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Das Wiesbadener pazifistische Wochenblatt ›Die Menschheit‹ veröffentlicht ein langes Dokument, dessen Inhalt dem belgischen Kriegsminister de Brocqueville bekannt gewesen sein soll, als er jüngst gegen Berlin vom Leder zog. Irgend ein schlichter Ehrenmann wird es ihm still in die Hände gespielt haben. Heute sitzt der Brave vielleicht wieder im Kreise projektebrütender deutscher Patrioten, vor sich das Stenogrammheft und im Geiste die Angebote fremder Agenten. Die Spione gehören zum militärischen Geheimbetrieb wie der Erpresser zum heimlichen Sünder. Um die kalte Mordatmosphäre der Militärkabinette lauert Lüge und Verrat, und wer die Wahrheit weiß, sage sie, sage sie im eignen Lande, ehe sie von schmutzigen Fingern transportiert auf dem Wege über die Grenze abermals zur Lüge wird.
Das Dokument der ›Menschheit‹ basiert auf einem Bericht über zwei Referate, die kürzlich in den Räumen des Flugverbandhauses am Schöneberger Ufer vor Mitgliedern des Marineflieger-Offiziersvereins gehalten wurden. Redner waren Rittmeister v. Freiberg-Allmendingen, Luftschutzoffizier der III. Division, und besonders Major a.D. v. Stephani, der berliner Stahlhelmchef. Unter den 30-35 Anwesenden befanden sich auch zwei Direktoren der Lufthansa. Diese Besprechungen finden in gewissen Zeiträumen statt, nach Darstellung der ›Menschheit‹ nimmt immer ein Reichswehroffizier teil, denn Zweck dieser Abende soll sein, die Reichswehr und die sogenannten nationalen Führerschichten in gemeinsame Ideenfront zu bringen.
Fassen wir die beiden Referate knapp zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Reichswehr hat seit 1923 gelernt und sagt deshalb der schwarzen Rüsterei Valet. Aus innenpolitischen Gründen müßten auch allgemeine Wehrpflicht und Miliz abgelehnt werden, weil man damit nur Sozialisten und Kommunisten bewaffne. »Die Armee muß aus einem einheitlichen politischen Guß sein. Hierin liegt einer ihrer bedeutendsten Überlegenheitsfaktoren gegenüber den auf der allgemeinen Wehrpflicht aufgebauten Armeen andrer Staaten.« Entscheidend wird in Zukunft Qualität, nicht Quantität sein. Also keine illegale Aufrüstung mehr wie früher, sondern offene Vertretung der deutschen Wehrinteressen beim Völkerbund: »Der Plan dafür ist im Reichswehrministerium schon vollständig ausgearbeitet, wobei natürlich fraglich ist, ob alles durchgeht, oder ob man sofort mit allen Wünschen in die Öffentlichkeit treten kann. Um sich den bestehenden internationalen Verträgen äußerlich anzupassen, basiert der neueste Aufrüstungsplan der Reichswehr – im Gegensatz zu allen früheren ähnlichen Plänen – auf dem 115 000-Mann-Heer (inkl. Marine). Diese 115 000 Mann sollen sich auch weiterhin auf 12 Jahre verpflichten müssen, davon aber nur drei Jahre aktiv sein und die übrigen neun Jahre als Reserve geführt werden. Damit hat die deutsche Armee auch weiterhin 115 000 Mann Friedensstärke, aber nach wenigen Jahren 345 000 Mann Reserven und damit eine Kriegsstärke von 460 000 Mann. Diese Armee von einer halben Million wird dann die am besten ausgebildete europäische Armee sein. Während also das jährliche Rekrutenkontingent der Reichswehr heute etwa 10 000 ist, werden nach dem neuen Plan jährlich 40 000 Mann eingestellt. Durch eine besondere Klausel glaubt man sogar, jährlich 10- bis 15 000 Rekruten mehr einstellen zu können, die dann nach etwa einjähriger Dienstzeit aus beruflichen Gründen oder aus Gründen militärischer Tauglichkeit wieder entlassen werden. Diese ›Einjährigen‹, etwa 100- bis 115 000 Mann innerhalb von 12 Jahrgängen, sollen dann im Mobilmachungsfall als Hilfstruppen verwendet werden, wo die militärische Ausbildung eine mehr untergeordnete Rolle spielt, z.B. als Munitionskolonnen, Etappenformationen, Hilfsmannschaften für technische Spezialtruppen, Heimatschutztruppen u.a.m. Das Reichswehrministerium glaubt in dieser Richtung am wenigsten Widerstand im Völkerbund zu finden, da das äußere Gesicht der militärischen Stärke gewahrt bleibt.«
Jetzt ergibt sich für den Projektemacher die sorgenvolle Frage, was aus den Leuten werden soll, wenn sie ihre drei oder vier Jahre aktiven Dienstes abgerissen haben. Denn es ist unmöglich, jedes Jahr 40-50 000 Mann in den Staatsapparat zu schieben, nur ein kleiner Teil könnte bei Post und Eisenbahn untergebracht werden. »Auch die Industrie wird etwas davon aufnehmen können, da sie Garantie hat, darin zuverlässige Arbeiter und Angestellte zu besitzen. 10 000 bis 15 000 Mann können so jährlich untergebracht werden, aber nicht die restlichen 20- bis 25 000 Mann. Für diesen Rest ist nun vorgesehen eine großzügige Ansiedlung ... in Ostpreußen, Pommern, der Grenzmark, Ostbrandenburg und Ostgrenze von Schlesien, wo die am dünnsten besiedelten Räume Deutschlands bestehen. Diese Ansiedlung muß reichsgesetzlich geregelt und festgesetzt werden und bildet einen festen Bestandteil der Vergünstigungen des zukünftigen Reichswehrsoldaten ... An eine Rückgewinnung des eigentlichen posenschen Gebietes denke niemand in der Reichswehr. Im Falle einer Rückgewinnung des polnischen Korridors würde die ganze dortige polnische Bevölkerung evakuiert und durch Deutsche ersetzt werden. Dasselbe gilt auch für Rückeroberung von Ostoberschlesien.«
Nach der Behauptung des Herrn v. Stephani ist die Deutschnationale Partei über den Organisationsplan unterrichtet und deshalb auch für die Weiterbeteiligung an der Reichspolitik zu großen Kompromissen bereit, um in Stille für die Heranbildung neuer militärischer Machtmittel zu wirken. (Nebenbei: Stresemann und Marx traut Stephani nicht die nötige Entschlossenheit zu, um die erforderlichen Gesetze im Parlament durchzudrücken. Er empfiehlt deshalb als Kanzler – – Herrn Geßler.)
Interessanter als der militärische Gallimathias der Referate ist das, was sich der berliner Stahlhelmchef an innenpolitischen Ausblicken leistet. Hier kennt er nur ein Ziel: Eroberung der Macht im Innern durch den Stahlhelm! Hören wir:
»So darf auch die neue Parole des Stahlhelms: ›Hinein in den Staat‹ nicht als Anerkennung des gegenwärtigen Staates aufgefaßt werden, sondern es handelt sich hier um eine Art ›Zellenbildung‹, 100 um Formierung von ›Widerstandsnestern‹, die dazu dienen sollen, den Kampf um den neuen nationalen Staat vorzubereiten oder zu unterstützen. Die Parole ›Hinein in den Staat‹ macht grundsätzlich vor dem Parlament Halt, da man dieses Feld restlos der deutschnationalen Volkspartei überläßt. Die Zellenbildung hat weniger den Zweck, an dem Ämterschacher beteiligt zu sein, als diesem im gewissen Zusammenarbeiten mit Behörden solche Organe zu schaffen, die als Positionen für die künftige Machtergreifung angesehen werden.«
Sollten irgendwo Skeptiker annehmen, der Bericht wäre ein Falsifikat, wovon es in diesen militärischen Regionen ja so viele gibt, so würde ein solcher Einwand durch diese Partie entkräftet werden: das kann auch der geschickteste Dokumentenmacher nicht erfinden, das ist waschecht Stahlhelm. Die Dämpfung abenteuerlicher außenpolitischer Hoffnungen, Liquidation der anarchonationalistischen Hitlerei, Einordnung in ein großes wohlgeordnetes Gefüge und Benutzung aller Außenpolitik letzten Endes nur zum einen innenpolitischen Zweck, die Macht zu erringen: das ist die besondre Note, die der Stahlhelm in die nationalistische Bewegung gebracht und die ihm Superiorität über alle andern Verbände verschafft hat. Für die Häupter der alten Wehrvereine war das A und O der Revanchekrieg gegen Frankreich; der Stahlhelmführer begreift dessen Unmöglichkeit. Aber er besteht auf dem wohlbekannten »kleinen Krieg« gegen Polen, »da die Machteroberung immer von militärischen Aktionen begleitet sei ... Die in einem zukünftigen Krieg – etwa gegen Polen – auf den Schlachtfeldern zusammengeschmiedete neue Frontarmee in Verbindung mit einer Wirtschaft und Heimat schützenden Heimatwehr, wird nach Beendigung eines solchen Krieges nicht die Waffen weglegen, sondern mit den Waffen in der Hand in die Großstädte der Heimat einrücken, um dort andre politische Verhältnisse zu schaffen.«
Wir erwarten die Frage: Welche Bedeutung hat ein solches Projekt, welche Bedeutung hat es, wenn ein ehemaliger Offizier, der seinen Ehrgeiz nicht zügeln kann, in Conventikeln von ähnlichen Erscheinungen seine Meinungen zum Besten gibt? Es ist kein Zweifel: Herr v. Stephani wird viel Spreewasser in seinen Wein tun müssen. Denn viel davon hängt von innenpolitischen Verschiebungen ab, die mindestens eine Vertagung bedeuten können, viel auch, ob man sich in Genf so leicht einseifen läßt, wie man sich das im Flugverbandhaus denkt; auch wird Herr Stresemann nicht viel Neigung zeigen, sich vor dem Forum der internationalen Politik grade für die Wunschträume des im Auslande so verrufenen Stahlhelms zu exponieren. Wir glauben nicht recht an die Realisierbarkeit grade dieses Programms, wir nehmen es dagegen bitter ernst als erschütterndes Symptom für die geistige Haltung in Deutschland ein Jahrzehnt nach dem Kriege. Gibt es einen gräßlichern Gedanken als den der oben zitierten Kolonisierung des Ostens, das heißt: der langsamen, systematischen Verwandlung eines ganzen Volkes in Militäranwärter und Berufssoldaten?! Welche Pervertierung des Hirns gehört dazu, so etwas auszudenken! ›Gen Ostland wollen wir reiten‹, hat Herr Hergt neulich gerufen, und wir dürfen darin vielleicht die pathetisch-balladeske Umformung der Kolonisationsidee suchen.
Und bedürfte es noch eines Beweises, daß unsre Militärgewaltigen vor großen Plänen schwitzen, so braucht man nur auf die plötzlich einsetzende Konjunktur in Landesverratsverfahren zu verweisen. Solche Prozesse haben immer wachsende Aktivität im Wehrministerium angekündigt. Sie ziehen auch dies Mal wie ein Krähenschwarm den neuen Heereskolonnen voraus.
Die größte Gefahr liegt darin, daß über kurz oder lang Deutschland in irgend einer Weise die Verstärkung seiner Wehrkräfte wieder gestattet wird. Denn man kann einer Wirtschaftsmacht wie Deutschland auf die Dauer nicht etwas verweigern, was es immer wieder und mit immer wachsender Energie fordert. Ferner bleibt die Möglichkeit, daß bei etwaiger Verschärfung des Konfliktes zwischen London und Moskau England deutsche Rüstungswünsche gegen den Widerstand andrer Mächte verteidigt und durchsetzt, um sich mit einem Federzug eine billige Kontinentalarmee zu verschaffen. Ein ungenannter deutscher Staatsmann hat vor ein paar Tagen dem berliner Vertreter der ›Neuen Freien Presse‹ erklärt, daß bewaffnete Verbände keinerlei Wert hätten, sondern bloße Bürgerkriegstruppen seien:
»Das war auch einer der Gründe für den Konflikt zwischen Geßler und dem General Seeckt, dem früheren Kommandanten der Reichswehr, der die Verbände förderte, weil es sein Ideal war, ›der moderne Scharnhorst‹ zu werden, und der nicht begriff, wie sehr die Zeiten und die Verhältnisse sich geändert haben, seit Scharnhorst nach der Niederlage von 1806 die Wehrkraft Preußens wiederherstellte.«
Die Verbände mit den kindlichen Paraden und dem lachhaften konspirativen Getue sind abgehalftert. In einer kritischen internationalen Konstellation soll ein neuer und offener Weg gefunden werden. Der »moderne Scharnhorst« ist erledigt, weil er zu moskovitisch roch, und auch von dem richtigen Scharnhorst will man nichts mehr wissen, weil der von Carnot ausging und der Massenerhebung; ein preußischer Sansculotte. Der neue Militarismus kehrt wieder zu den Ausgangspunkten des alten zurück, greift das System des Großen Kurfürsten wieder auf, der vor mehr als 250 Jahren das erste stehende Heer aus Berufssoldaten schuf, während seine Nachfolger die ausgedienten Soldaten in eroberten Provinzen ansiedelten, um ein Reservoir von gelernten Prätorianern zu sichern. Der preußische Militarismus hat alle Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft; irre an der Zeit flüchtet er in ein totes Jahrhundert. Der Kreis ist geschlossen.
Die Weltbühne, 2. August 1927