Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Nacht von Hankau

Von chinesischen Soldaten zerniert, die die weißen Herrn des Erdballs vor den Steinwürfen des gelben Straßenvolkes schützten, sind die englischen Freiwilligen aus dem Konzessionsgebiet von Hankau abgezogen. Vielleicht hat inzwischen Tschiang Kai Shak, der Generalissimus Süd-Chinas, dem Repräsentanten der englischen Behörden die vom Dachfirst gerissene Fahne Britanniens mit höflicher Entschuldigung wieder zurückgegeben. Aber die Autorität Englands in China hat einen tötlichen Schlag erlitten. Mag auch die Diplomatie nochmals den Gang der Ereignisse verlangsamen: das chinesische Nationalbewußtsein hat seinen großen Ansporn.

Im Foreign Office spürte man schon lange das kommende Ungewitter. Man versuchte deshalb nach allzu umständlichen Erwägungen, mit Canton, das man bisher als ein Banditennest, mindestens als eine maskierte russische Vorposten-Stellung betrachtet hatte, in Verhandlungen zu kommen. London empfand wohl die grenzenlose Ohnmacht der sogenannten Zentralregierung in Peking. Aber vielleicht hatte Wupeifu, der trotz seiner zahlreichen Unglücksfälle noch immer brauchbarste Degen, seine Subsidien noch nicht bis zum letzten Rest verzehrt; vielleicht rechnete man auch noch mit irgendeinem andern Truppenvermieter, der bereit sein würde, gegen gutes Geld seine kostbare Ware für England [zu] riskieren. Jedenfalls zeigte die englische Außenpolitik dies Mal nicht die gewohnte Initiative, jene oft mit Glück bewährte Courage, ohne viel Geräusch mit eingefressenen Traditionen zu brechen. Chamberlain behandelt den Fall China dilatorisch; nicht als kühler Cunctator, sondern hoffend, daß die erfolgreichen Streiter der neuen Unabhängigkeitsideen sich schließlich untereinander verschlingen würden. Doch als die Fortschritte der Armee Tschiang Kai Shaks nicht mehr zu ignorieren waren, da bequemte sich auch England endlich dazu, Canton als eine Macht in dem verworrenen Riesenreich anzuerkennen und versuchte, sich mit dem verschrienen Bolschewistenhort auf Vertragsbasis zu finden. Zunächst wurde Herr Lampson, ein Diplomat, als Spezialberichterstatter nach Canton geschickt. Dessen Rapporte klangen ziemlich pessimistisch, waren aber nicht geeignet, den dies Mal seltsam schweren Geist des Außenamtes zu beflügeln. Dann wurde in der Form eines Memorandums erste amtliche Fühlung mit der süd-chinesischen Republik versucht. Aber dabei widerfuhr England das Pech, von Frankreich im Stich gelassen zu werden. Der Quai d'Orsay hatte zunächst seine Zustimmung gegeben. Doch schien das pariser Kabinett in der Frage geteilt zu sein. Wenigstens zog Briand die anfängliche Zusage plötzlich mit der ironischen Begründung zurück, daß Frankreichs Position in China nichts zu wünschen übrig lasse, daß jedoch die Machtverhältnisse dort noch völlig ungeklärt seien: es empfehle sich deshalb nicht, sich schon jetzt so autoritativ auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Cochin-China, Frankreichs Besitz, liegt dem revolutionären Infektionsherd, Süd-China, benachbart. Das dämmt das Vergnügen des Quai d'Orsay an neuen weltpolitischen Feuerwerken. Auch die andern Vertragsmächte zeigen plötzlich eine ungewohnte Zurückhaltung.

England steht in China allein.
England steht allein gegen China.

 

Noch bis vor wenigen Monaten glich Chinas innrer Krieg einem unentwirrbaren Knäuel provinzialer Feindseligkeiten. Bandenchefs, von fremden Mächten gespickt, führten zur Plage des Landvolkes Truppenbewegungen aus, die durch Berichte europäisch aufgetakelter Pressequartiere von Unkundigen fälschlich für Kämpfe gehalten wurden. Ein Mal nur, als Feng, der Unterbefehlshaber Wus, mit einem verwegenen Coup den Herrn plötzlich aus der Macht jagte und die eiserne Pranke auf Peking legte, schien plötzlich eine Idee geboren zu sein. Doch Feng, nur von den Russen unterstützt, mußte dem erneuten Zusammenschluß aller reaktionären Generale weichen. Nur Einer von diesen Spekulanten des Schwertes kann sich behaupten und scheint unverwüstlich: ein böser, alter Stacheligel, der Grausamste und Listigste von Allen, Tschangtsolin, der Despot der Mandschurei, ein Mongolen-Khan aus dem Bilderbuch in die moderne Zeit gesetzt. Tschang und Wu besiegen gemeinsam Feng. Aber geeint nur im Haß, konträr in allen Interessen, nutzen sie den Erfolg nicht aus, bleiben sie vor der Hauptstadt liegen, und nur die Hinrichtung russophiler Publizisten lehrt Peking, daß vor seinen Toren wieder einmal ein paar andre Marschälle gesiegt haben. Der Bürgerkrieg scheint an seinem eignen Widersinn zu verenden und ein Land ohne Führerenergien im tiefsten Marasmus zurückzulassen. Da dröhnt tief aus dem Süden plötzlich ein Gongschlag und übertönt alle andern Militär-Potpourris. Die Armee der Kuomintang marschiert, das Volksheer von Canton. Wer nicht stumpfe Ohren hat, kennt diese Marschmusik: das ist die Reveille von Valmy, der Trommelwirbel einer aufgehenden Zeit. Canton trägt die Standarte Chinas.

In Kwantung, der Südprovinz, hat der große Sunyatsen das Arsenal der Befreiung organisiert. Als Doktor Sun im Jahre 1912 die welken Spätlinge der Mandschu-Dynastie entthronte und das asiatische Mittelreich zur Republik machte, da war er ausschließlich ein Exekutor liberal-demokratischer Ideen, die in das mittelalterlich-feudale China wie durch eine Hintertür unverhofft hereinbrachen. Doch das Fundament war zu schwach: in Peking wurde Sun bald durch den gerissnen Yüanshikai verdrängt, und die Zentralgewalt geriet nach dessen Tode in die Hände impotenter Patrizierklüngel, die nicht mehr waren als Spielbälle englischer, amerikanischer oder japanischer Diplomatie. Nach dem Süden zurückgegangen, erkannte Sun, daß alles nationale Freiheitsstreben wie Goldschaum versprüht, wenn es sich nicht auf soziale Tatsachen stützt. Um die ökonomische Diktatur durch die Fremden und ihre Grundlage: die Minderung der Souveränität durch Konzessionen und Vertragshäfen zu zerstören, dazu gehörten scharfkantigere Waffen als sie der liberale Demokratismus zu liefern vermag. Sun, der Asiat, überschaute die kapitalistische Welt und prüfte sie bis in ihre geheimsten Ängste hinein; er sah den Schatten über dem gedeckten Tisch – er sah das Proletariat. Gigantisches Unternehmen in einem Reiche, das ein Globus für sich ist und dessen Ackervolk sich noch großenteils in dem selben Zustand befindet wie vor mehr als sechshundert Jahren, als der Venezianer Marco Polo an den Hof Kublai Khans reiste, Begriffe des Sozialismus populär zu machen. In wenigen Jahren gelang es Sun, wenigstens in einigen großen Hafenstädten, wo der gelbe Mann stündlich erfährt, daß er in den Augen der Fremden nicht mehr bedeutet als ein Hund, die dumpfen Aufruhrgefühle einer mißachteten Rasse durch den Filter klassenkämpferischer Methodik in das spiegelblanke Becken moderner Massendisziplin zu leiten. Während im Norden Tschang und Wu ihre englischen oder japanischen Subsidien ziellos in die Luft schossen, kam aus den Häfen des Südens merkwürdige Kunde von Streik und Boykott, von demonstrierenden Industriearbeitern vor den Toren der Konzessionsviertel, von chinesischem Hauspersonal, das sich weigerte, für die Fremden gegen kargen Lohn und viel Fußtritte zu fronen. Aber Canton, obgleich Hongkong ungemütlich in den Nacken gesetzt, blieb doch in der Meinung der Welt das südliche Separatistennest: vielzüngige Rednerschule ohne Arm.

Der alte Doktor Sun ist tot. Die Schlachtmusik seines Canton klingt am Jangtsekiang, hallt über ganz China.

 

Es ist wie ein Salut vor dem schweren Ernst der Wahrheit, daß in der Londoner Presse dies Mal weniger als sonst von »Bolschewismus« und »russischen Quertreibereien« lautbar wird. Denn mag die Kuomintang auch mit diplomatischen und militärischen Instruktoren moskauer Färbung ausgestattet sein – England weiß, daß es kein sozialistisches Ungetüm ist, das ihn drohend anbleckt, sondern der gute, alte chinesische Drache, das königliche Tier von vierhundert Millionen, das ein paar pfiffige Commerzleute für ewige Zeiten in der Tretmühle des Börsenprofits nutzbar machen wollten. (Moskau hat nur eine Idee übermittelt, hat sich als Lokomotive vor eine altmodische Wagenkolonne gespannt. Aber das Ende wird doch sein wie der Anfang: China, China, China!) Die englische Politik ist immer geschmeidig gewesen. Sie hat es zuletzt bewiesen, als sie zu Gunsten der Dominions das Reichsgefüge lockerte. Sie wird vielleicht nicht den Fehler der Habsburger-Monarchie gegenüber Turin und Belgrad wiederholen, sich einfach hinter das Autoritätsprinzip zu verschanzen: sie wird Konzessionen machen, zurückweichen, um innerlich desto fester zu binden. Aber ist noch Zeit dazu? Die Vorfälle von Hankau können sich an jedem andern Platz wiederholen, der Fall Shanghais ist vielleicht nur noch eine Frage von Wochen, und damit wäre auch das englische Prestige im Fernen Osten dahin. Es ist wie ein Vorzeichen kommender Stürme, daß Japan, das erst in China sehr aktiv, oft aggressiv war, sich seit einiger Zeit eine außergewöhnliche Reserve auferlegt. Sogar die Beziehungen zu dem ihm ergebnen und vielfach verpflichteten Gebieter der Mandschurei werden ostentativ vernachlässigt.

Gerüchte wollen wissen, daß England, nachdem Suntschuangfang, der Militär-Gouverneur von Schantung, sich in seinem Interesse ruiniert hat, als letzte Karte den alten Tschangtsolin ausspielen wird. Dessen Ehrgeiz aber scheint nicht zu sein, Herr von All-China zu werden – Peking steht ihm seit Monaten offen, aber er zieht nicht ein –, hoffnungsvoller als ein solches Abenteuer dünkt ihn wohl, seine Mandschurei, wo die Bälle Rußlands und Japans hart karambolieren und die Tracen schicksaltragender Eisenbahnen am Pazific enden, zu einem selbständigen Staat zu machen, keinem Herrn mehr dienstbar. Erträumte Schluß-Apotheose eines alten Bravos, die jedoch den englischen Spekulationen schroff entgegensteht. Aber selbst wenn es dem Foreign Office gelingen sollte, einen neuen Preisfechter zu finden, die Entwicklung wird es nicht aufhalten können und nur neue Komplikationen schaffen. Schon heute lagern am Rand des Gelben Meeres Pulverfässer, neben deren Explosivkraft sich die in Europa selbst magazinierenden wie Christbaumschmuck ausnehmen. Es ist ein trüber Aspekt, und wenn es nicht geschmacklos wäre, Witze zu machen, könnte man fast nach dem Völkerbund rufen.

 

Während in Germanien und Mussolinien immer heißer der Platz an der Sonne begehrt wird, wackelt eine Kolonial-Feste nach der Andern. Der alte Imperialismus ist längst defensiv geworden. Der Appetit ist wohl noch da, nur haben sich die Herrschaften leider zwischen 1914 und 1918 gegenseitig die Schneidezähne eingeschlagen. Das Intermezzo von Hankau mag inzwischen durch offizielle Entschuldigungen erledigt sein, aber die Kunde von der Demütigung der englischen Macht wird geflügelt den Erdball umkreisen, und Millionen von Unterdrückten Glauben an die eigne Kraft verleihen. Als in der Nacht englische Soldaten von chinesischem Militär wie ein Haufen Landfahrer abgeschoben, zusehen mußten, wie Alt-Englands Hoheitszeichen vom Dach gerissen und besudelt wurde, da schwebte über diesem schweigenden, verbissnen Zug in den Lüften noch ein zweiter unendlich großer: die Geister Aller, die Europäerhabgier in fremden Zonen um Gold und Elfenbein, um Gummi und Zuckerrohr geschlachtet hat. Eine schreckliche Gespenster-Kavalkade: Rote vom Potomac, Schwarze vom Kongo, braune Kabylen, im Wüstensand verröchelt, Gelbe als Kanonenfutter des Kapitalismus in Gruben und Fabriken verbraucht. In dieser Nacht von Hankau hat Europa eine Schlacht verloren, nicht gegen eine andre Rasse, sondern, Gott sei Dank, gegen die Menschheit. Und mag auch solcher Nacht ein ungewisser Morgen folgen: das Herz kündet, daß Etwas doch anders geworden ist und es sich leichter atmen läßt. Eine Bastille ist weniger. Die Freiheit war wieder auf der Erde zu Gast.

Die Weltbühne, 11. Januar 1927


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