimmung im Proletariat: die City führt es nicht auf Arbeitslosigkeit und soziale Depression zurück, sondern auf den »Bolschewismus«. Hier täte Rußland richtiger, Ärgernisse zu vermeiden und sich auch agitatorisch die größte Reserve aufzuerlegen.
Wahrheit ist, daß Englands Arbeiterschaft durch Hungerlöhne und eine knutende Gesetzgebung in Verzweiflung getrieben ist. Wahrheit ist aber auch, daß Rußland noch in keinem Lande die Führung der Arbeiterschaft hat an sich reißen können. Rußland hat bisher zwei Revolutionen verpfuscht: die deutsche und die chinesische; dem blutigen Horthy hat Rußlands Emissär Bela Kun den Weg bereitet, und Rußlands Propaganda hat in Italien als Gegenbewegung den Fascismus reifen lassen. Rußlands Rolle als Erwecker und Ausstreuer von Gedankensaat soll und darf nicht bestritten werden, aber es hat bisher bei der Behandlung von Revolutionen eine ausgesprochen unglückliche Hand gehabt, und die von ihm geschaffenen kommunistischen Parteien der einzelnen Länder haben sich bisher ausnahmslos als schlechte Medien erwiesen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Moskauer mit einer K.P.E. mehr Freude erleben werden als mit ihrer K.P.D.
Aber auch Rußland leidet an der Zwiespältigkeit aller europäischen Politik von heute. Es ist nicht nur offensiv, sondern auch ruhebedürftig. Diese andre Seite, diese resignierende und elegische Seite seiner Politik zeigte sich in Genf. Ist es wirklich ein Prestigebluff Moskaus, wenn es durch seine Delegation von der kapitalistischen Welt die Anerkennung seines selbstgeschaffenen Wirtschaftssystems fordert? Nur ein isolierter und vielfach bedrohter Staat kann eine solche Forderung stellen; für ihn bedeutet die Anerkennung seines wirtschaftlichen Organismus nicht etwa ein Stück Papier oder Befriedigung einer Eitelkeit, sondern seine magna charta, sein Attest auf Lebensrecht in einer ganz anders gearteten Welt.
Die Häuptlinge dieses Völkerbundes aber wittern überall Überrumpelung. Sie sehen nur das brandrote Schreckgespenst, sie sehen nur die kommunistische Propaganda, die ihnen zu Haus jahrelang eingeheizt hat, aber sie sehen nicht, daß Rußland nach Europa zurück will. Erkennen sie dieses Werben nicht noch eben rechtzeitig, so wird die Geschichte über sie die gleiche Verdammnis aussprechen wie über jene Macht, die sich in entscheidenden Augenblicken den Zeichen der Zeit verschloß: – Deutschland auf den Haager Konferenzen.
Ein trauriger Vergleich. Traurig, daß ein solcher Vergleich noch immer möglich ist.
Die Weltbühne, 24. Mai 1927