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Die Propheten und Sibyllen des Moabiter Heiligtums hatten ihn uns als guten Richter geschildert, den Herrn Doktor v. Holten, vor dessen Kammer wir erschienen waren, um gegen ein Urteil des Schöffengerichts Berufung einzulegen. Ein bescheidner Anlaß nur: Erich Weinert hatte im vergangnen Sommer im ›Montag Morgen‹ ein satirisches Gedicht über die bekannten Vorfälle beim Besuch des Kreuzers »Hamburg« in Los Angeles veröffentlicht. Deshalb Strafantrag gegen den Verfasser; ich als damaliger verantwortlicher Redakteur mußte Gesellschaft leisten. Das Schöffengericht hatte die Lästerung fünfhundert Mark schwer gefunden.
Jetzt standen wir also vor dem Doktor v. Holten, der als Verfasser einer Broschüre gegen das Külzgesetz achtenswerten Bürgermut bekundet hat. Er spricht sehr gewählt, sogar etwas geziert und mit altfränkischen Wendungen durchsetzt. Aber sehr liberal. Hatte die Vorinstanz noch offensichtlichen Horror vor der Annahme gezeigt, ein Matrose könnte sich während eines Landurlaubs erotisch betätigen, so sieht der Vorsitzende der Berufungskammer einer Tatsache, die schon den Dichter der Odyssee beschäftigt hat und die bisher wohl nur von jenem Berliner Schöffengericht bestritten wurde, mutig ins Auge und supponiert ohne weitres, daß »ein Seemann an Land wohl irgend eine Schöne karessiere«. Das ist gewiß eine Sprache, die nach Lavendel und Gellerts Fabeln duftet; wir auf der Anklagebank aber, als Objekte der Justiz nicht verwöhnt, hören darin schon das Flügelrauschen eines modernen Geistes.
Doch plötzlich verfliegt das milde Aroma. Aus dem Idylliker wird ein bissiger, rechthaberischer Magister. Eine stichelnde und stochernde Dialektik sucht die Konzeption einer satirischen Verszeile zu zerlegen. Der feine, etwas altmodische Gentleman, der die Sitzung eröffnete, ist fort, geblieben ist nur ein gereizter altmodischer Jurist. Zwischendurch betont dieser Richter Familienbeziehungen zur Marine, erzählt, daß er selbst jahrelang Mitglied des Marineoffiziers-Gesangvereins gewesen sei, und da in dem inkriminierten Poem etwas von Syphon und Konkubine gestanden hat, so untersucht er diese mysteriösen Worte mit höchster Akribie. Syphon, so erläutert er mit einer Gewiegtheit, die sich nichts vormachen läßt, Syphon kenne er gut aus der Zeit, als er noch Gesellschaften gegeben habe; doch seit er durch die Inflation sein Vermögen verloren habe, könne er sich das nicht mehr leisten ... Was soll das im Gerichtssaal? Warum muß man sich solche autobiographischen Details anhören? Alle dürfen nur zur Sache sprechen: Angeklagte, Zeugen und Anwälte. Nur der Vorsitzende darf sich privatest verbreiten. Dieser hier wird beim Plaudern nicht gemütlicher, sondern immer bissiger, immer herrischer. Er droht einem Kollegen vom Pressetisch mit Hinauswurf, weil er Paul Levi, unserm Verteidiger, einen Zettel herüberschickt; er fordert Levi brüsk auf, diesen Zettel herzugeben, was der Anwalt sehr entschieden, aber mit einer Konzilianz, die den meisten der Herren Gerichtspräsidenten fehlt, ablehnt.
Der fahrplanmäßige Krach ist da. Paul Levi zieht die Berufung zurück, weil unter diesem Vorsitzenden eine Weiterverhandlung zwecklos ist.
So endete meine erste Begegnung mit einem bon juge. Ist denn auch im liberalsten Richter ein geheimer Niedner verborgen, der köpfen will? Mir sind die offnen lieber; man weiß von vornherein, woran man ist ... Gute Nacht, Herr v. Holten.
Die Weltbühne, 12. April 1927