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Zur Theorie der Krise
Das parlamentarische System ist in Deutschland allzu jungen Datums, um sich den glanzvollen Vorbildern in Frankreich und England wetteifernd zu nähern. Aber immerhin hat sich auch unsre Volksvertretung ein bescheidenes Spezialgebiet gesichert, auf dem Niemand sie überflügeln kann: Deutschland ist den alten Demokratien in der pfleglichen Behandlung der Regierungskrisen weit voraus. In der künstlerischen Dehnung und Streckung der Krisen zeigt sich eine frühe Meisterschaft des zur Mündigkeit erwachten deutschen Volkes, einig darin in allen seinen Stämmen. Hatten die frühern Krisen noch unter zeitlicher Einengung gelitten, wodurch bedauerlicherweise grade jene Eigentümlichkeiten nicht zur vollen Entfaltung kommen konnten, die unsern Reichstag so liebenswert gemacht haben, so hat man dies Mal von vornherein eine Krisendauer von mehreren Wochen festgesetzt. Sollte die Gefahr vorzeitiger Beendigung etwa in die Nähe rücken, so ist für so unliebsame Fälle ein totsicherer Apparat geschaffen, der Scholz genannt wird und vier, fünf Wochen garantiert. So werden wir allen Schwierigkeiten zum Trotz doch der permanenten Krise näherkommen, der absoluten Krise, der Krise an sich: dem hohen Ziel deutscher Staatskunst.
Typischer Verlauf eines Krisentages
Sofort nach feierlicher Kriseneröffnung begeben sich die Parteiführer zum Reichspräsidenten, der ihrem Vortrag mit gespannter Aufmerksamkeit lauscht. Positives wird nicht gesagt, da Keiner Spielverderber sein will. In der Wandelhalle des Reichstags erwacht ein fröhliches Leben. Alle frühern Minister und Staatssekretäre seit 1890 sind erschienen, und entwickeln, teils vor Interessenten, teils monologisierend, Ideen zur Steuerreform oder zur Innern Verwaltung. Zu den Gewesenen gesellen sich die möglicherweise Kommenden, die Ministrablen, worunter ganz besonders Diejenigen beachtet werden, die bereits in der Zeitung »genannt« wurden. Ein paar etwaige Reichswehrminister gehen mit soldatischer Straffheit durchs Restaurant; ein präsumptiver Külz deutet durch Nichtrasur Bereitwilligkeit an, mit dem Amt den Bart zu übernehmen (den Zopf sowieso).
Heftig disputierende Gruppen. Ein kleiner Radikaler aus Sachsen erklärt: zunächst müsse mal in der Bendler-Straße ausgefegt werden. Ein längrer Genosse, der nicht aus Sachsen ist, es aber von Rechts wegen sein müßte, plaidiert für große Geste gegenüber monarchistischen Offizieren und wird von ein paar Herren der Mitte ob seiner staatspolitischen Einsicht gelobt. Plötzlich ein Raunen: Zentrum in Sonderverhandlungen mit Volkspartei; Gerüchte fliegen hin und her über das Maximum des vom Zentrum zu Gewährenden. »Was sagen Sie zu der Kombination, Herr Kollege?« Schnapp, da liegt die Kombination schon mitten entzweigeschnitten. Scholz hat funktioniert.
Etwas sehr Wichtiges und Nichteingeweihten schwer Verständliches ist die Atmosphäre. Wenn zwei Fraktions-Chefs, deren Getreue sich sonst nur mit dem Stuhlbein zu traktieren pflegen, auf dem Korridor zusammenstehen, melden die Blätter: Wenn sie auch dies Mal noch keine greifbaren Resultate erzielen, so sind diese Unterhaltungen doch bedeutsam für die Schaffung einer geeigneten Atmosphäre. Die Kommunisten, die in den Vollsitzungen doch wahrhaftig nicht zu übersehen und zu überhören sind, laufen in den Krisenwochen unbeschäftigt herum. Sie wissen mit dem ganzen Trubel nichts Rechts anzufangen und betrachten Alles mit erstaunten Augen. Niemand bekümmert sich um sie; sie zählen gar nicht mit. Die Leute haben eben keine Atmosphäre.
Die Demokraten, die bislang überall gezüngelt haben, ohne sonderliche Beachtung zu finden, erklären sich bereit, dem Vaterland das Opfer zu bringen, nicht nur den Kanzler zu stellen, sondern auch alle bisher innegehabten Ministerien zu behalten; ein prominentes Fraktionsmitglied hält der Presse grade Vortrag darüber und bittet dringend, diese Selbstentäußerung der Partei hinreichend zu würdigen. Wieder nichts. Die rechte Mittelgruppe der linken Außenseiter des rechten Flügels der Deutschen Volkspartei hat grob jede weitre Erörterung abgelehnt. Freudestrahlend stürzt der notable Demokrat ins Fraktionszimmer: »Hurra, wir haben eine Maulschelle bekommen, man spricht wieder mal von uns!« und stürmt wieder hinaus zur Presse: »Meine Herren, schreiben Sie, ›Ein taktischer Erfolg der Demokraten!‹«
Ein überparteilicher Rechtsmann, bei der Volkspartei beliebt und beim Zentrum wohlgelitten, soeben aus Süd-Amerika zurückgekommen, auf dem sonnengebräunten Khaki-Anzug noch den Staub von Quito, konferiert mit Parteiführern. »Große Koalition gefällig?« Nein. Die Sozis zeigen wieder Mangel an Verantwortungsfreude. Dann Koalition der Mitte, mit Neutralität rechts und links. »Ganz nach Belieben, meine Herren!« Der Süd-Amerikaner macht, mit dem Sombrero unterm Arm, die Runde bei den Parteien. T.U. meldet: Das Kabinett gebildet! Neuer Knacks. Die Wirtschaftspartei fordert Beseitigung des zweiten Nachtrags zum Schankgesetz. Das Zentrum gibt nicht nach. Freundliche Zusprüche. Nix. Die Wirtschaftspartei steht wie ein rocher de beurre. Der Süd-Amerikaner geht wütend nach Haus und flüstert was von Artikel 48. Ein deutschnationaler Versuch, den Rechtsblock zu machen, läßt sich zunächst hoffnungsvoll an, scheitert aber an dem Verlangen der Bayrischen Volkspartei, die bayrische Weltsprache als obligatorisches Lehrfach in den höhern Schulen einzuführen.
Spät abends treffen sich die Fraktionsführer, freuen sich über die wohlgelungne Krise, drücken alle guten Wünsche aus, haschen sich freudig erhitzt mit den Händchen, machen Ringelreihe und tanzen eine Kukirolienne.
Die Weltbühne, 4. Januar 1927