Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Zwei politische Romane

»Die Nacht nach dem Verrat« heißt ein Roman von Liam O'Flaherty, der bei Theodor Knaur erschienen ist und schon vor einiger Zeit beim Abdruck in der ›Frankfurter Zeitung‹ berechtigte Beachtung gefunden hat. Wer ist Liam O'Flaherty? Es ist gelegentlich nützlich, vom Autor nichts zu wissen: man kommt nicht in die Versuchung zu klassifizieren. Ich pflege nicht von einem ersten Eindruck niedergeworfen zu werden ... Nun, dieser Roman ist ein gutes rundes Meisterstück. Eine Geschichte aus dem Slums von Dublin, nüchtern und ohne melodramatische Zutaten erzählt, robust im Griff, sparsam in den Mitteln. Zwei junge Arbeitslose treffen sich im Asyl. Der Eine hat während eines Streiks einen Sekretär vom gelben Verband niedergeschossen; ein Preis ist auf seinen Kopf gesetzt – der Andre verdient sich den Preis. Abends um sechs hat die Begegnung stattgefunden, am nächsten Morgen ist das Blutgeld schon dahin, und Der es sich erwarb, schleppt sich, von den rächenden Kugeln der Genossen zerfetzt, in ein Gotteshaus, um die arme Seele zu verhauchen. Ein Thema Georg Kaisers. Aber dessen Held flüchtet aus der kleinbürgerlichen Geborgenheit in die soziale Unterwelt. Für diese Arbeitslosen und Asylisten hier sind alle Wege verrammelt. Die Grenzen ihrer Klasse sind ihre eignen, ihre Klasse ist ihr Schicksal; nur ein junges Mädchen, ein Zug, der die Menschenkenntnis des Autors glänzend attestiert, findet die Hintertür ins Bürgertum.

Der irische Autor schreibt ohne Anklagepathos, nur gelegentlich fällt ein greller Witz auf das traditionelle Verschwörertum seiner Landsleute. Aber grade, weil er den Arbeiter so wichtig nimmt, wie ein bürgerlicher Romancier seine Buddenbrooks oder Forsytes, und die Arbeiterwelt hier eignes Gesicht hat und kein Plakatfinger sie mit Entdeckerfreude demonstriert, deshalb erinnert dies Buch wie kein zweites an die neue russische Literatur.

Lion Feuchtwanger hat kürzlich ausgeführt, die breite Wirkung englischer Autoren liege großenteils darin, daß sie nicht an einer Einzelpsyche herumbastelten, sondern sich immer um ein Gesellschaftsbild bemühten. Das trifft auf O'Flaherty zu, und ist wohl auch das Geheimnis der Weltberühmtheit Arnold Bennetts, dessen in England wild umstrittener »Lord Raingo« jetzt bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart herausgekommen ist. Ein Politikerroman, ein Schlüsselroman, der mit kaltschnäuziger Respektlosigkeit die Zimmer der Männer öffnet, die das Empire regieren. Dabei bleibt die Diktion äußerst gelassen, der Autor schwingt keine juvenalischen Geißeln, er ist zu gut erzogen dazu, um zu schreien; wie viel Bitterkeit zu diesen Porträts von Lloyd George, Churchill, Curzon etcetera den Griffel geführt hat, bleibt der Ahnung und dem Tastsinn des Lesers überlassen. Wir schreiben Frühjahr 1918, und ein reicher Parvenu soll in das Kriegskabinett eintreten. Ein zynischer Egoist, nicht mit Rhetorik oder einem Weltruf zu düpieren. Er sieht die Führer Britanniens als hohle Pathetiker, krasse Streber und windige Phraseure. Die Aura um den politischen Betrieb verdunstet. Wir erleben Kabinettssitzungen, Fabrikation von Siegesmeldungen, einen großen Tag im Parlament und seine Ausstrahlungen auf Publikum und Presse. Immer wieder das Leitmotiv: so tun die Menschen in der Politik und so sind sie wirklich. Weil aber eine siebenfach verriegelte Kammer hier so vorbehaltlos geöffnet wird, deshalb ist das Ergebnis doch mehr als eine skandalöse Sensation. Ein höllisch wachäugiger Beobachter spürt die ungeschriebenen Gesetze einer herrschenden Schicht auf. Man weiß nach dem Buch mehr von England als bisher.

Die Weltbühne, 3. April 1928


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