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Seit 1918 ist Bayern im Deutschen Reich das Stellwerk, das nicht funktioniert. Das hat zu mehr als einer Entgleisung geführt, deren Schaden stets das Reich zu tragen hatte und mit einer kaum mehr irdischen Geduld getragen hat. Das sozialistische Sachsen wurde von Reiches wegen exekutiert; Bayern blieb mit Mann und Roß als politischer Naturschutzpark erhalten. Jetzt hat eine Kette von jämmerlichen Unglücksfällen schonungslos den Rost an der Apparatur aufgedeckt. Die französischen Regiebahnen an der Ruhr, klagt das regensburger Blatt des Herrn Ministerpräsidenten, liefen sicherer als unsre kirchlich gesegneten Waggons. Die berühmte bayrische Staatspersönlichkeit, die wir so gut kennen gelernt haben, kann zwar ihr Veto nach Berlin donnern, aber nicht einen Schienenstrang in Ordnung halten. Die fünfzig Toten, die der bayrische Eisenbahnbetrieb in den letzten Monaten gekostet hat, sind zu Ehren jenes »gesunden Föderalismus« geopfert worden, den der klerikale Herr Premierminister Held ebenso gern im Munde führt, wie der so schrecklich rote Herr Erhard Auer. Aber was die politischen Katastrophen nicht bewirken konnten, das holt diese letzte von Dinkelscherben nach: man befaßt sich mit Bayern. Man betrachtet seine dem Reich abgeluchsten Gerechtsamen kritisch. Der Herr Generaldirektor Dorpmüller, von dem man nicht sagen kann, daß ihm das soziale Salböl auf den Gehrock trieft, ist durch münchen-augsburger Attacken tückisch geworden und kompromittiert mit ziffernmäßig unbestreitbaren Angaben die verkehrstechnischen Künste der bayrischen Eigenstaatlichkeit bis aufs Blut. Bayern hat sich sogar aus der verruchten Dawes-Versklavung seine Privilegien herausgeholt, und wenn es auch an politischer Offensivlust seit 1923 einiges verloren hat, so hat es doch in seinem Eisenbahnbetrieb nicht ohne Erfolg Sechsundsechzig gespielt, und Siegelsdorf und Dinkelscherben und zwei Katastrophen in München selbst sind die traurigen Merksteine.
Während in Deutschland die Diskussion über die Neugliederung des Reiches allmählich dichter wird, wenn auch die entsprechenden Taten gewiß noch in weiter Ferne liegen, haben sich die Stämme des jungen Südslawischen Königreichs in einen innern Konflikt verwickelt, der zu einem Rückfall in lange Überwundenes führen würde, wenn er mit einem Erfolge der heutigen Opposition enden sollte. Der Gegensatz zwischen Belgrad und Agram hat nicht nur seine wirtschaftlichen Motive, lange Jahre südslawischer Geschichte senden plötzlich ihre alten Parolen wie Gespenster in die Gegenwart. Obgleich an der Bildung dieses Staates viele Kräfte sowohl in Altserbien als auch im Habsburgerreich selbst gearbeitet haben, so ist er doch schließlich mehr eine historische Improvisation geworden als Werk des planenden Willens. Grade in Kroatien hat es viele angesehene Politiker gegeben, die bis in die letzten Kriegstage an die Möglichkeit einer südslawischen Autonomie im Rahmen des alten Reiches geglaubt und für Wien und Budapest auch nicht die schmierigsten Propagandageschäfte verschmäht haben. Ihre Beteiligung an der Begründung des gemeinsamen Staates der Serben, Kroaten und Slowenen war in manchen Fällen weniger Begeisterung und Wille als Flucht vor den italienischen Heeren, die nach dem österreichischen Zusammenbruch am Isonzo Dalmatien, Krain und Steiermark zu überfluten drohten. Die italienische Serbenfeindschaft ist ja nicht neuen Datums. Schon im Kriege widmete die römische Regierung ihre besondere Aufmerksamkeit der kommenden Adriamacht, die sich selbst als Nachfolgerin Österreichs designiert hatte. Das Interesse der Altserben zielt nach dem Balkan. Die Kroaten dagegen fühlen sich der Adria verbunden. Italien ist der unruhige, sprungbereite Nachbar. Deshalb sträuben sie sich gegen die in Belgrad gemachten Freundschaftsverträge von Nettuno, wie denn von jeher mißtrauische Grenzbewohner sich von der weit abliegenden Hauptstadt verraten sahen. Noch heute verweisen die Altserben gern auf ihre ungeheuren Blutopfer zu einer Zeit, wo die Repräsentanten Kroatiens noch unentwegt k.u.k. Kriegspolitik trieben. Wie 1917 in einer Sitzung im kroatischen Landtag bekannt wurde, planten in der wüsten Woche nach dem Attentat von Serajewo die Behörden von Agram den »Volkszorn« gegen einige nationalradikale Führer zu organisieren. Unter denen, die als Serbenfreunde der Lynchjustiz geopfert werden sollten, befand sich auch der Demokratenführer Svetozar Pribitschewitsch, der heute mit Raditsch zusammen die Opposition gegen Belgrad führt. Übrigens gibt es auch in den Memoiren des Erzgauners Ignaz Strassnow ein anmutig duftendes Kapitel über die Begegnung mit einem der Herren Tribunen von Agram.
Der Gegensatz zwischen Serben und Kroaten ist also nicht neu, aber daß die Feindschaft die letzte gefährliche Verschärfung erhielt, dazu gehörte die Wahnsinnstat eines großserbischen Fanatikers, der vor ein paar Wochen mitten in der Parlamentssitzung in die Reihen der kroatischen Führer hinein seinen Revolver abfeuerte und neben andern Abgeordneten auch Stephan Raditsch, den vergötterten Bauernkönig, schwer und vielleicht zu Tode traf. Stephan Raditsch gehört zu den merkwürdigsten Gestalten der Gegenwart. Ein primitiver und komplizierter Mensch, phantastisch und kalt berechnend durcheinander. Bald ein Staatsmann von Mäßigung, bald ein roher, aufreizender Rhetor, nicht nur von der Pracht seiner Bilder berauscht. Oft ein Künder großer Konzeptionen, oft wie ein Groschenprophet à la Häusser. Seit 1905 steht er an der Spitze der kroatischen Bauernpartei, aber wie groß und wie häufig seine Wandlungen auch waren, niemals hat er die Gunst seiner Gefolgschaft eingebüßt, ob er, wie im alten Österreich glühender Anhänger der Monarchie war, ob er, wie im neuen Jugoslawien, bald mit Moskau paktierte, bald König Alexanders Minister war. Das Weltbild dieses streitbaren und streitsüchtigen Menschen ist trotzdem eine pazifistische Utopie. Der Bauernhof ist sein Horizont, und sein Europa nicht mehr als eine Konföderation von ungezählten friedlich nebeneinander arbeitenden Bauernhöfen – die echte Vision eines christlichen Slawen, ein Panagrarismus, in dem kein Fabrikschornstein Platz hat. Mit einer rührenden Inbrunst hat er in frühern Jahren den Träger dieser Idee in – dem Kaiser Franz Joseph gesehen. Ja, der riesengroße habsburgische Völkerkäfig war ihm nur das Reich der europäischen Mitte, das Reich einer christlichen Demokratie, bereit, alle Nachbarn freundlich aufzunehmen. Den Krieg sogar betrachtete er lange Zeit als eine Art Kreuzzug gegen die Ungläubigen, die sich diesem Ideal nicht beugen wollten. Wenigstens hat er es seinen Schäflein so gepredigt. Selbstverständlich teilen die demokratischen Kroatenführer von Agram, die Advokaten und Journalisten sind, wie andre bürgerliche Politiker auch, diese verstiegenen Spekulationen nicht im geringsten und seufzen gewiß oft bitter über ihren phantasievollen Alliierten. Aber Raditsch ist die Macht, die die bäuerlichen Massen beherrscht. In Belgrad hat man indessen gegen den Frommen aus innerm Beruf einen Frommen von Profession gestellt, den katholischen Priester Koroschetz, den Slowenenführer, der bereits dem ersten Kabinett des geeinten Königreiches, dem Triumvirat Protitsch-Koroschetz-Trumbitsch angehört hat. Der Priester Koroschetz hat als slowenischer Politiker unter der seligen Dynastie für den Trialismus geschwärmt, von dem die gemäßigten slawischen Politiker Österreich-Ungarns alles Heil erwarteten. Es ist die besondere Ironie der Geschichte, daß heute Raditsch und seine Getreuen von Agram aus die Dreiteilung nach Stämmen für das Jugoslawische Königreich fordern, während der slowenische Partikularist von einst Einheit und Unantastbarkeit der Zentralgewalt vertreten muß.
Es gibt heute vielleicht nur noch einen Mann in Europa, der so gläubig an dem Weltbild seines Wunsches hängt wie Stephan Raditsch, das ist Friedrich Wilhelm Förster. Sie sollen bei Leibe nicht mit einander verglichen werden, denn sie sind nach Charakter und Wissen himmelweit voneinander geschieden. Der Eine ist bei aller Verschwärmtheit trotzdem ein bauernschlauer Demagog und Praktiker, wie er im Buch steht, der Andre ein Gelehrter in teilweise selbstgewollter Isolierung. Aber beide verkünden sie die christliche Demokratie, die Gesellschaft der einfachen Menschen, deren Staat kein Machtgebilde ist, sondern dem friedlichen Wesen seiner Bewohner entspricht. Försters Staat ist eine Lehrkanzel, der nichts zu Gebote steht als die Idee, und Förster ist der letzte Künder der Theokratie in einer götterlos werdenden Zeit. Man kann das ablehnen, man kann seine katholisch durchtränkte Sittenlehre ablehnen, man kann seinen Föderalismus heute antiquiert finden. Aber man kann den Mann nicht wie einen bösen Feind und Schädling behandeln. Es ist schwer zu begreifen, daß sich die demokratische Presse jetzt Förster mit Vorliebe zur Zielscheibe nimmt, nachdem die reaktionäre es schon fast aufgegeben hat. Und es muß mit besonderm Bedauern gesagt werden, daß ein feines und manierliches Blatt, wie die ›Frankfurter Zeitung‹, das sich sonst nie ohne Gummischuhe in eine Polemik begibt, um die Lackkappen zu schonen, sich dies Mal vor Förster so weit vergißt, die Gummischuhe auszuziehen und damit loszudreschen, wie nur irgend ein Lokalanzeiger. Förster hat seiner Skepsis gegen die Anschlußpropaganda ehrlichen Ausdruck gegeben, und die Frankfurterin schmettert wie in Konkurrenz mit Herrn Hussong etwas »von jenen Pazifisten, die in ihrem leidenschaftlichen Bedürfnis nach ewigem Frieden nicht Ruhe geben werden, als bis sie die Völker im Sinne jenes Arztes zur Strecke gebracht haben, dessen Operation gelang, aber dem Patienten das Leben kostete«. Sieh, sieh, dann gehört also wohl ein kleiner stärkender Krieg dazu, um die Völker wieder auf die Beine zu bringen? Und dann sucht die Frankfurterin nach der berühmten »kleinen Schar verantwortungsvoller Freunde hüben und drüben«, die nicht nur gegen die chauvinistischen Kriegshetzer gerichtet ist, sondern auch »gegen die fanatischen Friedenshetzer von der Art F.W. Försters«. Wenn man die Sache nicht hübsch gemütlich betreibt, wenn das Tempo der kleinen Schar verantwortungsvoller Freunde zu heftig ist, so bedeutet das »Friedenshetze«. Ich weiß nicht, ob die Prägung original ist oder Stresemanns genfer Teerede entnommen. Wenn das der Fall ist, hat man in Frankfurt allerdings ein paar besonders schmückende Worte, die Stresemann damals gebrauchte, in der Eile vergessen. Übrigens deutet die ›Frankfurter Zeitung‹ selbst etwas über die »Kompliziertheit« der Anschlußfrage an und daß es mit »einer gefühlsmäßigen Fundierung« wie jetzt in Wien nicht getan sei. Hier kontrolliert das Unterbewußtsein besser als der wache, augenblicklich durch Zornesausbrüche echauffierte Verstand. Die Anschlußpropaganda, wie sie jetzt betrieben wird, ist die letzte Seifenblase aus Friedrich Naumanns ehrwürdiger Mitteleuropa-Schaumpfeife, die von den meisten liberalen Blättern reichlich benutzt worden ist. Nach dem ersten größern außenpolitischen Unglücksfall wird man das auch in Frankfurt freimütig zugeben. Warum aber einen Mann stäupen, der es schon heute weiß – und sagt?
Die Weltbühne, 7. August 1928