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Sie schreiben: »Lieber Herr von Ossietzky, ich will, Ihrem Wunsche entsprechend, gern versuchen, über den augenblicklichen Stand des Falles Max Hoelz zu berichten, obschon es sich dabei um einen Ausflug in die geheimsten Jagdgründe der juristischen Fachsimpelei handelt. Die Verteidigung hat am 3. Februar des Jahres den Wiederaufnahme-Antrag beim Reichsgericht eingereicht. Dieser Antrag stützte sich auf acht Tatsachen. Der Antrag mußte zunächst, den gesetzlichen Vorschriften entsprechend, von der Reichsanwaltschaft begutachtet werden. Dort hat man vier Monate lang an dem Votum gearbeitet, das bekanntlich zustimmend ausgefallen ist. Etwa Mitte Juni gelangte dies Votum an den Vierten Strafsenat, der über die sogenannte ›Zulassung‹ der Wiederaufnahme zu entscheiden hat. Diese Entscheidung hat in nichtöffentlicher Sitzung in einer Besetzung von drei Mitgliedern zu erfolgen. Die Beratungen des Senats sind, trotzdem das Gesetz dies nicht vorschreibt, unter Heranziehung der Verteidigung erfolgt. Ich begehe wohl keine Indiskretion, wenn ich mitteile, daß zunächst im Mittelpunkt der Erörterung die von einem Mitglied des Senats aufgeworfene Frage stand, ob es rechtlich überhaupt zulässig sei, im Falle der ›Idealkonkurrenz‹ die Wiederaufnahme wegen eines einzelnen Deliktes zu begehren, ohne daß eine Änderung des Strafmaßes zu erzielen sei. Populär ausgedrückt dreht es sich um folgendes: Max Hoelz ist wegen insgesamt etwa zwanzig Verstößen gegen das Strafgesetzbuch von dem Sondergericht verurteilt worden. Seine sämtlichen Taten wurden als eine sogenannte ›einheitliche Tat‹ aufgefaßt. Die Bestrafung erfolgte also nicht einzeln wegen des Falles Heß, der Sprengstoffdelikte, Widerstand gegen die Staatsgewalt etcetera, sondern wurde dem Hochverrats-Paragraphen des Strafgesetzbuches (§ 81), als dem schwersten Tatbestand, entnommen. Dieser Paragraph kennt nur lebenslängliche Zuchthaus- oder Festungsstrafe (und nur bei Annahme mildernder Umstände geringere Strafe). Wenn nun, so fragte man im Senat, die Verurteilung von Max Hoelz im Falle Heß (wegen Totschlages) aufgehoben wird, – bleibt dann nicht die lebenslängliche Strafe des Hochverrats bestehen? Was soll das ganze Wiederaufnahmeverfahren, so fragte man weiter, dann für einen Zweck haben? Demgegenüber war darauf hinzuweisen, daß derselbe Senat (damals nannte er sich allerdings noch Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik) bereits im Jahre 1922, als Max Hoelz sein erstes Wiederaufnahmegesuch einreichte, ausdrücklich entschieden hatte, daß eine Wiederaufnahme, die nur auf den Fall Heß beschränkt ist, durchaus zulässig sei, da der Antrag, wie es wörtlich heißt: ›nicht lediglich die Änderung der Strafe bezweckt, sondern die Änderung der Verurteilung (!) im Falle des am Gutsbesitzer Heß verübten Totschlages‹. Auch das Votum des Oberreichsanwalts befaßt sich in sehr ausführlichen Darlegungen mit dieser Frage und kommt zu der Ansicht, daß die Beschränkung des Antrages auf den Fall Heß die Zulassung nicht hindern dürfe. Weil weder die grammatikalische, noch die historische, logische oder die Auslegung nach dem Zweck im Recht hindernd im Wege stehe. Während diese Erwägungen noch schwebten, beriet der Reichstag über das neue Amnestiegesetz. Als ich am 13. dieses Monats mit dem Senat die Sachlage erörterte, gewann die Ansicht Oberhand, daß die Bedenken, die geäußert worden waren, wahrscheinlich durch das neue Gesetz hinfällig würden und daß eine Zulassung der Wiederaufnahme durch den Senat, entsprechend seiner frühern Stellungnahme und derjenigen des Oberreichsanwalts, im Bereich der Möglichkeit liege. Es tauchte allerdings auch die weitere Frage auf, ob das Reichsgericht für die Entscheidung überhaupt noch zuständig bleibt, wenn das Hochverrats-Delikt meines Mandanten wegamnestiert ist. Aus all diesen Gründen wurde eine Einigung zwischen dem Senat und der Verteidigung dahingehend erzielt, daß man die Entscheidung noch ein paar Tage zurückstellen müsse, bis der ganze Wortlaut des Amnestiegesetzes vorliege und die neue Rechtslage geprüft sei. Der Senat erklärte sich bereit, jederzeit auf Antrag der Verteidigung, auch während der Ferien, zu einer Beschlußfassung zusammenzutreten. Soweit die Rechtslage. Weit interessanter ist natürlich für das große Publikum die Frage, warum denn, zum Donnerwetter, kein Mensch den Mut hat, auch ohne Entscheidung des Reichsgerichts, Max Hoelz aus der Haft zu entlassen. Nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, wenn ich heute noch nicht mir all die Bitterkeit vom Herzen schreibe, die mich angesichts des mangelnden Mutes der in Betracht kommenden Stellen, von denen keine die Verantwortung übernehmen will, erfassen muß. Ich setze noch eine letzte Hoffnung auf den neuen Reichsjustizminister, Herrn Doktor Koch, mit dem Anfang dieser Woche die Verteidigung erneut verhandeln wird und dem ich sehr beachtliche Äußerungen höchster Richter übermitteln kann, daß jeder Tag, den Max Hoelz nach der Publikation des Amnestie-Gesetzes so noch hinter Mauern verbringt, dem Wortlaut und dem Sinne des Gesetzes widerspricht. Aber allzu optimistisch wollen wir nicht sein, und ich sehe im Geiste schon eine Eskorte von zwanzig Schupos in kostspieligem Transport Max Hoelz in irgendein Gefängnis überführen.« So weit Herr Dr. Apfel, dem ich sehr dankbar bin für die Darstellung einer Situation, die wohl heute von keinem Nichtjuristen mehr begriffen wird. Dabei übergeht der verehrte Schreiber allerdings einige in Betracht kommende politische Momente. Denn die Amnestiefrage ist keine rein juristische Frage, sondern eine der politischen Aktion und erst die Aktionsunlust der Herren Politiker schiebt sie auf den ins Unendliche laufenden Schienenstrang der Juristerei. Das gilt besonders für den sogenannten Reichs-Amnestie-Ausschuß, der sich sehr beharrlich seiner eigentlichen Aufgabe entzogen hat. Sein Vorsitzender ist der Herr Doktor Moses, der geachtete Vertreter der parlamentarischen Medizin, der seine Höhepunkte erlebt, wenn ein deutschnationaler Abgeordneter einen Wadenkrampf kriegt und der sich weit weniger flott bewegt, wenn es sich um die Befreiung von Opfern der Klassenjustiz handelt. So bleibt die Liquidation des Falles Hoelz bei dem neuen Reichsjustizminister, der hier zum ersten Mal zu zeigen hat, ob er seine Selbständigkeit wahren kann, oder ob er der reaktionären Ministerialbureaukratie folgt, die auch unter der Linksregierung munter weiter amtiert. Wer spricht noch davon, ob Herr Joel, der Staatssekretär, bald durch eine liberalere Persönlichkeit ersetzt werden soll? Die Bureaukratie, die den Fall lange verschleppt und mit allen Mitteln eine endgültig reinigende Amnestie konterkariert hat, versucht noch ein letztes verschleppendes Rückzugsgefecht. Eine Torheit, sinnlos und nur geeignet, die geschehenen Grausamkeiten nochmals in böseste Beleuchtung zu rücken, anstatt, wie klug wäre, das Vergessen zu fördern. Der Fall Hoelz ist durch Jahre eine Wunde am Rechtskörper gewesen. Sie aufgezeigt zu haben, ist die Leistung der letzten Verteidigung Alfred Apfel, Felix Halle und Kurt Rosenfeld, wobei besonders Ihnen, Herr Dr. Apfel, das Verdienst zufällt, Ihr Wissen, Ihre Beredsamkeit und Ihre diplomatischen Fähigkeiten einem Fall zugewendet zu haben, der dadurch zum Brennpunkt aller Amnestiedebatten überhaupt geworden ist.
Die Weltbühne, 17. Juli 1928