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Mrs. Clare Sheridan stammt aus der anglo-irischen Aristokratie, aus einem Elternhaus, das hinter pompöser Fassade Dalles barg. Nach vergeblichem Ausgebotenwerden Heirat mit einem armen Manne: sie wird Kriegswitwe, erlernt nacheinander Bildhauerei, Romanschreiben und Journalismus, reist also dreifach gerüstet in die Nachkriegswelt hinein, tummelt sich in Sowjetrußland zu einer Zeit, wo noch niemand hineindurfte, flirtet mit Kamenew, läßt sich von Trotzki imponieren, wird von Mussolini blaguiert, von Kemal freundlich aufgenommen, aber von seiner Braut geschnitten, von Chaplin bewundert und mit ihm ins Gerede gebracht, wandert durch Mexiko wie durch die irische Rebellion de Valeras, gerät in Berlin in Kokaintaumel – man könnte das mühelos seitenlang fortsetzen, aber diese Kette von Abenteuern und Erregungen hat ein höchst prosaisches Motiv: Mrs. Sheridan hat ein paar Kinder zu Hause, die leben müssen. Verlorene Tochter, schwarzes Schaf einer Familie, die durch Winston Churchills Mitgliedschaft besonders ausgezeichnet ist.
Ich weiß nichts von ihren Porträtbüsten und stelle sie mir schauderhaft vor. Ich kenne ihre Romane nicht und stelle sie mir noch schlimmer vor. Ich kenne ihre Presseberichte nicht und bin überzeugt, daß darin keine richtige Tatsache steht und günstigstenfalls das, was ihr grade ein Politiker diktiert hat, der nicht des männlichen Charmes entbehrte. Aber ihre Selbstbiographie: »Ich, meine Kinder und die Großmächte der Welt« (Paul List Verlag, Leipzig) liest sich amüsant. Wahrscheinlich wird die Anregung dazu von einem Verleger gekommen sein, dem sie einen Roman angeboten hat und der richtig erfaßte, daß das Interessanteste, was diese Frau zu bieten hat, ihr Leben ist, und daraufhin zunächst mal Vorschuß zahlte. Sie hat von den Triebkräften der Zeit keine Ahnung, sie sieht nur die Oberflächen, aber die eröffnen ihr viel, ihr weiblicher Instinkt leitet sie sicher. Ein Bolschewik oder Fascist oder mexikanischer General ist ihr zunächst auch nur ein Mann, ergo wird er wohl nicht viel anders sein als andre Männer auch. Im ganzen teilt sie die Männer in gute und schlechte Modelle ein. Wer beim Zeichnen oder Interviewen still sitzt, bekommt ein gutes Zeugnis, weshalb zum Beispiel Lenin die bessre Zensur erhält als Winston Churchill. So schreibt und flirtet und bildhauert sie sich durch die Landkarte der Friedensverträge von 1919, nicht etwa von einer bizarren Laune gejagt, sondern weil die Kinder zuhause nach Brot schreien, der Vater alles verspekuliert und der Mann nichts hinterlassen hat. Eine ehrbare Abenteurerin. Ein schwarzes Schaf, eine verlorene Tochter, aber eine treu sorgende Mutter.
Die Weltbühne, 27. November 1928