Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Pfaffengasse

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
dann bin ich um den Schlaf gebracht –

seufzte einst der verpönte rheinische Jude und mangelhafte deutsche Patriot Heinrich Heine. Auch Monsieur Bazille, den erkorenen Staatspräsidenten von Württemberg, drückt der Alb, wenn er nicht an Deutschland, sondern an das von ihm gepflegte Ländle denkt. Er bangt um Schwabens Eigenstaatlichkeit, ja, bei dem bloßen Wort »Einheitsstaat« hört er schon im schwäbischen Dachfirst die Funken knistern, die den nächsten Weltbrand entfachen werden. »Sollte dieser Weg (zum Einheitsstaat) beschritten werden, so wird eine unmittelbare Gefahr für den Bestand des Reiches heraufbeschworen. Denn nichts ist irriger und gefährlicher, als die Meinung, die Länder würden sich schließlich in ihr unvermeidliches Schicksal fügen. So wie die Dinge in Europa liegen, kann dieses Spiel mit dem Feuer den ganzen Kontinent in Brand stecken.« So weit Monsieur mit echt gallischem Temperament.

Das ist in der republikanischen Presse sehr unfreundlich kommentiert worden. Fast am selben Tage konnte man noch viel heftigere Bemerkungen zu dem so eruptiv beendeten kölner Limbourgprozeß lesen. Entgangen ist den eifernden Glossatoren jedoch, daß Monsieur so ziemlich auf dem gleichen Wege karrt wie die Brüder Limbourg, daß der Vergleich beider Fälle durchaus angebracht ist, weil die Bazilles wie die Limbourgs bestimmt werden durch einen rasend gewordenen Provinzialismus, der die freundlichen Laren des heimischen Herdes mit den lenkenden Geistern des Erdkreises verwechselt.

Die kölner Kammer hat wieder mal etwas eilfertig Weltgeschichte analysiert. Seit die deutschen Gerichte juristisch immer weniger hergeben, tun sie sich mit Vorliebe als historisch-politische Kollegien auf. Wir sind nicht verbohrte Patriotarden, brauchen deshalb auch den Bazilles und Limbourgs nicht ernste und ehrenhafte Motive abzusprechen, Motive, über die sich diskutieren läßt. Was wissen wir zum Beispiel vom rheinischen Separatismus 1919 bis 1923? Wo hätte man bisher in untendenziöses dokumentarisches Material Einblick nehmen können? Wir haben durch alle die Jahre das Projekt der Dorten, Matthes und Smets, die selbständige Rheinlandrepublik, abgelehnt. Aber zur objektiven persönlichen und politischen Beurteilung dieser Männer wissen wir rein gar nichts. Sie haben mit Deutschland va banque gespielt? Wer hat es nicht getan zwischen Compiègne und Locarno? Wer hat damals immer Kopf und Nerven beherrscht? Wir haben Cuno, Hermes, Havenstein, Kahr, Lossow und viele, viele andre Bodenseereiter erlebt und erlitten. Und wir kennen sehr solide linke Parlamentarier, die rappelköpfig geworden sind, als die Wasser hoch gingen. Erinnern wir uns recht, geruhten kurz vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages selbst der Vorsichtigste der Vorsichtigen, Exzellenz Bernhard Dernburg, mit der Verhängung des Bolschewismus über Deutschland zu drohen, damit die Franzosen nichts haben sollten – was sicherlich sehr komisch geworden wäre, dieser Bolschewismus mit Sowjets, Proletkult und Tscheka, alles von Exzellenz Dernburg eigenhändigst entworfen. Es ist vielleicht zu hart, an den einmaligen Raptus eines sonst so ordentlichen Bürgers zu erinnern, namentlich, wo jetzt seine Schreibmaschine weit weniger laut klappert als früher. Aber es soll nur gezeigt werden, wie desperat es damals selbst bei den Ganzkorrekten ausgesehen hat. In den Prozeßberichten liest man, daß Joseph Limbourg Großgrundbesitzer und Großagrarier sei, und das klingt wie mißbilligend, selbst in Zeitungen, die sonst nicht proletarisch-klassenkämpferisch gerichtet sind und die Embleme des Kapitalismus nicht als Anstößigkeiten empfinden. Aber richtig ist, daß die rheinische Reichsflucht damals vornehmlich Sache der besitzenden Schichten war, die zitterten, in ein etwaiges deutsches Débâcle hineingezogen zu werden. Richtiger noch, daß es zwei Separatismen gab: einen französisch orientierten (Dorten), dem die niemals erloschene rheinische Preußenfresserei zu Hilfe kam, und einen englisch orientierten, der sich auf das kölner Geldpatriziat und die Industrie stützte, im Gegensatz zu ersterem sich sehr still verhielt und statt der Rheinischen Republik nur bundesstaatliche Stellung des Rheinlandes im Reich zu wünschen vorgab, wobei Englands Gunst erhofft wurde. Dazwischen wimmelte die Klerisei, von einem neuen katholischen Staat träumend. Schließlich war man nicht umsonst in der historischen Pfaffengasse. So mancher Zentrumspolitiker von der heutigen rechten, wieder ganz nationalistischen Ecke dröhnte damals in kleinen ländlichen Versammlungssälen Lob und Preis der heiligen Rheinlandfahne. Und weit über dem Gehudel die großen, aber stummen Rollen: die Adenauer, Louis Hagen etcetera. Schließlich sah man auch in Berlin keine andre Möglichkeit mehr als die »Versackung«. Daß es nicht so gekommen ist, daran sind nicht die hochpatriotischen Versacker schuld. In einem jener großen unberechenbaren Verzweiflungsausbrüche von 1923, die hier hitlerisch, dort rot waren, erhob sich die Straße, erhob sich das durch das Elend und die Schikanen der Okkupation zur Verzweiflung gebrachte Proletariat und zertrampelte den Separatismus. Und über dem leichenbedeckten Feld erschienen die Herren Versacker mit ihren diversen schwarzweißroten und schwarzrotgoldnen Fahnen, erklärten das Vaterland gerettet und sprachen fürder nicht mehr vom Versackenlassen.

Wenn man sich das vor Augen hält, versteht man auch, wie Joseph Limbourg, der doch so leicht zu überführen war, überhaupt wagen konnte, die Gerichte anzurufen. Jeder Zeitungsleser wird den Kopf geschüttelt haben. Herr Limbourg wollte sich eben nicht allein Separatist und Sonderbündler schelten lassen; nach seiner Meinung waren die andern nicht besser als er. Er übersah nur, daß er falsche Couleur getragen hatte. Strafbar sind bei uns nur Sympathien für Frankreich. Ich glaube, man kann in London halb Deutschland zum Kauf anbieten, und kein Reichsanwalt wird sich einmischen. So verlor Limbourg nicht nur sein Spiel, sondern das kölner Weltgericht bestätigte auch seinen Gegnern ausdrücklich, daß sie gut vaterländisch gehandelt hätten. Und wenn der Herr Vorsitzende in seinem Schlußwort gar betonte, daß Ende 1918 und Anfang 1919 die »Verhältnisse in der Reichshauptstadt sehr unsicher waren«, so öffnete er, ohne zu wollen, die letzte Herzkammer seiner gut vaterländischen Männer. »Die unsichern Verhältnisse in der Reichshauptstadt« – die hätten sich sehr leicht aus einer roten Regierung ergeben können oder einer, die Herr Louis Hagen so genannt hätte. Das war keine Sonderbündelei, findet das Gericht, den Gedanken eines Rheinlandstaates, »natürlich im Rahmen des Reiches« erwogen zu haben. Natürlich? Verehrtes kölner Weltgericht, das ist in seiner Harmlosigkeit weder Politik noch Geschichte, das sind doch kölsche Krätzche. Was wäre wohl geschehen, wenn Herr Adenauer eines Tages die Verhältnisse »so unsicher« gefunden hätte, um sich noch zur selbigen Stunde unter dem Jubel von Tünnes und Schäl als Präsident des neuen Bundesstaates vorzustellen? Wie lange wäre dieser Bundesstaat, von Engländern und Franzosen besetzt, wohl »im Rahmen des Reiches« verblieben? Ein ehrlicher Mann wie Hellmuth von Gerlach muß sich noch heute von der den Herren Versackern nahestehenden Presse ankläffen lassen, weil es ihm 1918 nicht gelang, das bereits verlorene Posen zu halten. Wie würde wohl heute das Urteil über die Adenauer, Hagen oder Jarres ausfallen, wenn etwa die Ereignisse damals über sie hinweggegangen wären? Wäre das nicht der Anfang vom Ende Deutschlands gewesen und im Effekt das selbe wie die rheinische Republik der Separatisten? Wo ist der Unterschied zwischen Dorten und den Versackern? So wäre das Gericht zu befragen. Aber ein Gericht antwortet nicht, es urteilt nur.

Joseph Limbourgs Klage war herzlich naiv. Er ist bloßgestellt, die Andern sind dekoriert. Aber wer die Aussagen der gegen ihn bekundenden Zeugen nicht für kanonische Texte nimmt, wird finden, daß eigentlich noch recht wenig geklärt ist und daß aus Akten und Memoiren in späterer Zeit erst wird festgestellt werden können, was wirklich gewesen ist, und ob es zum Beispiel stimmt, daß zwei heute wieder ganz intakte Patrioten sich von Herrn Poincaré mit den Worten verabschiedet haben: »Wir kommen wieder!« Es ist damals viel gemanscht und gemuddelt worden; am besten ist, den Mantel der Liebe drüber zu decken. Und wieder sagt der gute Rheinländer Heinrich Heine:

– es heißt am Rhein:
auch Ehrlich stahl einmal ein Ferkelschwein.

 

Die Etatsdebatte im Reichstag hat ein recht lustiges Bild gezeigt: da jeder weiß, daß diesem Parlament bald die letzte Stunde schlägt und Opposition gegen dies Jammerkabinett populär ist, machte alles wie auf Verabredung Opposition. Stresemanns Partei ließ durch ihren linkesten Mann, Herrn Cremer, scharfe Attacke reiten, der gesetzte Zentrumsführer Herr von Guérard, kein leichter Spaßvogel, in der Tat, quälte sich ein paar Gutturaltöne wahrhaft republikanischer Demagogie ab. Im Zentrum selbst lamentieren Stegerwald und Imbusch gegen Vater Marx. Und zum Überfluß erhebt die Deutsche Volkspartei, eingedenk plötzlich ihrer tausend Mal verratenen und verschacherten liberalen Tradition, wegen des Schulgesetzes einen Höllenlärm gegen das Zentrum. Sauve qui peut. Alles flüchtet in die Opposition.

Das wäre alles schön und gut, wenn die Linke nicht die Herren von Guérard und Stegerwald über Gebühr tragisch nähme. Man hält die Kampfspiele für bittern Ernst und sieht nicht, daß aus Vater Marxens Theaterwunden Himbeersaft tropft. Man glaubt steif und fest an eine linke Kehrtwendung des Zentrums. Was aber wird geschehen, wenn das Zentrum sein Schulgesetz in diesem Reichstag nicht mehr durchbringt? Wer glaubt, das Zentrum würde sein klerikales Programm preisgeben, um nach den Wahlen entklerikalisiert, gut liberal in ein Kabinett der Großen Koalition zu gehen? Der gegenwärtige römische Kurs sieht nicht sehr nach Liberalismus aus, und die jähe linksradikale Meuterei des Herrn Imbusch wird die päpstliche Kurie nicht zum Verzicht bewegen. Der neue Fürstprimas von Ungarn, Kardinal Seredi, hat vor ein paar Tagen dem Häuptling der österreichischen Monarchisten, dem Obersten Wolff, seine besten Grüße übermittelt: »Möge es den österreichischen Legitimisten unter Ihrer Führung und den ungarischen unter der Führung des Grafen Apponyi bald gelingen, eine Plattform zu finden, wobei jeder Klassen- und Rassenhaß ausgeschlossen erscheint. An der unverbrüchlichen Treue zur angestammten Dynastie und in dem Festhalten an der noch zu Recht bestehenden Pragmatischen Sanktion liegt einzig und allein Österreichs Zukunft begründet.« Die Erwähnung der Pragmatischen Sanktion mag eine Verbeugung vor der besondern Geistesart dieses Ungarn sein, aber daß ein junger geschmeidiger Prälat und erlesener Favorit des Vatikans gleich bis auf Maria Theresia zurückgeht, erscheint doch ziemlich kräftig. Wahrscheinlich wird der Heilige Vater diplomatisch genug sein, dem deutschen Volke nicht gleich die Beschlüsse des Konzils von Konstanz als politisches Glaubensbekenntnis abzufordern, aber wer Ohren hat, sollte hören, woher der Wind pfeift. Die Zeit, wo katholische Parteien im Interesse der Kirche mit allerlei Jakobinergezücht zusammengehen durften, ist vorbei. Der Freiheitsbaum steht entblättert und wird bald Holz hergeben müssen für Scheiterhaufen. Auch der Weg der Großen Koalition führt durch die Pfaffengasse. Wollen die Demokraten, die Sozialisten gar, den Schwarzen Gesellschaft leisten? Wenn die Oppositionsparteien nicht den letzten Kredit verlieren wollen, müssen sie auf Klarheit dringen. Mit dem Zentrum zusammen Wahlkampf gegen Rechts und nachher wieder ihm dienend, seine Geschäfte besorgend, das geht nicht. Die Stimmung ist heute für Links. Desto ärger wird später die Enttäuschung sein.

Die Weltbühne, 31. Januar 1928


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